Ein "Kleines Lied" singt in mir

Angst hat keine Freunde, / trotzdem kennt man sie gut / denn sie macht sich lieber Feinde / und sie frisst am liebsten Mut
Keiner kann sie leiden / doch sie hat jeden gern / sie kennt auch jeden Menschen / ganz egal ob nah ob fern


"Der Geist des HERRN aber wich von Saul und ein böser Geist vom HERRN ängstigte ihn."
(1 Samuel 16,14.)

Saul, der große und starke und mächtige König, hat Angst. Das erste Mal. Eine kleine, nackte, fiese Angst.
Oft ist er ausgezogen. Nie hat er das Fürchten gelernt. Keine Schlacht war zu laut, kein Gegner zu schrecklich. Saul überbrüllte jedes Schlachtgetümmel, vor ihm lief jeder Gegner davon.
Aber dieser Gegner ist heimtückisch. Er fährt in die Knie und macht sie weich. Er zieht den Magen zusammen. Er macht die Hände feucht.

Manchmal habe ich Angst. Eine kleine, nackte, fiese Angst nimmt mich gefangen.
Der nächste Schritt muss ins Unbekannte gehen. Ich weiß nicht, was mich dort, hinter der Tür, erwartet.
Sie könnte verlockend sein, diese Tür. Ich versuche mir vorzustellen: So wundervoll ist es dort.
Aber die Tür macht die Hände feucht. Ein Abgrund könnte sich hinter ihr auftun. Monster könnten dort lauern.
Ich werde es wissen, wenn ich die Tür öffne. Aber die Knie sind zu weich, um aufzustehen.

Deine Angst ist wohl auch meine / denn sie lebt von dir und mir / im Dunklen und alleine / nagt sie an mir und dir
wir könnten uns verbünden / wir beide, du und ich / und unsre Angst ergründen / ich lass dich nicht im Stich


"Der Geist des HERRN aber wich von Saul und ein böser Geist vom HERRN ängstigte ihn. Da sprachen die Großen Sauls zu ihm: 'Siehe, ein böser Geist von Gott ängstigt dich. Unser Herr befehle nun seinen Knechten, die vor ihm stehen, dass sie einen Mann suchen, der auf der Harfe gut spielen kann, damit er mit seiner Hand darauf spiele, wenn der böse Geist Gottes über dich kommt, und es besser mit dir werde.'
Da sprach Saul zu sein Leuten: 'Seht euch um nach einem Mann, der des Saitenspiels kundig ist, und bringt ihn zu mir.'"
(1 Samuel 16,14-17.)

Saul, der große und starke und mächtige König, lernt. Er spürt seine Angst und er lernt: Sie ist zu groß und zu stark und zu mächtig für ihn. Für ihn allein.
Er lernt eine neue Rolle mit einem neuen Text. Bislang war immer das seine Rolle: Laute Befehle brüllen und vorneweg marschieren. Doch die Angst schnürt die Kehle zu und lähmt die Beine. Seine Stimme ist nur noch ein Flüstern. Sie befiehlt nicht mehr, sie fleht: Wer kann helfen?
Und seine Leute hören das Flehen wie einen Befehl: Weil der König flüstern muss, hören sie genau hin. Weil er flehen muss, wollen sie ihm beistehen.
Ihre Angst ist endlich auch seine. Die Angst, die ihn gerade packt, kennen sie schon lange. Seine Angst macht aus dem König einen Menschen. Dem reichen sie gern die Hand.

Ob ich auch so groß und stark und mächtig sein kann wie Saul, der ängstliche König? So groß, mir einzugestehen, dass ich gegen die Angst nicht ankomme. Und so stark, sie anderen gegenüber zuzugeben.
Ich kann versuchen, vor meiner Angst wegzulaufen. Wer sagt denn, dass ich durch diese Tür vor mir gehen muss? Es gibt doch bestimmt noch andere Wege.
Ich kann auch versuchen, die Angst mit markigen Sprüchen zu vertuschen. Die anderen werden schon nicht hören, wie meine Zähne aufeinanderschlagen. Und womöglich nehme ich mir meine Sprüche auch selber ab.
Ich finde das groß, wenn sich einer seiner Angst stellt. Wenn er sich eingesteht, dass er an ihr nicht vorbeikommt, und nach einem Weg sucht, durch sie hindurch zu kommen.
Ich finde das stark, wenn er dann die Hand ausstreckt nach einem anderen, der mit ihm die Tür öffnet und über die Schwelle tritt und in den Raum tritt, der Angst macht.

