Streit! für den Frieden

Mit dem Streiten ist das so eine Sache.
Auf der einen Seite gibt es die, die jedem Streit aus dem Weg gehen. Sobald man anfangen will, mit ihnen zu streiten, suchen sie das Weite. Sie haben etwas Dringendes zu tun oder gehen einfach nur ins Bett.
Auf der anderen Seite gibt es die, die den Streit suchen. Sobald man anfängt zu streiten, brausen sie auf. Bestenfalls fahren sie einem über den Mund, schlimmstenfalls hauen sie einem auf die Nase.
So richtig streiten können weder die einen noch die anderen.
Die einen schrecken vor dem Streit zurück. Aus Angst, dass sie verlieren könnten. Nicht den Streit, sondern den Menschen, mit dem sie sich streiten müssten. Was, wenn sie am Ende des Streits einander nicht mehr in die Augen schauen können?
Die anderen brauchen den Streit. Nicht, weil ihnen die Sache wichtig wäre, um die sie sich streiten. Ihnen geht es beim Streiten um die Macht. Die hat, wer sich durchsetzt und den Streit gewinnt. Also wollen sie streiten, bis sie die Gewinner sind. Und das ohne Rücksicht auf Verluste.

Mit dem Streiten ist das so eine Sache.
Jesus sagt: „Schlägt dich einer auf die Backe, halte ihm auch die andere Backe hin.“ (Lukasevangelium 6,29 -- www.basisbibel.de.)

Zumindest für die, die den Streit suchen, klingt das nach einem aberwitzigen Ratschlag: Wie soll ich einen Streit gewinnen, wenn ich klein beigebe? Die andere Backe hinzuhalten, das heißt doch: klein beigeben.
Aber auch für die, die einen Streit kaum ertragen können, ist die Vorstellung erst recht unerträglich. Nur die andere Backe hinhalten und dem anderen einfach das Feld überlassen? Der wird sich doch in die Faust lachen, bevor er mit ihr zuschlägt.

Auch wenn also jeder diesen Jesusratschlag kennt und ihn immer mal wieder gern zitiert – kaum einer folgt ihm tatsächlich.
Das hat womöglich etwas damit zu tun, dass streiten einen gefangen nimmt. Wenn ich erst einmal damit anfange, komme ich nur schwer wieder heraus.
Aus dem Ärger über eine geöffnete Zahnpastatube werden kleinere Diskussionen über Ordnung und Sauberkeit werden Vorwürfe der Schlampigkeit und Spießigkeit werden Lästereien gegenüber den Freunden werden Auszugsdrohungen werden getrennte Wege werden übles Nachtreten.
Was im Kleinen geht, läuft auch im Großen: Aus dem Ärger über einen Raketentest wird Drohung von angemessenen Antworten wird Verlegung von Kriegsschiffen und Mobilmachung wird der Druck auf den roten Knopf.
Wer hineingerät in die Spirale, kommt nur schwer wieder hinaus. Immer schneller dreht sie sich, bis alles zu spät ist. Es sei denn, jemand hält sie rechtzeitig an, irgendwie.

"Schlägt dich einer auf die Backe, halte ihm auch die andere Backe hin."

Das kann das Irgendwie sein, mit dem sich die Spirale anhalten lässt, bevor sie ins Drehen kommt.
Wenn ich es in der Hitze des Streites nicht vergesse und mich daran halten kann, dann bin ich schon einmal ausgestiegen aus der Spirale.
Ich verzichte darauf, ein böses Wort mit einem bösen Wort zu erwidern und wandle es stattdessen in ein ehrliches Kompliment um.
Und plötzlich dreht sich die Spirale ein klein wenig langsamer und auch der andere kann aus ihr aussteigen. Wenn er es denn will.
Dass er es tut, habe ich nicht in der Hand. Aber ich kann ihm wenigstens die andere Backe hinhalten und meine Hand reichen. Und wenn ich es das zweite und das dritte Mal tue, steigt er womöglich auch aus.

Oder bleibt darauf zu setzen weltfremd und gutgläubig?
Wenn das so ist, ist es auch der andere Jesussatz, der gern zitiert wird.
Jesus sagt: „Liebt eure Feinde.“ (Lukasevangelium 6,27 -- www.basisbibel.de.)

Liebe macht blind, heißt es. Kann sein, dass das auch für die Feindesliebe gilt. Vielleicht ähnelt sie einem Paar Scheuklappen.
Ich setze sie auf, um nicht sehen zu müssen, was der Feind anrichtet. In der Annahme, dass ich, wenn ich es nicht sehe, auch nicht mit ihm streiten muss.
Dann wäre Feindesliebe nichts anderes als eine Ausrede für meine eigene Feigheit. Ich bin zu feige, zu streiten, wo ich streiten müsste.

