Blütensieg

Geh aus mein Herz und suche Freud. So im Grünen zu wohnen, wie wir es tun, macht das leicht.
Wenn ich am Esstisch sitze, kann ich über die Blütenpracht der Magnolie staunen und dabei zuschauen, wie das Blätterkleid der Blutbuche immer dichter wird.
Von meinem Schreibtisch aus sehe ich dem Meisenpaar dabei zu, wie es in den Nistkasten an der Kastanie einzieht. Vor dem Fenster springt der Hase durch den Garten, das Reh schaut vorbei und die jungen Kaninchen spielen fangen.
Geh aus mein Herz und suche Freud. Steh auf vom Esstisch, vom Schreibtisch, geh nach draußen und schau dir alles genau an. Tauche in das Grün ein.
Sammle das Weiß und Gelb und Rot und Blau. Höre der Amsel beim Singen und der Schwalbe beim Zwitschern zu. Und dann setze dich in die Sonne und mache das Herz weit.

Und Gott sah, dass es gut war.

Vielleicht war es Frühling, als ein Priester das erste Mal davon erzählte, wie Himmel und Erde geschaffen wurden. Wie das Licht ins Dunkel kam und der Himmel sich wie ein Dach wölbte. Wie die Wasser sich im Meer sammelten und aus der Erde frisches Grün spross und Bäume wuchsen.
Wie die Sonne und der Mond und die Sterne an den Himmel kamen und kleine Lebenwesen und große Ungeheuer das Meer und die Luft bevölkerten.
Wie auch das Land belebt wurde von Vieh und Kriechtieren und wilden Tieren. Wie Gott schließlich dem Menschen, seinem Ebenbild, das Leben schenkte.
Und Gott sah, dass es gut war.

Vielleicht war es Frühling, als ein Priester das erste Mal davon sang, wie Gott Himmel und Erde schuf. Und das war der Kehrvers seines Liedes, der Refrain.

Und Gott sah, dass es gut war.

Der Priester war kein Naturwissenschaftler. Ob die Erde und das Leben auf ihr wirklich so und nicht doch ganz anders entstanden war – diese Frage wird ihn kaum bewegt haben.
Darum ging es ihm nicht. Er war kein Naturwissenschaftler, er war ein Beobachter, ein Stauner. Geh aus mein Herz und suche Freud. Sieh das Leben über dir und um dich herum mit anderen Augen. Mit Gottes Augen.

Und Gott sah, dass es gut war.

Vielleicht war es Frühling, als der Priester davon sang und davon erzählte, wie Gott das alles geschaffen hatte, das Licht und den Himmel und die Tiere und den Menschen.
Aber als er das tat, war längst nicht alles gut. Er war ein Priester ohne Tempel. Er war ein Priester weit weg von dem Heiligtum, in dem der Name Gottes wohnte. Schlimmer noch: Dieser Tempel, dieses Heiligtum waren zerstört.
Im Krieg zerstört. Wie die ganze Stadt, wie das ganze Land. Zerstört und besetzt von einer Großmacht, von einem Herrscher, der sein großes Reich noch größer machen musste.
Zwischen den Trümmern der Stadt und des Landes lebten die Menschen. Sie bauten wieder auf, was sie zum Leben brauchten. Sie mussten sich hineinfinden, dass nicht sie selber, sondern die Großmacht und ihre Führer über ihr Leben bestimmten.
Der Priester und viele andere mit ihm lebten fern von den Trümmern. Sie waren verschleppt worden an einen anderen Ort in dem großen Reich. Sie lebten im Exil, in der Verbannung.
Sie hatten den Krieg verloren, sie mussten den Preis dafür bezahlen, den der Sieger bestimmte. Manchen zerbrach es das Herz und den Willen. Sie verwarteten die Tage und die Nächte fernab von der Heimat. Andere fügten sich in die Umstände und suchten in der Fremde ihr kleines Glück.
Und der Priester schaute sich das Licht an und den Himmel und die Tiere und den Menschen und wiederholte sich und denen, die ihm zuhörten, seinen Kehrvers:

Und Gott sah, dass es gut war.

