Das Ende der Sackgasse

I

Wir stehen am Ende des Weges. Vor uns richtet sich das Kreuz auf – das tödliche Ende einer Sackgasse. Von hier aus geht es nicht mehr weiter.
Es ist der Weg Jesu, der hier und heute endet. Wir sehen auf sein grausames Ende. Wir sehen auf den Schmerzensmann – die Figur, die im Fuß des Altaraufsatzes sitzt.
Sie zeigt Jesus, wie er nie zu sehen war und wir uns ihn doch vorstellen und anschauen sollen. Ganz ruhig und aufrecht sitzt er da. Die Augen sind geschlossen. Die Hände hat er flach auf die Knie gelegt.
Dabei müsste er doch schreien. In der Brust klafft die Wunde die ihm die Soldaten mit der Lanze stechen. Hände und Füße sind von den Nagelmalen gezeichnet. Die Dornenkrone windet sich um den Kopf.
Er müsste doch schreien. Die Wunden schneiden doch ins Fleisch. Das Gefühl, verlassen und verraten zu sein, schneidet doch ins Herz.
Aber er sitzt dort ruhig und aufrecht. Vielleicht damit der, der ihn anschaut, statt seiner anfängt den Schmerz zu fühlen und aufzuschreien.
Das ist doch zum Schreien: So viele Geschichten erzählen davon, wie Jesus Menschen auf neue Wege half. Manchen öffnete er die Augen, andere stellte er auf eigene Beine. Wieder anderen wies er ganz neue Wege. Und alle fanden sie zum Leben.
Aber Jesus selber kann sich nicht helfen und will sich nicht helfen lassen. Er geht den Weg, der ihn ins Verderben führt.
Der Schmerzensmann zeigt noch nicht einmal ein Spur von Zögern oder Angst. Ruhig geht er, bis sich das Kreuz vor ihm aufrichtet – das tödliche Ende einer Sackgasse.

II

Wir stehen am Ende dieses Weges. Es ist auch das Ende des Weges, den Gott mit den Menschen geht.
Jesus stellte die letzte Hoffnung Gottes für seine Menschen dar. Er versuchte, den Menschen das Leben und die Liebe zu zeigen, die in Gottes Geboten steckten. Die Menschen, so scheint es, hatten das ganz vergessen.
Die Gebote, das waren für sie kalte Vorschriften. Manchmal bogen sie die so hin, dass sie von Liebe völlig entleert waren. Und dann wieder machten sie die so starr, dass sie alles Leben erstickten.
Jesus aber wollte zum Leben befreien. Dadurch, dass er den Menschen klar machte: Euer Leben kommt aus Gott. Baut euer Leben auf Gott.
Jesus wollte zur Liebe befreien. Dadurch, dass er den Menschen zeigte: Leben könnt ihr nur mit anderen Menschen gemeinsam. Schaut auf die Menschen an eurer Seite.
Aber Jesus scheitert. Mit ihm scheitert auch Gott. Die Liebe und das Leben, die er für die Menschen will – Menschen sprechen das Todesurteil über sie und nageln sie ans Kreuz.
Damit stirbt auch die letzte Hoffnung der Menschen. Nun sitzen die Menschen fest. Sie sind Gefangene des Todes. Wer auf sein Leben schaut, muss unweigerlich auf seinen Tod schauen.
Der sagt: „Dein Leben ist nichts, ich aber, dein Tod, ich bin alles.“ Der Tod macht Angst. Und Angst macht Wut. Und Wut macht Gewalt.
So sind die Menschen auch Gefangene der Gewalt. Sie wehren sich mit aller Gewalt gegen ihren Tod. Aber gerade damit gehen sie ihm in die Falle.
Sie schwingen sich auf zum Herrn über Leben und Tod. Sie tun anderen Gewalt an, um selber keine zu erleiden. Sie bringen anderen Tod, um dem eigenen Tod zu entfliehen.
Welch ein Irrsinn. Sie schaffen das, wovor sie doch am meisten Angst haben. Gewalt und Tod fallen auf sie zurück. Und am Ende stehen auch sie am Ende der Sackgasse.

III

Es ist also das Ende des Weges, an dem wir angelangt sind. Aber vielleicht tut sich doch noch eine kleine Öffnung auf, ein kleiner Durchschlupf am Ende der Sackgasse.
Was, wenn dieser Tod am Kreuz nicht das Ende, sondern der Anfang ist? Was, wenn der Tod an sich nicht das Ende, sondern ein Beginn ist?

