Vor dem Festsaal


Der Tod ist eingetreten, sagt man. Ärzte bestimmen so den Todeszeitpunkt.  Schwarz auf weiß wird er auf der Sterbeurkunde festgehalten: 23 Uhr 37. Sachlich soll das klingen.
Der Tod ist eingetreten. Viele von euch haben das in den vergangenen zwölf Monaten erlebt. Jede und jeder hat es auf eine eigene Weise erfahren.
Manche haben damit gerechnet, dass es irgendwann so weit sein könnte. Und plötzlich und unerwartet wurde aus dem Irgendwann ein Jetzt.
Andere traf das Erschrecken aus dem Nichts. Von einem Augenblick auf den anderen war alles anders und das Leben zu Ende und aus den Fugen geraten.
Wieder andere haben gewartet. Am Sterbebett haben sie gesessen und die Hand gehalten und auf den Atem gelauscht, bis er still stand.
Der Tod ist eingetreten, sagt man. Nie erlebe ich das so abgeklärt, wie es klingen soll. Auch wenn ich den Abschied erwarte, schneidet er mir tief ins Herz.
Auch wenn ich im Rückblick sage, es war an der Zeit, war es doch zu früh. Auch wenn ich mich äußerlich und innerlich vorbereiten konnte, wirft es doch alles durcheinander, wenn einer stirbt.

Der Tod ist eingetreten. Ich kann mir das auch bildhaft vorstellen: Da kommt tatsächlich einer und klopft an. Bei den einen ganz zaghaft und vorsichtig. Polternd, als wollte er die Tür einschlagen, bei den anderen.
Er öffnet die Tür. Hier reißt er sie auf und stürmt hinein. Dort drückt er leise die Klinke herunter, tritt auf Zehenspitzen ein.
Einen Augenblick nur bleibt der Tod. Dann nimmt er das Leben in seine Hand und geht mit ihm davon. Das Leben folgt ihm.
Manchmal bereit und willig, weil es satt ist und müde nach dem Schweren und Schönen, das es durchschritten hat. Manchmal widerstrebend, weil noch so viel zu erleben wäre.
Aber immer weiß es: Es gibt kein Bleiben, wenn der Tod eintritt. Er nimmt das Leben mit sich.
Hinter ihnen fällt die Tür ins Schloss. Manchmal schlägt der Tod sie krachend zu, manchmal zieht er sie sachte ran. Aber immer, wirklich immer ist und bleibt sie verschlossen.
Ich kann aufspringen und an ihr rütteln. Ich kann einen Schlüssel nach dem anderen ins Schloss stecken. Ich kann die Tür stundenlang anstarren. Sie bleibt verschlossen.

Der Tod ist eingetreten, sagt man. Ich kann mir bildhaft vorstellen, wie er eintritt und das Leben mit sich nimmt.
Ich kann mir aber auch vorstellen, dass jemand anderes eintritt und das Leben bei der Hand nimmt.
Gemeinsam warten die Brautjungfern. Sie warten, dass das Hochzeitsfest beginnt. Sie warten auf den Bräutigam.
Es gab Zeiten, da haben Menschen tatsächlich so gewartet wie die Brautjungfern auf den Bräutigam. „Ach komm, führ uns mit starker Hand / vom Elend zu dem Vaterland.“ (O Heiland, reiß die Himmel auf, Evangelisches Gesangbuch 7,6)
Sie haben auf den Tod gewartet und eben nicht auf den Tod. Sie haben auf den Bräutigam gewartet, der sie mit hinein nimmt in den Festsaal.
Da wollen wir all danken dir, / unserm Erlöser, für und für; / da wollen wir all loben dich / zu aller Zeit und ewiglich.“  (O Heiland, reiß die Himmel auf, Evangelisches Gesangbuch 7,7)
Sie haben auf den Tod gewartet und doch nicht auf den Tod. Weil jenseits des Todes das Hochzeitsfest beginnen würde, nach dem sie sich sehnten.
Die Menschen haben sich verändert. Die Welt hat sich verändert. Wer sieht sie noch als Jammertal? Wir feiern das Leben. Wir feiern es heute. Glückselig wollen wir jetzt sein. Nicht auf die Ewigkeit kommt es an. Der Augenblick zählt.
Das ist auch gut so: Wir haben nur dieses eine Leben. Es ist ein Geschenk. In ihm erfahren wir Glück. Auch wenn wir manchmal unglücklich sind: Auf dem Leben liegt Segen.