Wir leben nicht im Krieg. Seit 77 Jahren nicht mehr. Da war der Krieg zu Ende.
Aber in der Ukraine leben sie mit dem Krieg. Seit zehn Wochen. Die einen versuchen sich zu wehren gegen die angreifende Großmacht. Sie versuchen, ihr Leben und ihre Heimat zu verteidigen und zu bewahren.
Die anderen werden von dieser Großmacht hineingeschickt in den Krieg als Kanonenfutter. Sie wurden Soldaten, um es zu etwas zu bringen im Leben, jetzt töten sie oder werden getötet.
Die einen fliehen vor dem Krieg aus den zerstörten Städten. Sie suchen Zuflucht bei Freunden, bei Bekannten, in der Fremde, in großen Städten und auch auf unserer kleinen Insel.
Die anderen trauern um das Leben ihrer Söhne, zittern um das Leben ihrer Brüder, und versuchen herauszufinden, wo die gerade sind und wie es ihnen geht.
Mich erstaunt, dass man zwischen Krieg und Kriegsverbrechen unterscheidet. Als gäbe es einen Krieg ohne Verbrechen. Krieg ist immer ein Verbrechen.
Ein Verbrechen am Leben. Das gilt für den Krieg in der Ukraine. Das gilt für die Kriege in Syrien und im Jemen. Das gilt für den Krieg, der heute vor 77 Jahren zu Ende ging.

Ob Kriege wirklich zu Ende gehen? „Ich kann das alles nicht mehr hören und sehen“, meinte eine über den Krieg in der Ukraine. „Da kehren die ganzen Bilder von früher wieder.“
Die zerbombten Häuser in Charkiw erinnern an den Feuersturm in Hamburg. Die Leichen in den Straßen von Butscha erinnern an die Tieffliegerangriffe auf die Flüchtlingstrecks in Pommern.
Wer das Grauen einmal erlebt hat, der erlebt es wieder, auch wenn es andere trifft. Der fasst sich an den Kopf und ans Herz und fragt verzweifelt: Warum Krieg? Wisst ihr nicht?

Und Gott sah, dass es gut war.

Es ist ein Wahnsinn, diesen Kehrvers zu singen – mit Zerstörung vor den Augen, Vertreibung im Herzen, Tod in den Knochen.
Auch am 8. Mai 1945 wird Frühling gewesen sein. Aber wer mochte da die Augen öffnen für das Weiß und Gelb, das im Garten aufblühte?
Schluckten der Schrecken der Niederlage und die Unsicherheit des nächsten Tages nicht alle Farbe? Wie konnte einer behaupten, dass alles gut war, wo doch nichts gut war?
Aber der Priester hielt daran fest, obwohl er den Krieg und die Niederlage erlitten und die Verbannung erfahren hatte.

Und Gott sah, dass es gut war.

Es ist ein Schlag vor den Kopf und in den Magengrube, das jemandem zu empfehlen: Geh aus mit deinem Herz und suche Freud.
Als könnte das Singen der Amsel und das Zwitschern der Schwalbe das Heulen der Sirenen und das Krachen der Bomben übertönen.
Wer kann das? Durch die Trümmer der Heimatstadt laufen und sich an der Magnolie freuen, die im zerstörten Hinterhof blüht?
Wer pflückt am Straßenrand neben dem ausgebrannten Panzer einen Strauß Tulpen, um ihn beim nächsten Luftangriff mit in den U-Bahn-Schacht zu nehmen?
Wer hält daran fest, dass alles gut ist oder wenigstens wieder wird, wenn gerade gar nichts gut ist?
Wer hält an Gott fest und daran, dass seine Schöpfung gut ist, wenn Menschen, Gottes Ebenbilder einer wie der andere,  einander das Recht zu leben absprechen und sich gegenseitig töten? Und sich dabei auch noch auf Gott berufen.

Und Gott sah, dass es gut war.

Einer, der das konnte und tat, war Shalom Ben-Chorin, der den Frieden schon im Vornamen trägt. 1935 floh der jüdische Journalist aus Deutschland. 1942 erreichten ihn immer mehr Schreckensmeldungen über den Krieg und vor allem von der Vernichtung der Jüdinnen und Juden.
Da schrieb er ein Gedicht.

Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt, / ist das nicht in Fingerzeig, dass die Liebe bleibt? / Dass das Leben nicht verging, / so viel Blut auch schreit, / achtet dieses nicht gering / in der trübsten Zeit. / Tausende zerstampft der Krieg, / eine Welt vergeht. / Doch des Lebens Blütensieg / leicht im Winde weht. / Freunde, dass der Mandelzweig / sich in Blüten wiegt, / das bleibt mir ein Fingerzeig / für des Lebens Sieg.

„Das Zeichen“ nannte Shalom Ben-Chorin diese Zeilen. Der Mandelbaum ist ein Zeichen für den Frühling. Er blüht, wenn noch alles kahl ist und auf den Hügeln rund um Jerusalem noch Schnee liegt.
Der Mandelbaum ist ein Zeichen, dass Gott über seine Schöpfung wacht. Und weil das so ist und der Mandelbaum blüht, wird auch das Leben blühen. Wieder blühen. Trotz allem blühen. Damit das Leben siegt.

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