Neue Anfänge mit der Schuld


„Wir danken Gott für den Führer, den er uns geschickt hat.“ So steht es in mehreren Predigten meines Großvaters. 1934, 1935 wurde er Pastor, 10 Jahre später ist er gestorben.
So konnte, so brauchte ich ihn nicht mehr zu fragen. Nach dem, was er damals für wahr hielt und glaubte. Und danach, was er jetzt darüber dachte.
Meine Großmutter konnte ich noch fragen. Vor zwanzig Jahren, als ich in den Predigten ihres Mannes las. Aber sie erschrak selber: Das hatte er gesagt und gepredigt?
Sie hatte es vergessen und sich ein Bild von ihrem Mann bewahrt, in dem seine Begeisterung für den Führer nicht vorkam.
Nun zwangen die Predigten sie dazu, ihr Bild zu ändern. Nicht grundlegend. Aber ein paar mehr Farben, andere Pinselstriche kamen hinzu.
Meine Großmutter ließ sich darauf ein. Das habe ich nicht gesehen, hat sie gesagt. Jetzt sehe ich es.

Wie ist das, wenn sich das Bild verändert? Wenn zu bunten Farben auch graue dazukommen?
Wie ist das, wenn der alte Pastor, der mich konfirmiert hat, nicht nur der Menschenfreund war, als den ich ihn kennengelernt habe?
Sondern auch einer, der begeistert war vom Nationalsozialismus? Der kirchenpolitisch Verantwortung trug in der NS-Zeit und mit den Mächtigen der NSDAP freiwillig zusammenarbeitete?
Der vom erwachenden Deutschen Reich predigte und von der Treue zu Volk und Vaterland, die Gott fordert?
Vor der Frage standen wir gestern Abend. Da ging es hier in der Kirche um Fritz Gottfriedsen. Von 1946 bis 1962 war er an St. Johannis Pastor.
Einer, zu dem man gern in den Kindergottesdienst ging. Vor dem man als Konfirmand keine Angst hatte, dem man Vertrauen entgegenbrachte.
Dem man gut und gern zuhören konnte, wenn er predigte oder auf Feiern Reden hielt. Der in den ersten Jahren nach dem Krieg half, die Armut zu lindern, vor allem bei den Flüchtlingen in der Gemeinde.
Der aber von 1933 bis 1945 eben auch Propst war, in Südtondern und dann auch für Nordschleswig. Der kirchenpolitisch und ideologisch die Sache des NS-Staates vertrat.
Wie bringt man das zusammen? Hier der gute Seelsorger, dort der bekennende Nationalsozialist? Ist es vielleicht so, dass das eine nur die politische Einstellung ist, das andere aber das, was worauf es wirklich ankommt?

Die Frage stellt sich auch für die Zeit nach 1945.
Nun soll in unseren Kirchen ein neuer Anfang gemacht werden, heißt es in der Stuttgarter Schulderklärung. Gegründet auf die Heilige Schrift, mit ganzem Ernst ausgerichtet auf den alleinigen Herrn der Kirche, gehen die Kirchen daran, sich von glaubensfremden Einflüssen zu reinigen und sich selber zu ordnen.
Und dann erfährt man in der Ausstellung "Neue Anfäng?", dass die Kirche sich vielleicht von den Einflüssen trennt, nicht aber von den Personen.
Ein Bischof steht zu seinem Pressechef, von dem er weiß, dass er Kriegsverbrecher ist. Der nächste Pressechef kann mit den Geheimdienstmethoden arbeiten, die er als SS-Offizier und SD-Mann gelernt hat.
Derselbe Bischof, der Aushängeschild der Bekennenden Kirche war, vergisst seine judenfeindliche Schrift. Und vergisst erst recht, diese Schrift zu widerrufen.
Und ist doch derselbe Bischof, der die Landeskirche nach 1945 wieder aufgebaut hat und sich dabei um ihre Neuanfänge verdient gemacht hat.
Wie hält man diesen Widerspruch aus? Wirft man beides in die Waagschale? Hier die Verdienste, dort das Versagen. Und hofft dann, dass die Seite mit den Verdiensten schwerer wiegt?

Die Stuttgarter Schulderklärung wählt diesen Weg. Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.
Aber, so steht es zwischen den Zeilen: Wir haben doch bekannt und gebetet und geglaubt und geliebt. Da ist vieles, was wir in die Waagschale der eigenen Gerechtigkeit werfen können.
Und auch schwarz auf weiß steht es da: Wir haben lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat.
Wir standen auf der richtigen Seite, wir standen gegen diese Diktatur und gegen diese Ideologie. Was wir uns vorwerfen müssen, ist nur, dass wir nicht stark genug waren.
Damals, vor 70 Jahre, sorgte diese Schulderklärung für einen Aufschrei. Wie konnte man seine Schuld eingestehen?
Heute, so heißt es in der Ausstellung, heute liest sich die Erklärung wie eine „eigenartige Mischung aus Selbstmitleid und Selbstmystifizierung“. Als hätte die Kirche aus lauter Bonhoeffers bestanden, was aber leider nicht reichte.

