Herr, sag uns, wie wir beten sollen
Ich war Konfirmand, da nahm ich an einer christlichen Skifreizeit teil. Vormittags gab es erst eine Bibelarbeit, dann fuhren wir Ski, abends warteten Spiel und Spaß. Zum Tagesabschluss feierten wir eine kleine Andacht.
Und danach konnten wir, wenn wir wollten, allein mit
einem der Mitarbeiter einen Nachtspaziergang machen. Der Schnee knirschte unter
den Füßen, die Sterne funkelten, das Dachsteinmassiv leuchtete unwirklich weiß.
Plötzlich breitete sich auf den Schneefeldern das Leben
aus und die Seele öffnete sich und Gott, der war wirklich und wahrhaftig und
ganz nah.
„Dem kannst du dein Leben anvertrauen“, sagte Christian,
der Mitarbeiter, mit dem ich unterwegs war. „Nicht nur jetzt, sondern immer. Zu
dem kannst du beten.“
Gesagt, getan. Als ich nach dem Spaziergang im Bett lag,
murmelte ich möglichst leise mein Gebet. Kai und Matthias, Freunde seit
Grundschulzeiten, die mit mir das Zimmer teilten, sollten es nicht hören.
Aber womöglich hörten sie mich doch. So wie ich sie
hörte. Am nächsten Abend Kai, am übernächsten Abend Matthias. Da hatten sie
einen Nachtspaziergang mit einem Mitarbeiter gemacht und flüsterten vorm
Einschlafen ihre Gebete.
Das ist fast vierzig Jahre her. Die Verbindungen zu Kai
und Matthias und Christian haben sich längst verlaufen. Das Beten ist
geblieben.
Beten hatten sie bestimmt schon lange gelernt, als die
Frauen und Männer Jesus trafen. Und doch wollten sie es noch einmal lernen, neu
lernen.
Sie bekamen ja mit, wie Jesus sich immer wieder zurückzog,
um zu beten. Sie sahen, wie er sich ins Gebet zurückzog, allein mit sich und
Gott.
Dort, im Gebet, geschah etwas mit ihm. Das merkten sie.
Sie wussten nicht, was es war. Aber es verwandelte Jesus jedes Mal. Als wäre er
nach dem Beten ein anderer als vor dem Beten.
So zu beten, das wollten sie lernen. Das wollten sie von Jesus lernen. Er war ihr Rabbi, ihr Lehrer. Von Johannes wussten sie, dass der den Menschen um ihn herum auch beibrachte, wie sie beten konnten. Also konnte das auch Jesus.
„Herr, sag uns, wie wir beten sollen!“
Eigentlich ist Beten ja ganz einfach. Ich muss nur
anfangen. Nach einem Nachtspaziergang im Bett. Oder in einer Kirche, die ich
zufällig betrete und die mich mit ihrer Stille umfängt.
Aber aller Anfang ist schwer. Es fällt schwer, das zu
sagen, was mich im Innersten bewegt. Auch wenn es nur ein Flüstern ist, das
außer Gott niemand hört.
Dennoch scheue ich mich, bestimmte Dinge auszusprechen.
Es tut weh, über das Ende einer Freundschaft, den Tod eines nahen Menschen zu
reden. Es ist unangenehm, eigene Fehler und eigene Schuld einzugestehen. Es ist
bedrohlich, der Wut auf einen anderen Menschen Raum zu gebe. Und das Glück
scheint allzu flüchtig, sobald ich davon spreche.
Doch so beginnt das Beten: Freude und Dankbarkeit, Wut und Hass, Schmerz und Trauer, Versagen und Schuld auszusprechen. Damit bringe ich Gott ins Spiel: Ich öffne ihm mein Leben und er tritt ein.
„Herr, sag uns, wie wir beten sollen!“
Jesus macht den schweren Anfang ganz leicht. Er nimmt
die Frauen und Männer um ihn herum beim Wort. Er bringt ihnen ein Gebet bei.
Vielleicht ist es ein Gebet, das er selber spricht, wenn
er betet: „Vater, dein Name soll geheiligt werden. Dein Reich soll kommen. Gib
mir heute mein tägliches Brot. Und vergib mir meine Schuld – denn auch ich
vergebe allen, die an mir schuldig werden. Stell mich nicht auf die Probe.
Amen.“
Ganz vertraut ist er mit Gott, Gott ist der Vater. Und
doch ist der Vater auch der ganz andere, heilig ist er und ganz für sich.
Im Großen soll die Welt werden, wie Gott sie erdacht hat
und will: Ein Ort, an dem Gerechtigkeit und Frieden sich küssen. Im Kleinen
soll Gott geben, was einer zum täglichen Leben braucht. Und nichts soll sein,
was Menschen voneinander oder von Gott trennt.
Ich stelle mir vor, dass Jesus so betete, wenn er sich
ins Gebet zurückzog. Und ich stelle mir vor, dass er das Gebet jetzt mit den
Frauen und Männern um ihn teilt. Dass er es erst für sie und dann mit ihnen
betet, wenn sie am Anfang oder auf der Höhe oder am Ende des Tages
zusammensitzen.
