Die Pacht schuldig geblieben

Sie haben ihn genau verstanden: die Priester, die Schriftgelehrten, die Ratsältesten. Sie, die sich auskennen mit Gott. Sie kommen Gott nahe, wenn sie Gottesdienst feiern. Sie gehen Gottes Willen nach, wenn sie seine Gebote auslegen. Sie suchen das Beste für Gottes Volk, wenn sie über dessen Angelegenheiten entscheiden.
Sie haben ihn genau verstanden. Jesus sprach von ihnen, als er ihnen das Gleichnis erzählte:

"Ein Mann legte einen Weinberg an. Er baute eine Mauer darum, hob eine Grube zum Auspressen der Trauben aus und errichtete einen Wachturm. Dann verpachtete er ihn und ging auf Reisen.
Als es an der Zeit war, schickte der Besitzer einen Knecht zu den Pächtern. Der sollte seinen Anteil vom Ertrag des Weinbergs abholen. Aber sie packten den Knecht, verprügelten ihn und jagten ihn mit leeren Händen davon.
Noch einmal schickte der Besitzer einen Knecht. Dem schlugen sie den Kopf blutig, und beschimpften ihn. Der Besitzer schickte einen weiteren, den töteten sie. Er schickte noch viele andere. Die einen verprügelten sie, die anderen töteten sie.
Da blieb ihm nur noch sein einziger Sohn, den er sehr liebte. Ihn schickte er als Letzten. Er sagte sich: 'Vor meinem Sohn werden sie Respekt haben.'
Aber die Pächter sagten zueinander: 'Er ist der Erbe. Kommt, wir töten ihn, dann gehört sein Erbe uns.' Sie packten ihn, töteten ihn und warfen seine Leiche hinaus vor den Weinberg.“

(Markusevangelium 12,1-8 -- www.basisbibel.de)

Sie haben Jesus genau verstanden. Sie sind die Pächter, die dem Verpächter die Pacht schuldig bleiben. Die Pächter leben eigentlich gut von dem, was der Verpächter ihnen überlassen hat. Und das haben sie ja auch verdient.
Schließlich sorgen sie ja auch dafür, dass der Weinberg Früchte trägt und ihnen und dem Verpächter etwas einbringt.
Aber die Pacht, auch wenn sie rechtens ist, scheint nicht gerecht. Schließlich ist der Verpächter weit weg und kümmert sich überhaupt nicht um seinen Weinberg. Sie, die Pächter, haben die Arbeit. Er, der Verpächter, schickt nur seine Boten, um die Pacht einzufordern. Wer die Arbeit hat, sollte der nicht auch über die Produktionsmittel und den Gewinn verfügen?
Natürlich bedeutet das Kampf – gegen den Verpächter, der seine Ansprüche anmeldet. Aber es sieht doch so aus, als ließe sich dieser Kampf gewinnen. Was soll der Verpächter tun, wenn die Pächter ihm die Pacht verweigern? Er ist weit weg, sie sind vor Ort. Wer soll sie zur Rechenschaft ziehen?

„Was wird der Weinbergbesitzer jetzt tun?“, fragt Jesus die Priester und Schriftgelehrten und Ratsältesten und schiebt gleich die Antwort hinterher:
„Er wird selbst kommen, die Pächter töten und den Weinberg anderen anvertrauen.“
(Markusevangelium 12,9 -- www.basisbibel.de)

