Brot verwandelt sich in Rosen

Vielleicht war es an einem Erntedankfest. Vielleicht geschah es auch an einem anderen Tag vor achthundert Jahren.
Die junge Elisabeth von Thüringen packt sich warm duftendes Brot in ihren Korb und deckt es mit einem Leinentuch zu.
Heimlich schleicht sie sich aus der Burg. Es gibt schon genug Gerede am Hof in Eisenach. Ständig geht die Frau des Landesherrn in die Stadt hinab zu den Armen. Was sucht sie dort?
Es steht der gnädigen Frau nicht an, in den Armenhäusern ein- und auszugehen. Erst recht, wenn sie dabei die Vorratskammern des Schlosses lehrt.
Elisabeth also verlässt mit dem Korb am Arm die Burg durch einen Seiteneingang und steigt hinab. Kurz bevor sie die ersten Häuser erreicht, stellt sich ihr die Schwiegermutter in den Weg.
„Was trägst du da in die Stadt?“, fragt die und zeigt auf den Korb. Elisabeth schaut auf das Tuch und zögert. Sie sieht die Schwiegermutter an und antwortet: „Rosen!“
Sie macht einen Schritt, um an der Schwiegermutter vorbei zu gehen. Aber die hält sie am Arm fest. „Das glaube ich dir nicht!“
Sie zieht das Leinentuch vom Korb. Er ist voller Rosen.

Brot verwandelt sich in Rosen. Aus dem, was einer alltäglich braucht zum Leben, wird etwas Schönes, Wunderbares.
Das ist, wie eine Kirche zu Erntedank zu schmücken. Im Kirchturm zum Beispiel liegen Getreidegarben durcheinander. Hafer und Weizen und Gerste und Roggen, irgendwann im August auf den Föhrer Feldern geschnitten.
In den Tagen vor Erntedank kommt dann eine und ordnet die Garben. Bündel für Bündel nimmt sie und schneidet eines nach dem anderen zurecht.
Sie fügt sie zusammen, bindet sie aneinander. Stunde um Stunde entsteht unter ihren Händen, was vor ihrem inneren Auge fertig ist: Eine Krone, an der jede Ähre ihren Platz hat.
Am Tag vor Erntedank kommen andere und bringen von dem, was der Garten so hergibt. Äpfel und Kartoffeln und Kürbisse. Ein ganzer Reichtum und doch nur ein Teil davon.
Zwei, drei, vier Menschen nehmen das alles in die Hand und schauen es an und fügen es zusammen zu einem duftenden und leuchtenden Stilleben.
Erntedank: Stroh verwandelt sich zu einer Krone. Mohrrüben und Kartoffeln und Zwiebeln werden zu Gaben. Und der Bäcker legt das Brot auf den Altar.

Brot verwandelt sich in Rosen. Aus dem, was einer hat zum Leben, wird etwas Schönes, Wunderbares.
Du kannst auch dein Leben zu Erntedank schmücken. Mit all dem, was du den Sommer über fast nebenbei gesammelt und geerntet hast.
Du breitest vor dir aus, was dein Leben reich macht und deinen Alltag bunt.
Das Lächeln, das dir deine Tochter schenkt, zum Beispiel. Oder die Stunde, die du nur für dich durch die nebelfeuchte Marsch läufst.
Das Sofa auch, auf dem du den Feierabend und ein Glas Wein genießt. Oder der Haken, den du hinter eine Aufgabe machst, die du erledigt hast.
Der Ort schließlich, an dem deine Seele fröhlich baumelt, es kann Föhr sein. Oder dein Lieblingsmensch, mit dem du immer noch mehr Zeit verbringen willst.
All das und noch viel mehr schaust du dir an. Und du ordnest es und bringst es zusammen. Und es wird eine Krone daraus. Oder du nimmst es und legst es auf den Altar und es wird eine Gabe daraus.
Dank verwandelt Brot in Rosen. Du sagst „Danke!“ – und aus dem, was eben noch alltäglich war, wird etwas Wunderbares. Und dann?

Dann sagt Gott:
Ist nicht das ein [Danken], an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg!
Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!
Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen.
Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.
Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag.
Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.
(Jesaja 58,6-11.)
So richtet Jesaja Gottes Worte aus.

Brot verwandelt sich in Rosen. Dürre verwandelt sich in einen bewässerten Garten.
Danken geht in zwei Richtungen. Die eine führt zum Altar hin. Ich sammle das Alltägliche und das Wunderbare in meinem Leben zusammen und bringe es zum Altar.
Ich danke Gott für das, was ich sonst im grauen Alltag übersehe. Und ich danke ihm für das, was mein Leben in Sonnenlicht taucht.
Aus dem, was ich habe, wird eine Gabe, die Gott mir gibt. Das, was mir begegnet, wird zu einem Geschenk Gottes. Wenn ich ihm danke.
Aber zu danken geht in zwei Richtungen. Die andere führt zu einem Menschen hin. Zum Nächsten, heißt es auf kirchendeutsch.
Doch der Nächste ist mir immer mal wieder der Fernste. Weil er mich ekelt, wie er da in seinem Schlafsack vor der dunklen Ladentür in der Fußgängerzone liegt. Oder er mir Angst macht, weil er anders spricht und lebt und glaubt und betet als ich.
Der Weg zu ihm, dem Elenden und Fremden ist weit. Weiter als der zum Altar. Aber es liegt Segen auf ihm. Und dann ist der Weg auf einmal ganz kurz.
Nur ein Schritt trennt mich von ihm, dem fremden Nächsten. Wenn ich ihn nur mache. Warum eigentlich nicht? Ganz leicht fällt er mir. Und Gott sagt: „Siehe, hier bin ich.“

Brot verwandelt sich in Rosen. Und Türen öffnen sich.
An deiner Tür klingelt es. Du gehst hin und machst sie auf. Vor dir steht einer in dreckigen Jeans und verwaschenem Pullover. Wilder Bart, fettiges Haar.
„Entschuldigung“, sagt der Mann. Er sei auf der Durchreise. Nur leider gerade knapp bei Kasse. Er brauche Geld für den Bus.
Geld willst du ihm nicht geben. Aber auch nicht einfach die Tür schließen. Eine Scheibe Brot kannst du ihm anbieten. Und eine Dusche, wenn er mag.
Der Fremde kommt herein. Du bringst ihn ins Gästebad. Er duscht. Du setzt Kaffee auf und stellst Brot und Butter und Käse und Wurst auf den Tisch.
Ein wenig später sitzt ihr einander gegenüber. Er ist, du trinkst einen Kaffee. Er erzählt dir seine Geschichte. Von der Arbeit, die er hatte. Der Krankheit, die kam. Du willst ihm die Geschichte mal so abnehmen.
„Das tat gut“, sagt er zum Abschied. Du bringst ihn zur Tür und überlegst, ob du ihm vielleicht doch ein wenig Geld mitgibst.
„Sie sind ein lieber Mensch“, sagt er zu dir. Er gibt dir die Hand und geht. Du siehst ihm einen Augenblick nach.

Du schließt die Tür und gehst zurück in die Küche. Du fängst an aufzuräumen. Dein Blick fällt auf den Tisch und die Vase, die dort steht. Am Morgen hattest du eine Rose aus dem Garten hereingeholt. Jetzt ist sie aufgeblüht.

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