Begegnung mit einem alten Bekannten


Buß- und Bettag: Ich stelle mir vor, dass Gott an diesem Tag nach seinen Schafen sieht; nach den verirrten und all den anderen.
So erzählt es Susanne Niemeyer:

Als Gott seine Nachmittagsrunde dreht und rechts hinterm Bahnhof in diese kleine Seitenstraße einbiegt, deren Namen er sich nie merken kann, sieht er Frieda.
Frieda mit dem Blümchenkleid. An ihren Armen hängen Tüten. Eine Menge Tüten, mehr Tüten, als sie eigentlich tragen kann. Sie sind prall gefüllt, und es sind Tüten von abgetragener Art.
Dass sie nicht neu sind, sieht Gott sofort. Dass keine Einkäufe darin liegen, keine Äpfel, die Frieda zuhause in eine Schale legen wird.
Der Rücken von Frieda ist rund vom vielen Arbeiten und auch sonst. Bestimmt schneiden die Tüten Kerben in ihre Hände.

Buß- und Bettag. Gott sieht mich. Er sieht, wie ich meine Tüten durch den November trage.
Manchmal trage ich schwer an ihnen. Vielleicht, weil andere mir vieles aufgeladen haben und ich mich nicht dagegen wehren konnte.
Vielleicht auch, weil ich selber einiges aufgesammelt habe. Es wäre besser gewesen, es liegen zu lassen. Aber nun ist es zu spät.
Also muss ich es tragen. Der Rücken wird krumm, die Hände schmerzen. Gott sieht das.
Gott sieht Frieda, erzählt Susanne Niemeyer:

Und Gott beschleunigt seinen Schritt. „Darf ich?“, fragt er, als er Frieda eingeholt hat.
Frieda sieht auf. In ihrem Blick blitzt Erstaunen auf; aber auch ein Erkennen, als seien sie einander schon einmal begegnet. Falten durchziehen ihr Gesicht, furchengleich. Unmöglich zu schätzen, wie alt Frieda ist. Aber sie lächelt.
Ach“, sagt sie, und vielleicht will sie fortfahren und etwas sagen wie: Nicht nötig. Es geht schon. Aber sie zögert. Und während dieses Zögerns nimmt Gott ihr vorsichtig eine Tüte ab und dann noch eine, so richtig gentleman-like; das hat Frieda schon lange nicht mehr erlebt.

Buß- und Bettag: Gott trifft mich. Und ich treffe Gott.
Eher zufällig geschieht das. Früher war dieser Tag ja mal ein Feiertag, ein Ich-suche-Gott-Tag. Heute ist es ein Mittwoch im November. Ein Tag, an dem ich meine Tüten trage wie immer.
Es sei denn, Gott kommt dazwischen. Wie ein alter Bekannter, dessen Name mir nicht gleich einfällt. Aber irgendwie ist es auch schön, dass ich ihn treffe.
Jedenfalls lächelt er so freundlich, dass sich die Augen öffnen für diesen Tag. Plötzlich tritt aus dem Nebelnovember ein wunderbarer Tag hervor. So erzählt Susanne Niemeyer:

Die Sonne scheint an diesem Nachmittag und trotzdem ist die Straße leer. Zwei Tauben streiten sich um ein halbes Rosinenbrötchen, im Rinnstein liegt eine leere Coladose.
Sonst ist nichts Besonderes zu sehen. Nur die beiden, wie sie dastehen. Gott und Frieda.
Da hat sich viel angesammelt“, sagt Frieda, als wolle sie sich entschuldigen. Viele Erinnerungen, unangenehme Erinnerungen (die schönen, die bewahrt Frieda woanders auf).
Grübeleien, die nicht abgeschlossen sind. Ungelöste Fragen. Wirres Zeug, schweres Zeug. Sehr schweres Zeug.
Man weiß ja gar nicht, wohin damit.“ Frieda zieht die Schultern hoch. „Jetzt schleppe ich das eben mit mir herum. Was soll man machen?“

Buß- und Bettag: Gott sieht mich. Und ich frage mich, wie er mich wohl sieht, dieser alte Bekannte.
Was mag Gott zu dem sagen, was ich mit mir herumtrage? All die unangenehmen Erinnerungen, an denen ich manchmal so schwer trage.
Die schönen Erinnerungen, die sind ja für die Feiertage. Die hole ich an Festtagen hervor und reiche sie wie Schätze herum. Die würde ich ihm gern zeigen. Doch leider habe ich sie gerade nicht dabei.
Nur die unangenehmen Erinnerungen, die habe ich immer bei mir. Ich schleppe sie mit mir herum, wo ich gehe und stehe. Manchmal vergesse ich das ganz.
Aber Gott stößt mich darauf. Auf die kleinen und großen Verletzungen, die schmerzen; und auf die schlimmen und weniger schlimmen Verfehlungen, die so schwer wiegen.
Ich schleppe sie mit mir herum, weil ich nicht weiß, was ich sonst damit machen sollte. Aber Gott hat eine Idee, erzählt Susanne Niemeyer:

Gott nickt, als wisse er genau, was Frieda meint. „Darf ich?“, fragt er noch einmal.
Vielleicht fasst sie Vertrauen zu ihm, denn er hat sanfte Augen, jedenfalls gibt sie auch die restlichen Tüten eine nach der anderen ab. Bis sie da steht mit leeren Händen. Aber leicht, sehr leicht. Wie Flügel heben sich ihre Schultern.
Gott lächelt ihr noch einmal zu, und dann geht er davon.

Buß- und Bettag: Ich merke, was ich mit mir herumtrage. Ich merke es in dem Augenblick, in dem ich es aus der Hand gebe. In dem Gott es mir abnimmt.
Wie schwer etwas ist, das merke ich ja oft erst, wenn ich es nicht mehr tragen muss. Je schwerer etwas ist, umso erleichterter bin ich, wenn ich es los bin.
Vorher macht es den Schritt schwer und zieht die Mundwinkel nach unten. Wenn ich ehrlich zu mir selber bin, verdunkelt es auch die Seele und macht das Herz traurig.
Aber eigentlich mag ich nicht darüber nachdenken. Und noch weniger, es mir und anderen eingestehen.
Beichten, hieß das früher einmal, und Buße tun. Das klingt schwer und unangenehm. So unangenehm, dass schwere Tüten zu tragen an einem Novembertag immer noch angenehmer scheint.
Es sei denn, es kommt plötzlich dieses neue Gefühl von Freiheit. Weil ich das Schwere, an dem ich trage, los werde.
Plötzlich wird das steinerne Herz weich und in die Seele fällt ein neues Licht. Der Mund beginnt zu lächeln und aus dem schlurfenden Schritt wird ein Tanzschritt.
Und das nur, weil mir am Buß- und Bettag Gott, dieser alte Bekannte entgegentritt und die Tüten eine nach der anderen aus der Hand nimmt. Darf der das so einfach?
Er macht es einfach, erzählt Susanne Niemeyer:

Aber“, ruft Frieda, „Sie können doch nicht … Was wird denn mit den schweren Sachen?“
Schon gut“, ruft Gott, bevor er hinter der nächsten Ecke verschwindet. „Ist schon gut. Vergessen Sie's!“

Buß- und Bettag: Gott verschwindet hinter der nächsten Ecke mit dem, woran ich eben noch schwer getragen habe.
Vergessen kann ich das nicht. Will ich auch nicht. Zu sehr freue ich mich darüber, dass er mich gefunden hat.


Die Geschichte von Frieda und Gott findet sich in dem wunderbaren Buch: Susanne Niemeyer, Mut ist ... Kaffeetrinken mit der Angst.

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