Die, zu denen er spricht, verstehen. „Ihr bleibt Gott schuldig, was ihr Gott schuldig seid!“ Das sagt er ihnen, bildreich verpackt in sein Gleichnis.
„Ihr seid die Pächter und wirtschaftet in die eigene Tasche. Ihr übergeht Gott, ihr denkt nur an euch selbst. Ihr wollt mit Gott nichts zu tun haben.“
Sie haben Jesus genau verstanden. Aber was sie da hören, müssen sie sich nicht anhören. Schließlich sind sie es doch, die Gottes Sache vertreten. Sie feiern die Gottesdienste. Sie achten auf Gottes Gebote. Sie führen Gottes Volk.
Wenn denn Gott der Verpächter ist und sie die Pächter sind, dann zahlen sie die Pacht, reichlich und pünktlich.
Was Jesus ihnen da sagt, das müssen sie sich nicht anhören. Sie nicht. Und er? Er hat kein Recht, ihnen das zu unterstellen: sie als zahlungsunwillige Pächter. Er muss verstummen.
„Die Priester, Schriftgelehrten und Ratsältesten hätten Jesus am liebsten verhaften lassen.“
So denken sie, so sagen sie – und merken gar nicht, wie sie damit in die Falle tappen, die ihnen das Gleichnis stellt: Sie wollen jetzt auch noch den Erben mundtot machen, der sie an die Pacht erinnert, die sie Gott schuldig sind.

Die Priester und Schriftgelehrten und Ratsältesten, sie müssen sich aufregen über das Gleichnis, das Jesus ihnen da unter die Nase reibt.
Wir dagegen können uns eigentlich ganz entspannt zurücklehnen. Uns meint Jesus schließlich ja nicht! Denn wir gehören nicht zu den Pachtverweigerern.
Wir gehören nicht zu den Menschen, die von Gott nichts wollen. Stolz sind die darauf, dass sie ihr Leben aus eigener Kraft meistern und ihren Weg zum Glück allein und ohne fremde Hilfe finden.
Wir dagegen bauen darauf, dass Gott uns unsere Wege führt und Kraft zum Leben schenkt.
Wir gehören auch nicht zu den Menschen, die mit dieser Erde umgehen, als sei es ihre eigene. Rücksichtslos verbrauchen sie ihre Schätze, von denen sie meinen, sie hätten sie sich erarbeitet. Ohne Gott und Sonnenschein holen sie die Ernte ein.
Wir dagegen wissen, dass Gott uns diese Schätze schenkt und danken ihm, dass er uns die Erde anvertraut.
Wir gehören ebenso wenig zu den Menschen, die sich selber zum Maß der Dinge machen. Selbstverliebt suchen sie in allen Beziehungen den Gewinn, den sie davon haben, wenn sie sich auf andere einlassen.
Wir dagegen sehen in einem anderen den Nächsten, den uns Gott an die Seite gestellt hat, in dem uns Gott selber begegnet.

Nein, wir sind keine Pachtverweigerer. Allenfalls sind wir mit unseren Zahlungen hin und wieder ein wenig im Rückstand. Wir könnten uns noch ein wenig mehr anstrengen: Wir könnten uns noch mehr um unsere Nächsten bemühen. Wir könnten noch stärker auf die Umwelt, auf Gottes Schöpfung achten. Wir könnten uns noch tiefer Gottes Führung anvertrauen.
Aber dass Gott als strenger Verpächter uns, seine Pächter, zur Rechenschaft zieht, brauchen wir nicht zu fürchten. Er wird schon nicht so streng sein.
Er wird anerkennen, dass wir uns nach unseren Möglichkeiten bemühen. Er wird uns liebevoll anschauen und sich an der Pacht freuen, die wir ihm zahlen können. Auch wenn sie vielleicht nicht ganz so hoch ausfällt, wie sie ausfallen sollte.
Wir können uns entspannt zurücklehnen. Uns meint Jesus ja schließlich nicht!

Was aber, wenn er uns doch meint? Wenn wir doch die Pächter sind, die die Pacht nicht zahlen? Vielleicht sind wir den Pächtern ja ähnlicher, als wir es uns selber und Gott eingestehen wollen.
Da mögen wir uns am Sonntag im Gottesdienst Gott anvertrauen, ihm hinhalten, was uns bewegt, ihn um Kraft und Führung bitten.
Und dann kommt der Montag – und wir verlassen uns allein auf uns selber. Bis Samstag bestreiten wir die Woche aus eigener Kraft und ziehen unserer Wege ohne Gott, weil wir vergessen haben, was eben noch so wichtig war.
Da mögen wir auch Erntedank feiern und Gott von dem bringen, was wir von ihm als Geschenk erhalten haben. Wir erinnern uns, dass wir nicht selber erarbeiten, was unser Leben reich macht.
Den Rest des Jahres aber gehen wir mit den Schätzen, die uns umgeben, achtlos um und richten unser Trachten darauf, wie wir uns Schätze für uns allein erarbeiten können.
Und schließlich mögen wir im Prinzip und ganz allgemein auf unseren Nächsten schauen und auf das, was ihm gut tut. Wenn aber der Nächste plötzlich in Person vor uns steht und unsere Hilfe braucht – da finden wir schon genug einwandfreie Gründe, warum er sich selber helfen muss oder ein anderer zuständig ist – und es gar nicht gut wäre, wenn wir ihm helfen würden. Und außerdem: Wer hilft uns schon?

