Angst weicht Segen

Jetzt ist die Zeit der Gnade. Stumm steht der Mann in der Menge. Mittendrin und doch nicht so recht dabei. So ist es jedes Mal. Er ist immer dabei. Aber er gehört nicht dazu. Er ist da und ist es doch auch nicht.
Er war nicht immer so. Früher gehörte er dazu. Als Kind spielte er mit den Kindern auf der Straße. Er warf mit Kieseln auf Spatzen. Er hütete die Ziegen im Dorf.
Er wurde groß, wie die anderen. Das Dorf wurde ihm zu klein. Er packte seine Sachen und zog los. Er wollte etwas sehen, die Stadt, die Welt.
Nach drei Jahren war er wieder da. Eines Tages stand er auf der Dorfstraße. Und schwieg.
Spricht ihn jetzt einer an, sieht er ihn mit großen Augen an. Und schweigt. Wenn er etwas braucht, zeigt er mit der Hand darauf. Und schweigt.
Seine Nachbarn sagen über ihn: Er ist besessen. Ein böser Geist lähmt ihm die Zunge. Ein Dämon hat ihm die Sprache genommen.

Aber hier ist der Tag des Heils. Jesus steht vor dem Stummen. Sie schauen sich an. Der Stumme und der Prediger. Der Heiler und der Besessene. Lange schauen sie sich an.
Jesus sieht dem Mann in die Seele. Er sieht das Dunkel dort, den Schmerz. All die Erlebnisse, die dort eingeschlossen sind, weil für sie die Worte fehlen.
Der Mann sieht das Angesicht, das ihn freundlich anschaut. Es leuchtet. Es bringt Licht in sein Dunkel. Etwas löst sich in ihm.
Jesus hebt die Hand an seine eigenen Lippen. Er streckt den Arm aus und berührt mit einem Finger die Lippen des anderen.
Der Mann öffnet den Mund. Er atmet ein. Er atmet aus. Und sagt zwei Worte: „Ich lebe!“

Jetzt ist die Zeit der Gnade, hier ist der Tag des Heils. Vielleicht hat sich es so ereignet, als der Stumme und Jesus sich begegneten. Das Lukasevangelium erzählt davon, kurz und bündig:

Jesus trieb einen Dämon aus, der stumm war. Dann, als der Dämon ihn freigab, konnte der Mann sprechen. Die Volksmenge staunte.
(Lukasevangelium 11,14 -- www.basisibibel.de)

Was mag der Mann noch gesagt haben, außer „Ich lebe“? Welche Worte und Geschichten brachen aus ihm hervor, nachdem sie so lang in ihm eingeschlossen waren?
Lukas erzählt davon nichts. Der Mann verschwindet ohne weitere Worte in der Menge. Gern würde ich sehen, wie Jesus ihm nachgeht, um all das zu hören, was der Mann zu erzählen hat von dem, was ihn stumm machte.
Aber Jesus bleibt in der Menge stehen. Sie hält ihn zurück. Lukas erzählt:

Einige der Leute sagten: »Beelzebul, der höchste der Dämonen, hilft ihm, andere Dämonen auszutreiben.« Andere wollten ihn auf die Probe stellen. Sie verlangten von ihm ein Zeichen vom Himmel.
(Lukasevangelium 11,15-16 -- www.basisibibel.de)

Jetzt ist die Zeit der Gnade? Es sieht vielleicht so aus. Aber wer kann sich da sicher sein? Das Heil, hier?
Sie sind zwar mittendrin, aber doch nicht so recht dabei. Sie sehen, wie es geschieht. Doch was geschieht, das sehen sie nicht. Die weiten Augen geschlossen.
Das macht die einen misstrauisch und lässt die anderen zweifeln. Ein Verdacht, der aufsteigt und sich hartnäckig einnistet. Fragen, die sie leise und laut stellen.

Woher hast du deine Macht?, fragen die einen Jesus. Sie rechnen damit, dass einer Macht haben kann, wie Jesus sie hat. Aber sie trauen der Macht nicht.
Zu mächtig ist sie ihnen. Was, wenn sie in ihren Bann geraten? Was, wenn sie sich nicht wehren können? Gegen das, was mit ihnen geschieht? Was einer mit ihnen anstellt?
Wer sagt ihnen, dass die Macht, der sie sich ausliefern, gut ist? Ein Segen? Angst baut sich vor dem Vertrauen auf.

Hast du überhaupt die Macht, fragen die anderen Jesus. Kann das nicht alles nur Zufall sein. Ein glückliches Zusammentreffen noch glücklicherer Umstände?
Vielleicht kann man das ja auch alles erklären. Vielleicht hat das, was wunderbar erscheint, seine nachvollziehbaren Ursachen und Wirkungen.
Wer sagt denn, dass es das tatsächlich gibt: eine Macht, die ganz machen kann. Einen Segen? Zweifel entziehen dem Vertrauen den Boden.