So lernen die Frauen und Männer das Beten und das Gebet.
Als Jesus nicht mehr da ist, kennen sie es längst auswendig.
„Herr, sag uns, wie wir beten sollen!“
Beten hat immer auch etwas mit Haltung zu tun. Während
ich mein Gebet spreche, spricht auch mein Körper sein Gebet.
Ich falte die Hände zusammen und neige den Kopf. Ich
kann nichts tun, du, Gott, musst alles tun, sagt der Körper.
Ich stehe, breite die leeren Hände aus, schaue zum
Altar. Hier bin ich, Gott, sieh mich freundlich an und fülle mir die Hände,
sagt der Körper.
Während unseres Studiums feierten wir mit anderen
Theologiestudentinnen und -studenten einen Gottesdienst. Steine sollten wir
ablegen und Gott sagen, was uns schwer war. Eine Frau nahm einen Stein und warf
ihn voller Wucht und Wut gegen die Wand hinter dem Altar.
Wir waren erschrocken. Hinterher erklärte sie sich und bat uns andere um Entschuldigung. Und Gott?
„Herr, sag uns, wie wir beten sollen!“
Jesus gibt an die Frauen und die Männer um ihn sein Gebet
weiter. Und er erzählt ihnen, wie einer seinen Freund mitten in der Nacht aus
dem Schlaf holt.
Er braucht drei Brote für unverhofften Besuch. Aber der
Freund will nicht aufstehen und versucht den anderen abzuwimmeln.
Und Jesus sagt den Frauen und Männern um ihn:
„Schließlich wird er doch aufstehen und ihm geben, was er braucht – wenn schon
nicht aus Freundschaft, dann doch wegen seiner Unverschämtheit.“
Ich stelle mir vor, dass die Frauen und Männer um Jesus
über die Geschichte reden.
Die Männer empören sich, wie einer mitten in der Nacht
stören kann, und sind sich sicher, dass sie nie und nimmer aufgestanden wären.
Die Frauen freuen sich, wie mutig und dreist einer sein
kann, weil er etwas braucht, und nehmen sich vor, es beim nächsten Mal genauso
zu tun.
Und Jesus nickt und sagt: „Seid unverschämt! Bittet Gott und er wird euch geben, was ihr braucht! Klopft an bei Gott und er wird euch aufmachen! Wenn es sein muss: Werft einen Stein in eurer Wut und Trauer und Gott wird euch trösten.“
„Herr, sag uns, wie wir beten sollen!“
In unserer Kirche liegen auf einem Pult im Querschiff
kleine Kärtchen, auf die jeder, der will, ein Gebetsanliegen schreiben kann.
Die Kärtchen können in einen Kasten gesteckt werden.
Wir nehmen die Kärtchen täglich aus dem Kästchen und
lesen sie leise und legen sie auf den Altar. So bringen wir die Gebete zu Gott.
In den Zeiten, in denen der Konfirmandenkurs läuft,
leeren wir das Gebetskästchen mit den Jugendlichen.
Zum Abschluss eines Zusammenseins liest jeder
Jugendliche eines der Kärtchen vor und wir sprechen gemeinsam das Vaterunser.
Eines Tages bekamen die Konfirmandinnen und Konfirmanden
einen Karton voller Gummibärchen geschickt. In dem Karton lag eine Karte. Auf
ihr stand:
„Liebe Konfis. Danke für eure Fürbitte für mich zwischen
den Jahren. Ich hatte meine Arbeit verloren und euch dazu einen Zettel
geschrieben, dass ihr für mich beten mögt, damit ich eine schöne neue Arbeit
finde. Ich habe sie gefunden, am Montag geht es los! Ich danke euch von Herzen
und schicke euch einen süßen Gruß!“
Auf den Gebetskärtchen steht ein Vers aus Psalm 23: „Du, Gott, salbst mein Haupt mit Öl und schenkst mir voll ein.“
„Herr, sag uns, wie wir beten sollen!“
Ich stelle mir vor, dass Jesus das kennt: Im Leben ist
manches anders, als er es sich wünscht. Anders, als er es für sich und andere
will und von Gott erbittet.
Er könnte mit Gott hadern, wenn er sich mit ihm
zusammenkommt im Gebet: Warum hast du nicht? Du könntest doch.
Er tut es nicht. Er setzt jedes seiner Gebete, jedes
seiner Anliegen in eine Klammer. Vor der Klammer steht: „Nicht was ich will,
soll geschehen, sondern was du willst!“
Ich stelle mir vor, dass er das voller Vertrauen tut.
Sein Leben und das, was er will, ist bei Gott gut aufgehoben. Und für dieses
Vertrauen wirbt er auch bei den Frauen und Männern, die bei ihm das Beten
lernen wollen.
Jesus sagt: „Ihr Menschen wisst, was euren Kindern
guttut, und gebt es ihnen. Wie viel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen
Geist denen geben, die ihn darum bitten.“
Also können wir und deshalb sollen wir beten.
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