Mein Gebet

Er steht an seinem Pult und streckt sich. Es dauert, bis sich die Verspannungen der Nacht gelöst haben.
Er ist ein alter Mann. Mitte Fünfzig. Das Fleisch wird schwach. Aber der Geist ist wach. So wach wie vor dreißig Jahren. Da traf er Paulus das erste Mal in der Synagoge. Solange er sich daran erinnert, ist er jung.
So jung wie er damals war. Er lebte in Ephesus zu der Zeit, in der großen und umtriebigen Hafenstadt. Er fühlte sich wohl dort, in dem bunten Durcheinander der Menschen.
Er konnte ganze Tage auf den Plätzen der Stadt oder am Hafen verbringen. Das Leben sog er in sich auf wie die Gerüche, die durch die Straßen zogen.
Manchmal versetzte ihn die Stadt in einen Glücksrausch. Dann wieder schmeckte alles vermeintliche Glück nur noch schal. Er stieß sich an den Ellenbogen, die andere ausfuhren, wenn es darum ging, vorwärts zu kommen.
Er schüttelte den Kopf darüber, wie sie alle zusammen von einem Tempel zum anderen rannten. Immer hatten sie kleine oder große Opfergaben im Gepäck, um ihr Glück zu kaufen. Aber nie machte es sie satt. Er ging regelmäßig in die Synagoge. Er hielt sich an den Glauben an den einen Gott seines Vaters, des Gottes Abrahams und Isaaks und Jakobs.
Er versuchte nach den Regeln seines Glaubens und seines Gottes zu leben. Er versuchte, Gott zu lieben. Und er versuchte allen Menschen liebevoll zu begegnen.
Oft genug erwischte er sich dabei, dass er das Gegenteil tat. Das Gute, das er wollte, das tat er nicht. Aber das Böse, das er nicht wollte, das tat er.  

Es war ein großes Staunen, das ihn damals ausfüllte, als er Paulus begegnete, dort, in der Synagoge von Ephesus. Was Paulus zu sagen hatte, das war so aufregend und so umstürzend, dass er nächtelang nicht ruhig schlafen konnte.
Paulus sagte, was er die ganze Zeit gefühlt hatte: Es war sinnlos, den eigenen Begierden nachzurennen. Es war zwecklos, von einem Tempel zum anderen zu rennen. So würde sich das Glück nicht erzwingen lassen.
Es war ohne Aussicht auf Erfolg, gegen das Böse in sich selbst anzukämpfen. Es war lächerlich, eine Strichliste über die eigenen guten Taten zu führen. So würde sich das Gefühl von Gottes Nähe nicht erzwingen lassen.
Es war alles sinnlos – und so viel einfacher. Paulus sagte, was er sich nie zu träumen gewagt hätte: Jeder Mensch kann Gottes Nähe finden. Gott schenkt sie ihm. Und jeder Mensch kann sein Glück finden. Gott schenkt es ihm. Wenn er, der Mensch, es sich schenken lässt, das eine wie das andere.
Es war ein Wunder für ihn, Paulus so zu hören. Ein Wunder, das nachwirkt, bis heute. Es hält ihn jung. Er kann von ihm nicht schweigen. Er muss von ihm erzählen. Und es anderen Menschen ans Herz legen. Besser noch: Ins Herz schreiben.

Also steht er an seinem Pult und reibt sich über die Verspannungen der Nacht und schreibt. Er schreibt, um Paulus Gedanken zu bewahren und sie weiterzugeben.
Er sieht die Menschen, an die er schreibt, vor sich. Er sieht wie sie zusammenkommen, in ihren Gemeinden, in Ephesus, an anderen Orten ein oder zwei Tagesreisen weiter.
Er sieht sie vor sich wie sie gemeinsam Gottesdienst feiern und den Brief laut lesen, den er ihnen schreibt.
Er staunt: Dass so etwas möglich ist, dass Gott das schenkt. Und so schreibt er:

Noch einmal: Wenn ich mir das alles vor Augen halte, kann ich nicht anders, als anbetend vor dem Vater niederzuknien. Er, dem jede Familie im Himmel und auf der Erde ihr Dasein verdankt und der unerschöpflich reich ist an Macht und Herrlichkeit, gebe euch durch seinen Geist innere Kraft und Stärke.
Es ist mein Gebet, dass Christus aufgrund des Glaubens in euren Herzen wohnt und dass euer Leben in der Liebe verwurzelt und auf das Fundament der Liebe gegründet ist. Das wird euch dazu befähigen, zusammen mit allen anderen, die zu Gottes heiligem Volk gehören, die Liebe Christi in allen ihren Dimensionen zu erfassen – in ihrer Breite, in ihrer Länge, in ihrer Höhe und in ihrer Tiefe.
Ja, ich bete darum, dass ihr seine Liebe versteht, die doch weit über alles Verstehen hinausreicht, und dass ihr auf diese Weise mehr und mehr mit der ganzen Fülle des Lebens erfüllt werdet, das bei Gott zu finden ist.
Ihm, der mit seiner unerschöpflichen Kraft in uns am Werk ist und unendlich viel mehr zu tun vermag, als wir erbitten oder begreifen können, ihm gebührt durch Jesus Christus die Ehre in der Gemeinde von Generation zu Generation und für immer und ewig. Amen.

