Das Fest beginnt

Andreas steht am Rand der geschmückten Halle und schaut den Menschen beim Tanzen zu. Er weiß nicht, was er von dem halten soll, was er sieht.
Da sind die Braut und der Bräutigam. Sie fliegen von einem Tanz zum anderen. Sie wollen die Umarmung nicht lösen. Fest halten sie sich umschlungen.
Die Augen können sie nicht voneinander lassen. Sie strahlen sich voller Glück an.
Da sind die unzähligen Menschen, die mit dem Paar feiern. Die wenigsten sind da, weil sie zu den beiden gehören. Auch er selber kennt gerade einmal die Namen von Braut und Bräutigam.
Die meisten sind Zaungäste wie er. Sie sind einfach nur da, um zu feiern. Das fremde Glück wollen sie teilen. Es soll ein wenig auf ihr Leben abfärben.
Da ist auch der Festmeister. Eben lief er noch aufgeregt umher. Etwas war nicht in Ordnung. Das sagten seine fahrigen Bewegungen, das zeigte seine zerfurchte Stirn.
Jetzt steht er da und schüttelt den Kopf. Ist er verärgert? Ist er erleichtert? Immer wieder riecht er an dem Weinbecher, nimmt einen kleinen Schluck und schüttelt von neuem den Kopf.
Da ist auch Jesus. Mit ihm sind sie zum Fest gekommen. Jetzt steht Jesus auf der anderen Seite. Er lehnt dort an der Wand und schaut mit leuchtenden Augen auf das Fest. Seine Schwester zieht ihn zum Tanzen. Schon dreht er sich mit ihr.
Andreas weiß nicht, was er davon halten soll. Die vielen fröhlichen Menschen. Der Wein, der warm durch den Körper strömt. Das Glück, das ins Herz steigt. Steht der Himmel offen?
Ihr werdet den Himmel offen sehen“ (Johannesevangelium 1,51). Jesus hat das zu ihnen gesagt. Erst gestern.
Nur wenige Tage zuvor sind sie ihm begegnet. Am Jordan war das. Sie sind ihm nachgelaufen, ohne weiter darüber nachzudenken. Aus Neugier. Aus Sehnsucht.
Beides hatte sie ja auch an den Jordan geführt. Etwas sollte sich ändern in ihrem Leben. Etwas musste sich ändern. Sie suchten ihr Glück. Gott nahe zu sein – davon versprachen sie sich ihr Glück.
Deshalb waren sie zu Johannes an den Jordan gekommen. Von ihm hieß es, er würde die Menschen auf den Weg zu Gott bringen. Ein Wegweiser mitten in der Wüste.
Johannes tauchte sie unter im Jordan. Das sollte der Neuanfang sein. Das Zeichen, dass Gott neu mit ihnen anfängt. Und dass sie neu mit ihrem Leben anfangen.
Das haben sie dann ja auch getan. Als sie diesem anderen Mann nachgelaufen sind, der Jesus war.
Das ist er“, hatte Johannes gesagt. „Das ist der, der nach mir kommen soll und schon lange vor mir da war. Ich habe es gesehen und kann bezeugen: Er ist der Sohn Gottes.“ (Johannesevangelium 1,30.34.)
Da sind sie ihm nachgegangen. Aus Neugier. Aus Sehnsucht. Und Jesus sah das und drehte sich um und fragte sie: „Was wollt ihr?“ Und sie antworteten, weil ihnen nichts besseres einfiel: „Wo wohnst du?“ Und er forderte sie auf: „Kommt und seht selbst!“ (Johannesevangelium 1,38f.)
Sie waren mit ihm gegangen. Diesen Tag und den nächsten und auch den übernächsten. Und sie fragten sich und sie fragten ihn: Ist das der Neuanfang in ihrem Leben, mit dem auch Gott neu mit ihnen anfängt?
Er hatte ihnen geantwortet: „Ihr werdet noch viel größere Dinge zu sehen bekommen.“ Und er hatte ihnen versprochen: „Amen, amen, das sage ich euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen!
Gestern erst war das. Heute, jetzt sind sie auf diesem Fest. Und er fragt sich: Sieht er schon den Himmel offen?
Steht der Himmel offen, wenn Wasser sich in Wein verwandelt? Sechs riesige Krüge, von denen jeder gut und gern 100 Liter fasst.
Andreas versteht es nicht, aber will es verstehen. Mit dem Kopf, mit dem Herzen. Der Kopf tut sich schwer damit. Was nicht am Wein liegt. Sondern an dem, was er gesehen hat.
Er hat gesehen, wie die Diener Eimer um Eimer Wasser in die weiten Krüge schütteten. Es war wirklich Wasser. Sie holten es vom Brunnen im Innenhof.
Und er hat gesehen, wie einer eine Kelle nahm und aus einem Krug etwas in eine Karaffe schöpfte und es dem Festmeister brachte.
Er hat gesehen, wie der Festmeister mit hochgezogenen Augenbrauen erst daran roch und dann davon kostete und überrascht schaute.
Er hat mit eigenen Ohren gehört, wie der Festmeister den Bräutigam für den hervorragenden Wein lobte und sich wunderte, warum er nicht vorher davon wusste.
