Segensleicht tanzen

Einmal kam ein Mann zu Jesus, der an Aussatz erkrankt war. Er fiel vor ihm auf die Knie und flehte ihn an: »Wenn du willst, kannst du mich rein machen.«
Jesus hatte Mitleid mit ihm. Er streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: »Ich will! Sei rein!«
Im selben Augenblick verschwand der Aussatz und der Mann wurde rein.
(Markus 1,40-42 -- www.basisbibel.de)

So einfach ist es und so wunderbar, das Leben zu finden. Es braucht nur einen, der dich berührt, und es wird ganz und heil.
Am Ende jedenfalls. Vorher ist alles in Verzweiflung getaucht: Aussatz, das ist ein Todesurteil. Wer an Aussatz erkrankt, stirbt den sozialen Tod.
Er wird ausgesetzt aus seinem Leben. Aus seinem Haus muss er ausziehen und außerhalb des Dorfes leben. Von seiner Familie wird er getrennt und in ein Lager mit anderen Aussätzigen gesteckt.
Medizinisch ist das klug. Aussatz ist ansteckend. Aber es fühlt sich alles andere als klug an.
Du siehst wie deine Haut sich verändert, so dass du dich selber nicht mehr erkennst. Du siehst es im Spiegel. Du siehst es im Gesicht derer, die dich anschauen: Mitleidiges Entsetzen und hasserfüllter Ekel schauen dich an.
Du gehörst nicht mehr dazu. Du wirst nie mehr dazugehören. Nicht zu den anderen. Nicht in dein Leben. Eine Sackgasse.

Aussatz als Krankheit gibt es heute noch. In Brasilien, in Afrika, in Indien. Aussatz als Lebensgefühl gibt es an vielen Orten.

Achmad und Damir, die beiden syrischen Flüchtlinge, kennen die Krankheit. Getrennt sind sie von den Menschen, die sie lieben. Die Heimat, die sie barg, haben sie verloren.
Jetzt gehen sie hier einkaufen. Sie spüren das Misstrauen: Die werden bestimmt etwas klauen. Sie hören das Tuscheln und Zischeln. Und so viel deutsch können sie schon, dass sie wissen, was das heißt: Ausländer raus.

Sabine, die Trauer trägt, kennt das: Der Vertraute, mit dem sie eben noch das Leben teilte, ist nicht mehr da. Zuhause herrscht schweigende Leere.
Auf dem Weg zum Bäcker sieht sie, wie die Nachbarin schnell die Straßenseite wechselt. Die Klingel an der Ladentür bimmelt, die Gespräche verstummen, alle schauen sie an.
Sie spürt den Kloß und schluckt. Bloß nicht weinen. Dann laufen die Tränen doch und sie lässt sie laufen und laufen. Die alte Verkäuferin kommt hinter ihrem Ladentisch hervor und nimmt sie in den Arm.
Auf dem Heimweg klingelt sie bei der Nachbarin und lädt sie zu einer Tasse Kaffee ein. Die schaut sie verwundert an und sie sagt ihr: „Ich lebe noch. Mit mir kann man sprechen.“

Achmad und Damir stehen im Supermarkt unschlüssig vor dem Regal. Da kommt einer vorbei, der nicht gleich den Blick abwendet. „Sorry, chicken?“, fragen sie.
Er hilft ihnen das Hühnchen zu finden und die Brühe. Er geht mit in ihre stickige Wohnung und trinkt starken, süßen Tee mit ihnen, bis das Hühnchen gar gekocht ist.

Das Leben wird ganz und heil, ein wenig jedenfalls. Auch für den Aussätzigen, der sich Jesus vor die Füße schmeißt.
Er verbirgt sein Gesicht in seinem Gewand, damit Jesus es nicht sehen muss. Er spricht seine Worte in den Staub: „Wenn du willst, kannst du mich rein machen.“
Jesus will. Er spricht ihn an und berührt ihn und da ist er rein. Er sieht es an seinen Fingern, die er strecken und bewegen kann. Er spürt es mit seinen Händen, mit denen er über sein Gesicht fährt: glatte, warme Haut.
Er erkennt es an dem Blick, mit dem Jesus ihn anschaut. Ruhig liegt er auf ihm und warm und freundlich. Ein Blick, der die Dämonen vertreibt.
Die Dämonen, die ihn besitzen und besetzen. Die anderen, die Gesunden haben ihm das gesagt: Seine Krankheit, das sind die Dämonen. Fremde Mächte, die ihn krank machen.
Jetzt spürt er den Blick, der auf ihm ruht. Und er merkt, wie die Dämonen ihn verlassen. Die Dämonen der Krankheit.
Gut möglich, dass sie seine Haut zerfressen haben. Vor allem aber haben sie seine Seele zersetzt. Tag für Tag haben sie ihr Gift in sie geträufelt.
„Du bist selber schuld. Du wirst hier nie wieder herauskommen. Du hast kein Leben mehr vor dir. Du bist es nicht wert.“ So haben sie geflüstert. Und er hat auf sie gehört. Sie waren die einzigen, die zu ihm sprachen.
Jetzt sind sie mit einem Mal verstummt. Ein leiser Blick hat ihnen die Sprache verschlagen. „Ich will“, sagt der Blick. „Ich will, dass du lebst. Ich halte zu dir. Ich sehe dein Herz an. Ich sehe dich. Ich berühre dich. Ich will dich, Mensch.“
Rein fühlt er sich. Und frei. Wie in dem Augenblick, in dem die pochenden Schmerzen weg sind und du die Welt um dich wieder klar wahrnimmst und tanzen willst.