Aber Liebe macht nicht blind, Feindesliebe auch nicht. Was blind macht, ist der Hass.
Wer hasst, sieht – wenn er noch etwas sieht – nur noch Zerrbilder. Er sieht in seiner verdrehten Welt allein das, was er sehen will. Und er macht sich sein Zerrbild vom anderen.
Das gelingt besonders gut dort, wo ich den anderen nicht von Angesicht zu Angesicht, sondern nur virtuell sehe.
Da liest einer in irgendeiner Facebook-Gruppe nur einen halben Satz eines anderen, den er nicht einmal kennt, und schon reißt ihn der Hass hin.
Der Kommentar ist schnell geschrieben, vollgepackt mit Vorurteilen, Unterstellungen und Beschimpfungen. Dann wird das Ganze noch eifrig geteilt und schon ist eine Lawine aus Hass losgetreten.

Hass macht blindwütig. Liebe dagegen öffnet beide Augen. Das eine Auge sieht den anderen Menschen. Das andere Auge sieht seine Meinungen.
Und beide Augen zusammen können das auseinander halten: Den anderen Menschen und die Meinung, die er vertritt. Die Worte, die er sagt, und der Mensch, der er ist.
Dann kann das gelingen: Mit dem anderen in der Sache zu streiten, ohne ihn persönlich zu verletzen. Den anderen zu schätzen und zugleich seinen Aussagen mit Argumenten zu widersprechen.

Darum muss man streiten, in den Internetforen wie im wirklichen Leben: Dass Vorurteile durch belastbare Fakten ersetzt werden.
Ein Sozialwissenschaftliches Institut hat beispielsweise in europäischen Ländern und in den USA gefragt, wie hoch denn der Anteil der Muslime im jeweils eigenen Land liege.
Die in Deutschland Befragten meinten, jeder Fünfte hier sei Muslim. Statistisch nachweisbar ist es nur jeder Zwanzigste.
Auch in allen übrigen Ländern lag der gefühlte Wert der Umfrage zufolge deutlich über dem tatsächlichen Wert.
Übrigens: Der tatsächliche Anteil der deutschen Juden lag 1933 bei unter einem Prozent der Bevölkerung. Aber diese Zahl konnte dem Hass, der wütete, den Boden nicht entziehen.

Auch darum muss man streiten: Um dem Hass entgegen zu treten, wo er einem begegnet. Eine Beleidigung auch eine Beleidigung zu nennen, wenn es eine ist – ohne dabei selber zu beleidigen.
Laut und deutlich zu sagen und zu schreiben: Beschimpfungen und Verleumdungen sind kein Umgang, persönliche Angriffe sind weder unter noch über der Gürtellinie zulässig.
Auch und gerade dann, wenn die Angriffe nicht dir gelten, sondern anderen. Ein Feuerwehrkamerad rückt ja auch bei jedem Feuer aus – und nicht nur dann, wenn das eigene Haus brennt.

Jesus sagt: "Schlägt dich einer auf die Backe, halte ihm auch die andere Backe hin." Und er sagt: "Liebt eure Feinde".

Das kann gelingen, wenn du es für andere tust. Weißt du, wofür und für wen du streitest, wirst du das Streiten lernen.
Und es lohnt sich, zu streiten. Ohne Streit gibt es keinen Frieden.

Das ist so im großen Zusammenleben von Menschen, in der Demokratie. Sie lebt vom Streit. Um Windkrafträder und Hotels. Um offene Grenzen und Obergrenzen. Um Werte und Zukunft.
Der Streit ist dazu da, Positionen zu klären und Argumente zu schärfen und Entscheidungen vorzubereiten.
Am Ende führt der Streit in den Frieden: eine Entscheidung, die von allen angenommen wird.

Das ist auch so im kleinen Zusammenleben von Menschen, in Paaren, in Familien. Auch das lebt vom Streit. Um Urlaubsziele und Zahnpastatuben. Um Mittagessen und Erziehung. Um Hobbies und Zeit.
Der Streit ist dazu da, Freiräume zu klären und Vorstellungen auszutauschen und gemeinsame Wege zu finden.
Und am Ende führt der Streit in den Frieden: eine Zukunft, die alle miteinander teilen wollen.

Aber mit dem Streiten ist das eben so eine Sache: Die miteinander streiten, müssen den Frieden wollen.

Aber wenn sie ihn wollen, werden sie ihn auch schließen.

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