(Brief an die Gemeinde in Ephesus 3,14-21 – Neue Genfer Übersetzung)

So schreibt er an die Menschen, die er vor sich sieht – und wer weiß – vielleicht sah er auch uns vor seinem inneren Auge. Sie und euch und mich, die wir jetzt hier feiern.
Ich finde es jedenfalls einen schönen Gedanken, dass sein Gebet auch uns gilt. Dass da einer über Zeiten und Raum hinweg auch für uns betet.
Dass einer für uns – für jeden einzeln und für uns als Gemeinschaft – dass einer für uns vor Gott auf die Knie geht, als Zeichen dafür, wie sehr er bewegt ist, wie sehr es ihm wichtig ist. Dass einer sich für uns an Gott wendet und ihn voller Vertrauen Vater nennt, damit er auch unser Vater sei.
Und das Gebet berührt mich. Gern möchte ich mich ihm öffnen – und dem, worum es für uns, für jeden einzelnen und für uns als Gemeinde, betet.

Da ist die eine Bitte: „Es ist mein Gebet, dass Christus aufgrund des Glaubens in euren Herzen wohnt.
Ja, das möchte ich gern: Dass Christus in meinem Herzen wohnt. Das möchte ich gern, damit ich nicht woanders nach meinem Glück suchen muss. Denn ich trage alle Erfüllung schon in mir.
Wenn Christus in meinem Herzen wohnt, dann brauche ich mich nicht nach etwas anderem zu sehnen. Dann habe ich schon alles, was ich zum Leben brauche.
Dann bin ich nicht unruhig, aus Angst irgendetwas zu verpassen. Dann ist mein Herz ruhig und gelassen, denn was sollte ich verpassen, wenn Gott bei mir ist?
Dann hadere ich nicht mit dem was war oder ist oder sein wird. Dann bin ich zufrieden, mit dem, was ich habe – denn Gott schenkt mir seine Nähe.
Ja, das möchte ich gern – und es ist gut, dass darum einer für mich betet, denn manchmal fühlt sich das Herz leer und gottfern an.

Die nächste Bitte: „Es ist auch mein Gebet, dass euer Leben in der Liebe verwurzelt und auf das Fundament der Liebe gegründet ist.“  
Auch das möchte ich gern, dass mein Leben in der Liebe verwurzelt ist. Denn dann spüre ich, wie die Liebe durch meine Adern strömt, durch mein Wollen und mein Tun. Und dann tue ich, was gut ist.
Dann tue ich, was gut ist für mich. Ich gehe sorgsam und aufmerksam mit mir um, schaue auf meine Kräfte, nutze meine Gaben, achte meine Schwächen, freue mich an mir selber.
Und dann tue ich, was gut ist für andere. Ich gehe sorgsam und aufmerksam mit ihnen um. Ich schaue auf das, was ihnen fehlt und ich ihnen geben kann.
Ich halte aus, was sie mir antun. Und ich suche nach gemeinsamen Wegen um all die Steine herum, die zwischen uns liegen.
Wenn mein Leben in der Liebe wurzelt, trägt es liebevolle Früchte. Und es ist gut, dass darum einer für mich betet. Denn oft genug reichen die Wurzeln nicht tief in den Boden.

Auch so betet der Beter für uns alle und für jeden einzeln: „Ich bete darum, dass ihr die Liebe Christi versteht, die doch weit über alles Verstehen hinausreicht.
Auch das möchte ich gern, damit ich es erhoffe und erahne und – mehr noch – im innersten Inneren und mit allem Denken und Fühlen verstehe: Wie leer und gottfern sich mein Herz auch manchmal anfühlt – Gott schenkt mir seine Nähe.
Ich muss nicht nach ihm suchen, ich muss nicht mein Glück überall und nirgendwo suchen. Wo ich auch hinkomme, wohin ich mich auch wende, er ist längst schon da. Was mich auch bewegt, was mich auch umtreibt, schon längst umfängt und birgt er mich.
Und auch das möchte ich in meinem innersten Inneren und mit allem Denken und Fühlen verstehen: Wie lieblos mir mein Tun und Lassen auch manchmal erscheint und wie vergeblich alle Versuche, es zu ändern: Ich kann es, weil ich es nicht muss, sondern Gottes Liebe mir die Kraft schenkt.
Wenn ich mich auf seine Liebe besinne, dann kann es mir gelingen, dann wird es mir geschenkt, etwas von seiner Liebe in meinen Umgang mit mir selber, mit anderen Menschen zu legen.
Das möchte ich gern im innersten Inneren verstehen – und es ist gut, dass darum einer für mich betet, übersteigt es doch alles Verstehen: Dass kein Ort ohne Gottes Liebe ist und seine Liebe alles ausfüllt.  
 
Und schließlich betet der Beter: „Ich bete, dass ihr mehr und mehr mit der ganzen Fülle des Lebens erfüllt werdet, das bei Gott zu finden ist.
Auch das möchte ich gern spüren und glauben, fühlen und hoffen: Dass in mir das Vertrauen grenzenlos wird. Das Vertrauen, dass nichts mich trennen kann von der Liebe Gottes.
Weder die Hochzeiten meines Lebens, in denen ich mit Jubel angefüllt bin und vor Zuversicht überschäume. Noch die Tiefpunkt meines Lebens, in denen ich am Boden zerstört bin und mir und dem Leben nichts mehr zutraue.
Und auch der Tod kann mich nicht von der Fülle des Lebens trennen, das bei Gott ist und mich ausfüllt. Denn der Tod ist wohl das Ende – aber für mich der Beginn des Lebens.
Und es ist gut, dass jemand darum für mich betet – denn immer wieder nagt der Zweifel am Vertrauen.

So betet der Beter, für uns alle und für jeden einzeln. Und sein Gebet berührt mich – und ich stimme in sein überschwängliches Lob ein:
Gott, der mit seiner unerschöpflichen Kraft in uns am Werk ist und unendlich viel mehr zu tun vermag, als wir erbitten oder begreifen können, ihm gebührt durch Jesus Christus die Ehre in der Gemeinde von Generation zu Generation und für immer und ewig. Amen.

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