Plötzlich können wir uns nicht mehr entspannt zurücklehnen. Der Verpächter fordert mehr als nur eine jährliche Pachtzahlung, die auch gern mal etwas niedriger ausfallen darf, weil nicht ein Jahr wie das andere ist.
Der Verpächter fordert von seinen Pächtern, dass sie das wissen und behalten: Sie sind Pächter. Sie arbeiten in einem Weinberg, der nicht ihnen gehört. Alles, wovon sie leben, gehört dem Verpächter.
Alles, wovon wir leben, verdankt sich Gott. Unser Leben gehört Gott. Und so sollen wir leben.
Und wenn nicht? Dann werden wir aus dem Weinberg geworfen. Dann werden wir von Gott verworfen – so wie Bauleute einen Stein wegwerfen, der nicht zum Bauen taugt. Dann scheint alles hoffnungslos.

Doch es gibt da ja dieses alte israelitische Sprichwort:
„Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden“ (Psalm 118,22).
Der Stein, der zu nichts nutze scheint, auf dem ruht der ganze Bau, der hält ihn zusammen, ohne ihn steht er nicht.
Der Beter hält sich an diesem Sprichwort fest:
„Ich werde nicht sterben, sondern leben“ (Psalm 118,17), betet er.
Das ist seine Hoffnung: Dass gut wird, was schlecht für ihn aussieht.
Und das ist auch die Erfahrung, die er macht: Es scheint, als habe Gott ihn verworfen – aber Gott baut auf ihn. „Das ist vom Herrn geschehen und ist ein Wunder vor meinen Augen“ (Psalm 118,23), staunt der Beter, können wir staunen.
Gott baut auf die Menschen, Gott baut auf uns, obwohl er doch weiß, dass er auf uns nicht bauen kann – und wir wissen es mit ihm.

Das Wunder hat seinen Grund, hat seinen Eckstein: Jesus Christus. Auf ihn können wir bauen. Auf ihn können die Pächter des Weinbergs bauen.
Das Gleichnis, das Jesus als Warnung erzählt, bekommt durch ihn selber eine neue Wendung, ein anderes Ende.
Der Pächter kommt nicht nur, um die Pacht einzutreiben. Er kommt, um mit den Pächtern im Weinberg zu bauen. Er kommt, und hilft ihnen, die Pacht aufzubringen.
Gott verpachtet uns seinen Besitz, den Machtbereich seiner Liebe, damit wir selbst und andere daran gewinnen. Als Pacht fordert er seinen Anteil: unsere Liebe, unser Vertrauen, unsere Hingabe.
Jesus ist es, der mit uns die Pacht zahlt. Für uns lebt er ganz in Gottes Nähe und ganz aus Gottes Gegenwart. Und er zeigt uns, wie das aussieht, aussehen kann: Gott lieben, ihm vertrauen, sich ihm hingeben.
So können auch wir die Pacht zahlen: Weil er sie für uns bezahlt. Und weil er uns zeigt, wie wir sie bezahlen können. Indem wir Gott mit unserem Glauben erfreuen. Indem wir ihm mit unserem Tun die Ehre erweisen. Indem wir auf ihn unser Leben bauen.
Denn das Leben, das wir leben, ist ein Leben aus Gott. Und es findet seine Erfüllung, wenn es aus ihm kommt und sich ihm zuwendet – ganz und gar und mit seiner Hilfe.

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