Sofort schickte Jesus ihn weg. Er schärfte ihm ein: »Pass auf, dass du niemandem irgendetwas davon erzählst. Geh, zeige dich dem Priester und bring die Opfer, die Mose vorgeschrieben hat, um deine Reinheit wiederherzustellen. Das soll ihnen als Beweis dienen, dass ich das Gesetz achte.«
Aber der Mann ging weg und verkündete überall, was Jesus getan hatte. Bald konnte Jesus nicht mehr unerkannt in eine Stadt kommen. Deshalb blieb er an abgelegenen Orten. Trotzdem kamen die Leute von überall zu ihm.
(Markus 1,43-45 -- www.basisbibel.de)

Da will er also tanzen und das Leben feiern. Weil die Dämonen ihn losgelassen haben und er sich rein fühlt und frei. Aber Jesus schickt ihn weg.
Als wäre nichts gewesen, soll er zurückkehren. Zurück an den Platz, an dem er vor seiner Krankheit war. Ein trockenes „Da bin ich wieder“ vielleicht noch. Und dann geht es weiter im Tagesgeschäft.
Aber es ist etwas gewesen. Er war krank. Und er ist wieder gesund geworden. Er kann nicht nahtlos dort weitermachen, wo er von der Krankheit aus dem Alltag gerissen wurde.
Er kommt als ein anderer zurück. Als einer, der das Leben feiern muss und den, der es ihm neu gebracht hat.
Jeder Schritt, den er geht, muss davon künden, dass ihn das Leben gefunden hat. Er muss durch seinen Alltag tanzen.
Der Priester ist der erste, der seine Begeisterung zu spüren bekommt.Gern stellt er die ordnungsgemäße Bescheinigung aus, dass er wieder rein und ein vollgültiges Mitglied der Gesellschaft ist. Aber dass er mit ihm einen Freudentanz aufführen will, findet er doch übertrieben.

Sabine tanzt auch. Sie tanzt mit Heiner. Sie kennen sich schon lange. Die Paare waren befreundet, als sie noch Paare waren. Heiner ist schon länger allein, sie ist es jetzt auch.
Und ist es doch nicht. Sie tanzt ja mit Heiner. Irgendwann stand er vor der Tür. Mit einem Foto aus den Tagen, als sie noch zu viert waren.
Lange saßen sie über dem Bild und haben erzählt und gelacht und geweint. Am Ende waren sie ganz still und hielten sich im Arm. Wärme stieg auf.
Nur die Nachbarin wechselt wieder die Straßenseite, wenn sie jetzt Sabine und Heiner sieht, und schüttelt laut den Kopf: Wie man so kurz nach dem Tod schon wieder...
Aber Sabine hat inzwischen gelernt, ebenfalls wegzuschauen.

Ahmad und Damir wollen auch tanzen. Sie haben Wochenende und frei.
Damir macht inzwischen eine Ausbildung zum Tischler. Der Meister suchte dringend jemanden. Schnell hat er die Wörter gelernt. Hobel und Nagel, Säge und Gärung.
Ahmad arbeitet im Supermarkt. Er füllt die Regale und trägt Einkaufstaschen zu den Autos. Wenn ihn jemand fragt, weiß er, wo das Hühnchen und die Brühe zu finden sind.
Aber tanzen, nein, tanzen dürfen sie heute erst einmal nicht. „Ihr kommt hier nicht rein“, sagt der Türsteher. „Warum?“, fragt Ahmad. „Weil ich es sage“, sagt Türsteher.
Später tanzen sie dann doch. Auf der Wiese hinter dem Haus, in dem sie wohnen. Mit ein paar Jugendlichen, die dort feiern. Mit ihnen feiern sie das Leben.

Das Leben feiern. Das wollen sie alle, denen der Mann erzählt. Von seinem Aussatz und seinem Weg zurück ins Leben. Von dem, der ihn auf den Weg gebracht hat.
Also suchen sie nach Jesus. Sie suchen nach dem, der ihnen Leben verheißt. Auch wenn er sich zurückzieht und verbirgt.
Die Sehnsucht ist groß. Angesteckt von der Lebensfreude des Mannes, der ihn schon gefunden hat. So segensleicht tanzt er jetzt durch sein Leben.
Er lacht, wenn einer ihm sagt: „Du bist doch nichts wert.“ Er weiß es besser: Der, der das Leben verheißt, hat ihn freundlich angeschaut.
Er schüttelt den Kopf, wenn einer vom Tod und vom Ende spricht. Der Tod ist schwach, sagt er, das Leben ist stärker. Er ist schon einmal gestorben und neu ins Leben geboren.
Er geht einfach weiter, wenn einer ihm sagt: Dort ist eine Sackgasse. „Ich kenne ein Schlupfloch“, sagt er: „Hoffnung!“
Er wirkt, als könnten die Dämonen ihm nichts anhaben, die ihnen das Leben schwer machen. „Die flüstern auch mir ihre Worte ins Ohr“, sagt er. „Aber die gehen gleich wieder zum anderen Ohr hinaus.“
Als wäre in ihm kein Platz für lebensfeindliche Worte. Die Melodie in ihm klingt zu laut, die vom Leben singt und von dem, der es verheißt und schenkt.
Nach dieser Melodie tanzt er segensleicht durch sein neu geschenktes Leben.
Und sie, sie suchen den, der es ihm geschenkt hat und es auch ihnen verheißt.

Die gute Nachricht: Sie werden ihn finden. Er lässt sich finden.  

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