Manchmal halten Angst und Zweifel einen davon ab, sich in das Vertrauen zu werfen. Dann hat Glaube es schwer.
Dabei haben sie doch alles vor Augen, nur sehen sie es nicht.

Aber Jesus wusste, was sie dachten, und sagte zu ihnen: »Jeder Staat geht unter, wenn seine Machthaber im Streit liegen, und ein Haus stürzt über dem anderen ein. Wenn nun der Satan mit sich im Streit liegt: Wie soll dann sein Reich bestehen?
Ihr behauptet ja, Beelzebul hilft mir, die Dämonen auszutreiben. Aber wenn Beelzebul mir hilft, die Dämonen auszutreiben: Wer hilft dann eigentlich euren Anhängern, sie auszutreiben? Deshalb werden eure eigenen Leute eure Richter sein.
(Lukasevangelium 11,17-19 -- www.basisibibel.de)

So erzählt Lukas weiter. Davon, wie Jesus um Vertrauen wirbt. Gegen die Angst und gegen die Zweifel.
Dämonen sind das, was einen gefangen nimmt. Was einen immer fester umklammert, bis die Luft zum Atmen knapp wird.
Aber das, was einen gefangen nimmt, hat keine eigene Kraft. Dämonen sind Schmarotzer. Sie saugen ihre Kraft aus denen, die sie mit ihrem Griff einschnüren.
Sie zehren von der Angst, die sie in Kopf und Herz säen. Dort geht die Saat auf und wuchert und wuchert, bis sie alles Leben unter sich erstickt. Wer soll sich daraus dann noch selber befreien, gelähmt und verstummt vor Angst?
Jesus ist das Gegenteil eines Dämons. Er lebt nicht von der Kraft anderer. Er verschenkt die Kraft, die in ihm fließt. Das Leben, das in ihm stark ist, springt über.
Ein Finger nur, mit dem er über die Lippen fährt. Ein Blick nur, mit dem er in die Seele schaut. Und der Dämon zieht sich zurück, fährt aus, gibt frei. Die Angst weicht dem Segen.

Eine Sehnsucht, die sie teilen: Diejenigen, die der Dämon gepackt hat. Und diejenigen, die daneben stehen und hilflos zusehen.
Eine Sehnsucht, die sich erfüllt: Das Leben atmen wie die kühle Luft an einem klaren Herbstmorgen.

Auch das sagt Jesus noch: Wenn mir aber der Finger Gottes hilft, Dämonen auszutreiben: Dann ist das Reich Gottes doch schon zu euch gekommen!
(Lukasevangelium 11,20 -- www.basisibibel.de)

Eine Sehnsucht, die sich erfüllt. Nicht irgendwann, wenn am Ende alles gut wird. Nicht irgendwo, wo sich jenseits des Horizontes alles zum Guten wendet.
Nein. Jetzt ist die Zeit der Gnade, hier ist der Tag des Heils. Mittendrin im Leben.
Das Reich Gottes: Nicht von dieser Welt, aber mitten in ihr. Es schlägt sein Zelt auf und birgt den Menschen. Dann, wenn es gebraucht wird. Dort, wo es nötig ist.

Die Frau hat sich auf ihr Bett gelegt. Die Jacke hat sie noch ausgezogen, die Schuhe hat sie angelassen. Die Decke zieht sie bis übers Kinn.
Sie weint. Sie kann nur noch weinen. Und schlafen. Erschöpft ist sie, grenzenlos erschöpft.
Der Koffer liegt offen und unausgepackt im Flur. In der Küche stehen überall dreckige Tassen.
Es klopft an der Tür. Sie antwortet nicht. Ein Freund tritt ein, sucht sie, setzt sich zu ihr ans Bett. Sie hält die Augen geschlossen. Ihre Hand sucht seine Hand.
Hilf mir“, sagt sie. „Lass mich nicht allein. Hilf mir.“ – „Ich bin da“, sagt er, „ich helfe dir.“
Sie hält seine Hand. Sie weint. Er spürt ihren Griff. Fest und unruhig erst. Dann, nach einer langen Weile, wird er weicher. Wie bei einem Kind, das endlich in den Schlaf findet.
Behutsam steht er auf und geht in die Küche. Er räumt auf, er wäscht ab. Immer wieder schaut er nach ihr. Sie schläft.
Er setzt sich wieder zu ihr, nimmt sich ein Buch, schaut ihr beim Schlafen zu. Sie wacht auf, als es draußen dämmert.
Ein müdes Lächeln, als sie ihn sieht. „Du bist noch da.“ – „Ja, ich bin noch da.“ – „Warum bist du eigentlich gekommen?“ – „Ich wollte dich zu einem Spaziergang abholen.“
Sie schließt die Augen und schweigt. Dann schlägt sie die Bettdecke zurück und richtet sich langsam auf. „Dann lass uns gehen.“


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