Rettung vom Ertrinken

Ein Pastor saß an seinem Schreibtisch und bereitete eine Predigt vor, als er eine Explosion zu hören meinte.
Bald sah er Menschen hin und her laufen und erfuhr, dass ein Damm gebrochen war, der Fluss Hochwasser führte und die Bevölkerung evakuiert wurde.
Der Pastor dachte bei sich: „Jetzt erhalte ich Gelegenheit zu tun, was ich predige. Ich werde nicht fliehen. Ich werde bleiben und zu Gott beten, dass er mich rettet.“ Und er betete zu Gott.
Als das Wasser bis zu seinem Fenster stand, fuhr ein Boot vorbei: „Steigen Sie ein, Herr Pastor“, sagte man ihm. „Oh, nein“, antwortete der Pastor, „ich habe zu Gott gebetet. Der wird mich retten. Ich bleibe hier.“
Das Wasser stieg und der Pastor musste in das Obergeschoss gehen. Als das Wasser auch bis dorthin stieg, kam ein weiteres Boot voller Menschen vorbei.
„Steigen Sie ein, Herr Pastor, wir haben noch Platz“, riefen sie ihm zu. „Das Wasser wird weiter steigen.“
„Das ist nett“, antwortete der Pastor. „Aber ich habe gebetet. Und ich bin mir sicher: Gott wird mich retten. Ich warte hier.“
Das Wasser stieg und der Pastor musste auf das Dach klettern. Als ihm das Wasser dort bis zu den Knien reichte, kam ein Motorboot.
„Schnell, steigen Sie ein, Herr Pastor“, hieß es wieder. „Nein, danke“, sagte der Pastor. „Ich vertraue auf Gott. Er wird mich nicht im Stich lassen. Ich warte hier auf ihn.“
Das Wasser stieg. Der Pastor ertrank.
Er kam in den Himmel und stand vor Gott. „Mein Gott“, sagte er, „ich habe zu dir gebetet und dir vertraut! Warum tatest du nichts, um mich zu retten?“
„Nun ja“, entgegnete Gott, „immerhin habe ich dir drei Boote geschickt.“

Wir erzählen die Geschichte den Konfirmandinnen und Konfirmanden, wenn es ums Beten geht. (Man kann sie auch auf einem Feuerwehrball erzählen.)
Es geht in ihr ums Vertrauen. Darum, wie Vertrauen rettet. Und wie schwer es ist, im richtigen Augenblick das richtige Vertrauen zu haben.
Davon kann auch Petrus erzählen.

Jesus drängte die Jünger, in das Boot zu steigen. Sie sollten an die andere Seite des Sees vorausfahren. Er selbst wollte inzwischen die Volksmenge verabschieden.
Das Boot war schon weit vom Land entfernt. Die Wellen machten ihm schwer zu schaffen, denn der Wind blies direkt von vorn.
Um die vierte Nachtwache kam Jesus zu den Jüngern. Er lief über den See. Als die Jünger ihn über den See laufen sahen, wurden sie von Furcht gepackt. Sie riefen: »Das ist ein Gespenst!« Vor Angst schrien sie laut auf.
Aber sofort sagte Jesus zu ihnen: »Erschreckt nicht! Ich bin es. Ihr braucht keine Angst zu haben.«
Petrus antwortete Jesus: »Herr, wenn du es bist, befiehl mir, über das Wasser zu dir zu kommen.« Jesus sagte: »Komm!«
Da stieg Petrus aus dem Boot, ging über das Wasser und kam zu Jesus. Aber auf einmal merkte er, wie stark der Wind war und bekam Angst. Er begann zu sinken und schrie: »Herr, rette mich!«
Sofort streckte Jesus ihm die Hand entgegen und hielt ihn fest. Er sagte zu Petrus: »Du hast zu wenig Vertrauen. Warum hast du gezweifelt?«
Dann stiegen sie ins Boot – und der Wind legte sich. Und die Jünger im Boot warfen sich vor Jesus nieder. Sie sagten: »Du bist wirklich der Sohn Gottes!«
(Matthäusevangelium 14,22-33 -- www.basisbibel.de.)

Petrus versinkt in den Fluten. Jesus zieht ihn heraus. Petrus versinkt, weil ihm im richtigen Augenblick das richtige Vertrauen fehlt. Jesus zieht ihn dennoch heraus. Petrus ist glückselig.
Armselig und eine Schande ist dagegen diese Zahl: 5.022. So viele Menschen starben im Jahr 2016 bei der Flucht über das Mittelmeer. Im Jahr 2015 waren es 3.771.
Diese Zahlen sind keine „alternative facts“. Sie sind belastbar und stammen vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen.
Die Organisation Ärzte ohne Grenzen hat erhoben, dass 2016 jeder 41. Mensch, der sich auf die Flucht über das Mittelmeer begab, ertrank. Im Jahr zuvor war es jeder 276.
Diese Flüchtlinge haben im falschen Augenblick den falschen Menschen vertraut. Aber was heißt vertraut?
Sie haben Menschen ihr Leben ausgeliefert, die mit ihrem Leben Geschäfte machen. An Schlepper haben sie es verloren, die ihr Leben nach schlechtestem Wissen und Gewissen aufs Spiel setzten.
Im Jahr 2015 überluden die Schlepper Holzboote mit Menschen. Die EU schrieb sich daraufhin auf ihre Fahnen, die Schlepper zu bekämpfen. Sie schickte Kriegsschiffe, um die Holzboote der Schlepper an der libyschen Küste zu zerstören, bevor sie mit ihrer menschlichen Fracht ablegen konnten.
Tote und Flucht wollte sie damit verhindern. Das Gegenteil hat sie erreicht. Die Menschen fliehen weiter. Und die Schlepper verdienen weiter.
Sie haben die Holzboote durch billige, aufblasbare Schlauchboote ersetzt. Es braucht keinen Sturm, damit sie im Mittelmeer in Seenot geraten und kentern.
Die entsetzliche Folge: immer mehr Tragödien, mehr Tote – ertrunken oder erstickt durch das Gewicht hunderter Flüchtlinge auf viel zu kleinen Booten.