So sagt es der Hebräerbrief:
Christus ist der Vermittler eines neuen Bundes. Der Eintritt seines Todes bedeutet für uns die Erlösung von den Übertretungen aus der Zeit des ersten Bundes. Dadurch können alle, die berufen sind, das versprochene ewige Erbe erhalten.
(Hebräerbrief 9,15)

Jesus stirbt am Ende seines Weges. Es sieht aus, als würden Tod und Gewalt siegen, als hätte Jesus, als hätte Gott ihnen nichts entgegen zu setzen.
Aber dieser Tod am Kreuz ist keiner, der sich spurlos im Nichts verliert. Jesu Tod hinterlässt Spuren in dieser Welt. Er hinterlässt Spuren bei den Menschen und bei Gott. Er knüpft ein neues Band zwischen Gott und den Menschen.
Dort, am Ende der Sackgasse, am Kreuz, kommt Gott dem Menschen so nah wie noch nie zuvor. Gott kommt dem Menschen so nah, dass wir den Schmerz in seinen Augen sehen können.
Wir sehen den Schmerzensmann an und seine Wunden – und sehen die Wunden, die Menschen einander schlagen. Wir sehen, wie Gott an dem leidet, was Menschen einander antun.
Wir sehen, wie Gott mit geschlossenen Augen aushält, wie blindwütig Menschen das Leben vernichten. Gott, so wirkt es, tut nichts. Gar nichts. Der Schmerzensmann sitzt ruhig da, die Hände im Schoß.
Jesus steigt nicht vom Kreuz herunter. Er schlägt nicht mit seiner Allmacht zu. Er überlässt Tod und Gewalt das Feld. Als wäre er ohnmächtig.
Aber gerade darin verbindet sich Gott wieder und neu mit den Menschen: Gott trägt das Leiden. Er erträgt das Leid. Gott erduldet die Gottesferne. Gott duldet den Tod.
Dort, wo wir Gott nicht mehr sehen, wo wir fragen: „Wo ist Gott?“ – genau dort ist jetzt auch Gott. Weil er sich Tod und Gewalt aussetzt, sich ihnen unterwirft, in sie hineingeht.
Menschen wollen dem Tod entfliehen – und bringen einander den Tod. Gott geht in den Tod und hält ihm stand – und bringt Leben.

IV

Wir stehen also am Ende des Weges – und sehen, wie sich ein neuer Weg auftut. Am Kreuz gibt es nichts mehr, was Gott und Menschen trennt.
Tod und Gewalt können die Menschen nicht mehr von Gott trennen – weil Gott selber sie erduldet und erleidet und erträgt. Gott ist dir selbst in der größten Gottesferne noch nah.

Damit wendet sich die Zeit. So sagt es der Hebräerbrief:
Jetzt, am Ende der Zeiten, ist Christus ein einziges Mal erschienen. Und durch sein Opfer hat er die Sünde aufgehoben. Wenn er das zweite Mal erscheint, geschieht das nicht wegen der Sünde. Sondern es geschieht, um alle zu retten, die auf ihn warten.
(Hebräerbrief 9,26b-28)

Die Zeit wendet sich – und hinter dem Kreuz tut sich ein Weg auf. Am Ende der Sackgasse geht es doch weiter.
Dort am Kreuz hebt Gott die Gottesferne auf. Wo ich auch stehe im Leben – es gibt keinen Ort mehr, an dem ich Gott fern bin.
Wo du auch stehst im Leben – an jedem Ort kommt Gott dir nah. Und deshalb ist neues Leben möglich. Und deshalb kann die Angst vor dem Tod schwinden.
Natürlich: Der Tod ist weiter in der Welt und setzt dem Leben seine Grenzen. Die Gewalt zieht weiter ihre Schneisen durch die Welt und schlägt jedem einzelnen Leben Wunden.
Tod und Gewalt haben sich nicht verändert. Aber mein Blick auf sie kann sich verändern.
Ich kann die Grenze annehmen, die der Tod meinem Leben zieht. Weil Christus ihn für jede und jeden von uns getragen hat. Keiner stirbt sich mehr allein. Gott ist auch im Tod bei dir.
Ich kann die Augen öffnen für die Gewalt um mich herum. Weil Christus sie für jede und jeden von uns erlitten hat. Die Gewalt ist weniger zwangsläufig geworden, weil wir ihr nicht mehr wehrlos ausgesetzt sind.
Der wehrlose Christus am Kreuz gibt Kraft, die erhobene Hand zu senken und die andere Wange hinzuhalten.

V

Am Ende des Weges beginnt die Hoffnung. Ich will hoffen, dass – wo und wann Gott will – gar kein Tod und gar keine Gewalt mehr in Menschenleben und in der Welt sind.
Der Tag wird kommen, an dem für Tod und Gewalt kein Platz mehr auf der Welt ist, weil Leben und Liebe alles ausfüllen.
Der Tag wird kommen, an dem alle Wege in die Liebe und zum Leben führen.
Das macht das Kreuz zu einem Hoffnungszeichen. Am Ende der Sackgasse wartet das Leben. Gottes Weg geht weiter.

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