Bonhoeffer entscheidet sich schon 1943 einen anderen Weg: Sind wir noch brauchbar?, fragt er. Hat uns das Leben in diesem NS-Staat nicht völlig verbogen? Zu Menschen gemacht, die wohl um das wissen, was menschlich ist, aber es schon lange nicht mehr leben können?
Denen jetzt auch die Kraft fehlt, sich gegen die eigene Unmenschlichkeit, die eigene Schuld zu stemmen? Die es nur noch achselzuckend hinnehmen, weil man sich an die Umstände gewöhnt hat?
Wird unsere innere Widerstandskraft gegen das uns Aufgezwungene stark genug und unsere Aufrichtigkeit gegen uns selbst schonungslos genug geblieben sein, dass wir den Weg zur Schlichtheit und Geradheit wiederfinden?
So fragt Bonhoeffer, bevor sich neue Anfänge auftun. Voller Zweifel, ob diese neuen Anfänge gelingen können. Weil das Leben in der Diktatur den Menschen so verbogen hat, dass er nicht mehr aufrecht gehen kann.
Weil man sich an die täglichen kleinen Lügen und Selbsttäuschungen so gewöhnt hat, dass man blind wird für die eigenen Verstrickungen und die eigene Schuld.
Weil man sich selber gar nicht mehr in die Augen schauen könnte, wenn man die eigene Schuld klar sehen würde.
Man könnte gar nicht aufstehen und zu den neuen Anfängen aufbrechen, wenn sie kommen – weil man gelähmt wäre von der Schuld, der fremden wie der eigenen.
Man müsste sitzen bleiben. Es sei denn, es käme einer, der einem aufhilft.

Was ist denn einfacher?, fragt Jesus. Zu sagen: ›Deine Schuld ist dir vergeben!‹, oder zu sagen: ›Steh auf und geh umher!‹? (Matthäus 9,5.)
Eine merkwürdige Frage. Und eine erhellende Frage. Weil sich eine weitere Frage anschließt: Macht es einen Unterschied? Ob einer sagt: Steh auf und geh umher. Oder ob er sagt: Deine Schuld ist dir vergeben!
Für die, die zusehen, macht es vielleicht keinen Unterschied. Der, der eben noch gelähmt war, geht umher. Er steht auf und kann wieder laufen.
Aber für den, der eben noch gelähmt war, macht es einen Unterschied.
"Steh auf und geh umher!" Und ich stehe auf und gehe umher. Ich mache einen Schritt, ich mache zwei Schritte. Erst unsicher, dann immer sicherer.
Und dann laufe ich. So schnell ich kann, so weit es geht. Weg von dem Ort, an dem ich eben noch gesessen habe. Bloß weg von meiner Lähmung. Hinaus ins Leben.
"Deine Schuld ist dir vergeben!" Und ich richte mich auf. Langsam, Stück für Stück. Ich brauche einen, der mir aufhilft, der mich stützt.
Dann stehe ich und spüre meine Beine und spüre noch die Lähmung, die sie weich gemacht hat und steif zugleich. Ich muss das wieder lernen, das Laufen. Die Beweglichkeit muss in die Gelenke und die Kraft in die Muskeln zurückkehren.
Schritt für Schritt lerne ich das Laufen wieder. Und ich werde mich immer wieder erinnern, wie das war. Als ich gelähmt war. Und ich das Laufen wieder neu lernte. Ein neuer Anfang.

Neue Anfänge – das ist mehr, als aufzustehen und umherzugehen. Das ist etwas anderes, als die Vergangenheit wie eine Lähmung abzuschütteln und schnellen Schrittes in die Zukunft davonzulaufen.
Und doch ist man manchmal versucht, es genau so zu tun: Kein Blick mehr zurück auf das, was falsch war und unrecht. Den Blick nur nach vorne in die Wirtschaftswunderzeit, die wartet.
Und wenn die Vergangenheit mich einzuholen droht, muss ich eben ein wenig schneller laufen. Und ich renne und renne und renne – und stürze über die Vergangenheit, die mich überholt hat, ohne mich einzuholen.
Neue Anfänge – das geht nur mit der Vergangenheit. Wer aus ihr aufbrechen will, der braucht den Blick auf das, was falsch war an ihr. Durch die Schuld eines anderen. Durch die eigene Schuld.
Und wer aufbrechen will, der braucht einen, der einem dabei hilft, die Vergangenheit anzuschauen. Die Schuld der anderen und die eigene.
Der die Schuld aufhebt. Also: Sie aus dem Weg räumt, damit ich nicht mehr über sie stolpere. Aber auch: Sie bewahrt, damit ich sie nicht vergesse und nicht wiederhole.
Die Kirchenmänner damals kannten ihn gut, den, der die Schuld vergibt. Aber sie haben ihre eigene Schuld nicht ernst genommen. Und also auch nicht ihn, der sie vergeben wollte.

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