Die Flüchtlinge versinken also im Meer, weil sie im falschen Augenblick den falschen Menschen vertrauen.
Petrus versinkt im Meer, weil ihm im richtigen Augenblick das richtige Vertrauen fehlt. Dennoch zieht Jesus ihn heraus. Welch ein Segen für Petrus.
Aber wer zieht die Flüchtlinge heraus? Wo bleibt der Segen für sie? Der Segen, den sie sich erhofft haben. Auf den sie vertraut haben.
Die Geschichte vom sinkenden Petrus erleidet Schiffbruch und versinkt in den Fluten des Mittelmeers. Sie geht unter mit jedem der 5.022 Flüchtlinge, die dort im vergangenen Jahr ertrunken sind.
Da liegt ein dreijähriger Junge am Strand, mit rotem T-Shirt und blauer Jeans, das Gesicht im Sand, ertrunken auf der Flucht. Ailan Kurdi heißt er. Und du sollst erzählen, dass Jesus jeden heraus zieht, der nicht mehr vertrauen kann.
Aber diesen einen da und Tausende andere hat er nicht herausgezogen. Dabei hat doch jedem von ihnen das Versprechen gegolten: Ich ziehe dich heraus.
Mit jedem Menschen, der im Mittelmeer ertrinkt – Junge oder Mädchen oder Frau oder Mann – versinkt ein Teil von dir.
Von deinem Vertrauen in das Gute im Menschen. Wie kann das sein, dass Schlepper und Politiker den Tod von Menschen in Kauf nehmen, die ohnehin schon am Leben verzweifelt sind? Haben die keine Augen und kein Herz?
Auch dein kindliches Vertrauen in Gott gerät in Seenot. Wie kann das sein, dass er trotz aller Gebete kein Rettungsboot vorbeischickt? Hat er keine Augen und kein Herz?
Dann kannst du nur noch hoffen, dass er dich wieder herauszieht. Aus dem Zweifel am Menschlichen im Menschen und an der Barmherzigkeit des Barmherzigen.
Damit du weiter vertrauen kannst. Auf die Menschen, die er doch nur wenig niedriger geschaffen hat als sich selbst. Und in ihn, der doch sagt: Ich ziehe dich heraus.

Vielleicht hilft eine Gegengeschichte.
Sie erzählt von Mussie Zerai. Er weiß, was es heißt, in einer fremden Gesellschaft anzukommen. Er ist 16 Jahre alt, als er 1992 als Flüchtling Italien erreicht.
In den ersten Jahren trägt er Zeitungen aus, verkauft Obst, übersetzt für einen britischen Priester. Später studiert er Theologie und Philosophie. Nach dem Erhalt der Priesterweihe, entsendet ihn die katholische Kirche in Rom als Seelsorger in die Schweiz.
Als ihn ein italienischer Journalist im Jahr 2003 fragt, ob er für ihn in einem libyschen Gefängnis dolmetschen könne, kommt Zerai erstmals mit eritreischen Flüchtlingen in Kontakt, die auf dem Weg nach Europa unterwegs sind.
Die Geschichten seiner Landsleute lassen ihn fortan nicht mehr los, und er sieht sich in der Pflicht, zu helfen.
Schon bald nach seinem Besuch im Gefängnis erhält er Anrufe von den Menschen, die er dort kennengelernt hat, und wenig später auch von Flüchtlingen in Seenot.
Jemand hatte Mussie Zerais Telefonnummer in die Wand des Gefängnisses geritzt mit dem Hinweis: »Bei Notfällen diese Nummer anrufen!« So ist seine Telefonnummer seit 2004 für viele Bootsflüchtlinge die letzte Hoffnung.
Und vielfach auch die Rettung. »Lieber Baba, hilf uns schnell. Wir haben kein Essen, kein Wasser, und der Handyakku ist fast leer«, so oder ähnlich lauten die bislang tausendfachen Hilferufe von Bootsflüchtlingen, die Mussie Zerai in über zehn Jahren erreicht haben.
Wenn ihn Anrufe aus Seenot erreichen, setzt sich Zerai sofort mit der italienischen Küstenwache in Verbindung. Schnell hat er gelernt, worauf es ankommt, wenn ein Rettungsversuch erfolgreich verlaufen soll.
Die italienische Küstenwache schätzt, dass Mussie Zerai inzwischen bereits mehreren Tausend Menschen das Leben gerettet hat.
Sie strecken ihm ihre Hand entgegen. Und er greift nach ihr, um sie herauszuziehen.

Die Hoffnung stirbt zuletzt, heißt es. Und wenn du denkst: Jetzt ertrinkt sie – dann greift der Eine nach ihr und zieht sie heraus aus den Fluten.
Und die Hoffnung prustet und hustet und atmet durch. Sie ist mit dem Leben davon gekommen.

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