Und er hat mit eigenen Augen gesehen, dass Jesus es war, der den Dienern sagte, sie sollten das Wasser in die Krüge füllen, und der ihnen dann auftrug, davon dem Festmeister zu bringen.
Aber verstehen, was da geschehen ist, kann Andreas nicht. Nicht mit dem Kopf.
Mit dem Herzen könnte er es wohl verstehen. Das merkt er. Er ist nahe dran am Verstehen. Aber mit jedem Schritt, den er auf es zumacht, weicht es einen Schritt zurück. Wie der Horizont, den er immer sieht, aber nie erreicht.
So viel versteht er: Die entscheidende Frage ist nicht: Wie konnte das geschehen? Dass jetzt Wein ist, wo eben noch Wasser war. Wie hat Jesus das gemacht?
Mit dieser Frage kommt sein Kopf nicht weiter und auch nicht das Herz.
Die entscheidende Frage ist: Wozu hat Jesus das gemacht? Was ist anders, jetzt, wo das Wasser Wein geworden ist?
Vielleicht hat es etwas mit den Krügen zu tun. Andreas kennt sie, diese Krüge, und den Zweck, für den sie eigentlich bestimmt sind. Wasser kommt in sie hinein, mit dem man sich wäscht, bevor man betet.
Wortwörtlich und im übertragenen Sinn: Du sollst sauber sein, wenn du mit Gott sprichst. Du musst den Schmutz abwaschen, der sich im Alltag auf dich legt. Auf die Hände, auf die Seele. Nur wenn du dich gewaschen hast und sauber bist, darfst du zu Gott kommen.
Aber Jesus hat die Wasserkrüge in Weinkrüge verwandelt. Was hat er sich dabei gedacht? Hat er sich dabei etwas gedacht?
Bestimmt hat es auch etwas mit den Menschen zu tun, für die Jesus es gemacht hat.
Wer weiß, was aus dem Fest ohne Wein geworden wäre. Grau wäre es geblieben, grau wie der Alltag. Ohne Freude, ohne Lachen.
Peinlich wäre es gewesen. Für das Brautpaar, für seine Familien. Für die Gäste, die früh gegangen wären, auf der Suche nach einem richtigen Fest.
Aber sie können jetzt ja bleiben. Sie können lachen und tanzen und trinken und tanzen und lachen. Sie können ihr Fest feiern.
Ein rauschendes, glückliches, ausgelassenes Fest: Was gestern war und morgen kommt, das war gestern und kommt morgen. Jetzt aber zählt der Augenblick. Bis zum Überlaufen ist er gefüllt.
Der Tanz. Das Glück. Der Rausch. Das Leben. Es erfüllt sich jetzt, in diesem Augenblick. Als stünde der Himmel offen.
Und wenn Jesus ihn geöffnet hat? Andreas greift mit seinem Herz nach der Antwort – und schon entzieht sie sich wieder. Aber da irgendwo liegt sie, bei Jesus: „Kommt und seht. Ihr werdet den Himmel offen sehen.
Aus Wasserkrügen werden Weinkrüge. Das Wasser, das rein machen soll vor Gott – es wird zu Wein, um ein Fest des Lebens zu feiern. Weil Jesus da ist und dafür sorgt.
Das Herz macht einen Sprung: Du brauchst das Wasser jetzt nicht. Jetzt ist die Zeit des Festes. Du brauchst dich nicht vorzubereiten, um Gott nahe zu kommen. Gott kommt zu dir, und wenn er da ist, kannst du, sollst du feiern.
Jetzt ist die Zeit des Festes. Der Himmel steht offen. Kommt und seht und feiert mit.
Ist es das, was Jesus ihnen zeigen will? Dem Brautpaar, dem Festmeister? Allen anderen Gästen? Ihnen und sich selber?
Sein Kopf füllt sich mit Zweifeln. Wie soll er sich sicher sein? Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden, sagt das Herz.
Statt hier am Rand zu stehen und dem Fest zuzuschauen, musst du mitten hinein gehen und mitfeiern. Dann wirst du es herausfinden, dass es stimmt.
Erst wenn du aufhörst zu überlegen und nachzudenken. Erst wenn du aufhörst dich wie auch immer vorzubereiten. Erst wenn du aufspringst und anfängst zu tanzen. Erst wenn du dich ganz von dem Augenblick überraschen lässt, in dem Gott zu dir kommt. Erst wenn du dich ganz aufgibst und dich ganz ihm überlässt.
Erst dann siehst du den Himmel offen stehen.
Andreas löst sich langsam aus seiner Starre. Er macht drei, vier Schritte in die Mitte des Raumes.
Schon greifen zwei Hände nach seinen Händen und ziehen ihn weiter zwischen die Tanzenden. Er hört die Musik. Er hört das Lachen und Jubeln und Rufen.
Er wird hierhin und dahin gezogen. Erst stolpert er. Dann findet er sich hinein in die tanzenden Schritte. Er beginnt zu fliegen von einer Seite des Raumes zur anderen.
Er vergisst den Kopf. Das Herz schlägt wummernd. Er sieht den Himmel offen. Das Fest beginnt auch für ihn.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Fortsetzung folgt

Dreifach Gott begegnen

Herr, sag uns, wie wir beten sollen