ich bin dein kleines Lied / ich stärk dich bei Gefahr / egal was auch geschieht / ich bin für dich da
einmal in deinen Ohren / geh ich da nie mehr raus / denn ich hab es mir geschworen / ich schütz dich und dein Haus


"Da sprach Saul zu sein Leuten: 'Seht euch um nach einem Mann, der des Saitenspiels kundig ist, und bringt ihn zu mir.'
So kam David zu Saul und diente vor ihm. Und Saul gewann ihn sehr lieb und er wurde sein Waffenträger.
Sooft nun der böse Geist von Gott über Saul kam, nahm David die Harfe und spielte darauf mit seiner Hand."
(1 Samuel 16,17.21.23a.)

David spielt für Saul. Auf seiner Harfe spielt er ihm ein neues Lied. Sein kleines Lied.
Dieses Lied beginnt in Moll. Saul kann hören, was er fühlt. Er hört die weichen Knie und den verknoteten Magen. Er hört das, was ihn bedroht und unsicher macht. Er hört seine Angst und kann ihr nicht ausweichen.
Da wechselt das Lied die Tonart. Auf einmal spielt David Dur-Akkorde. Einer kräftiger als der andere. Die Töne stehen auf gegen die Angst. Sie singen gegen das, was klein macht.
David spielt vom Leben, das alle Angst vertreibt. Er spielt mit der weichen, beharrlichen Kraft der Morgendämmerung, vor der das Dunkel weichen muss.

Wäre ich Musiker, hätte ich Töne für dieses Lied. Ich bin kein Musiker. Aber ich habe Worte. Keine Worte, die aus mir kommen. Sondern Worte, die einer von außen in mich legt - und die in mir dann und wann als kleines Lied gegen die Angst wiederklingen.
Zum Beispiel: "Von allen Seiten umgibst du mich, Gott, und hältst deine Hand über mir." (Psalm 139,5.)
In diesen Worten hallt leise noch das Moll nach: Eine kleine Angst. Nicht vor dem Leben, aber um das Leben. Was kann ihm alles widerfahren? Was bedroht es nicht alles? Wer hat es in der Hand, wenn es dunkel wird?
Viel kräftiger aber als das Moll tönt das Dur: Gott umgibt mich. Er ist dicht bei mir. Ich bin in ihn gekleidet wie in einen Mantel. Was soll mir geschehen?
Und selbst wenn mir etwas geschehen soll: Gott hält seine Hände über mir. Auch dann, wenn mir etwas geschieht, ist er bei mir.
Gott ist da, bei dir. So singen die Worte. Da muss doch alle Angst weichen.

jetzt bist du meine Heimat / denn in dir geht es mir gut / dein Herz ist meine Einfahrt / dein Lauschen wird mein Mut
wir beide unzertrennlich / wir jagen alle Ängste fort / denn ich weiß du erkennst mich / auch am dunkelsten Ort


"Sooft nun der böse Geist von Gott über Saul kam, nahm David die Harfe und spielte darauf mit seiner Hand. So wurde es Saul leichter und es ward besser mit ihm und der böse Geist wich von ihm." (1 Samuel 16,23.)

Saul ist verwandelt. Die Klänge der Harfe haben ihn verwandelt. Er ist jetzt einer, der die Angst kennt. Und einer, der die Angst vor der Angst verloren hat.
Er weiß: Sie gehört zum Leben. Die kleine und nackte und fiese Angst. Aber sie muss das Leben nicht bestimmen.
Die Angst löst sich. Sie löst sich, wenn er die Angst nach draußen lässt. Dann wird in ihm Platz für ein neues Lied. Eines, das anders vom Leben singt.

Gott singt an gegen die Angst in mir. Gegen die Angst vor dem Leben, um das Leben. Von allen Seiten umgebe ich dich, singt er, ich halte meine Hand über dir.
Die Angst vor den Türen im Leben weicht. Die Knie werden fest, der Knoten im Magen löst sich. Ich kann aufstehen und losgehen. Ich werde ankommen.

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