Doch der Bräutigam verspätete sich“, erzählt Jesus. „Die Brautjungfern wurden müde und schliefen ein.
Womöglich haben sie lange einander vorgeschwärmt, mit wem sie tanzen würden auf dem Fest. Aber dann wurden sie immer leiser und einer nach der anderen fielen die Augen zu.
Wir schwärmen nicht vom Tod. Aber wir reden von ihm. Wir fragen die Konfirmandinnen zu Beginn eines Kurses, welches Thema sie besonders interessiert. Immer ist es die Frage nach Sterben und Tod und dem, was dann kommt.
Und ihr habt ja recht: Die eine oder der andere von euch muss gerade im Konferjahr den Schmerz aushalten, dass jemand stirbt, der euch nah ist. Die selbstverständlichen Antworten aus Kindertagen tragen nicht mehr.
Wir Erwachsenen versuchen ja gerade Kinder vom Thema Tod fernzuhalten. Weil sie das doch nicht verstehen. Oder weil uns die Worte fehlen, ihnen und uns Sterben und Tod zu erklären.
Dabei gehört zum Leben doch immer auch der Tod. Das erfahren Erwachsene, das erfahren auch Kinder. Wir kommen am Tod nicht vorbei.
Da ist es wichtig, dass das Sterben auf der Insel noch seinen Platz im Leben hat. Auch wenn einer gestorben ist, ist er zunächst noch da.
Viele von euch sind mit den Verstorbenen noch einmal über die Insel gefahren, vorbei an den Orten ihres Lebens. Viele von euch haben in der Trauerhalle ihre Hand, ihr Gesicht gestreichelt.
Immer wieder scheint es, als würden die Verstorbenen ruhig schlafen.

Wenn der Bräutigam da ist, kann das Hochzeitsfest beginnen. Schnell sind die Brautjungfern wach. Aber nur die einen Fünf von ihnen feiern das Fest. Die anderen Fünf bleiben draußen vor der Tür.
Es fühlt sich schrecklich an, das zu erleben: Vor der Tür zu stehen, die der Tod zuschlägt. Er trennt uns von denen, die zu uns, zu denen wir gehören.
Traurig macht das und müde. Als würde das eigene Lebenslicht zu flackern beginnen, weil ihm das Öl fehlt.
Der Alltag wird merkwürdig fremd, das tägliche Tun und Lassen schal, der Abend leer und dunkel.
Wie gut, wenn dann eine vorbeikommt und etwas Öl mitbringt, um meine Fackel wieder zum Leuchten zu bringen.
Vielleicht hat sie einen Kuchen dabei und ein oder zwei Nachmittagsstunden Zeit. Sie wartet, worüber ich reden will.
Wenn mir danach ist, frage ich nach dem, was gerade im Dorf oder auf der Arbeit geschieht.
Vielleicht tut es mir auch gut, von dem zu erzählen, was mich gerade bewegt. Womöglich schauen wir auch einfach nur zu, wie die Novembersonne tief in den Föhrer Nachmittag scheint.
Wenn sie dann geht, lässt sie ein wenig von ihrem Alltag da. Und ich finde wieder in meinen Alltag hinein. Auch wenn er anders wird und in ihm immer eine Leerstelle bleibt.

Die anderen Brautjungfern“, erzählt Jesus, „gingen mit dem Bräutigam zu dem Haus, wo die Hochzeit gefeiert wurde.
Sie stehen im Festsaal und beklatschen Bräutigam und Braut beim Eröffnungstanz und tanzen selber in den neuen Morgen hinein.
Dieses Fest ist ein Traum. Nur ein Traum, sagen manche. Aber ich träume ihn gern. Für alle, die gestorben sind, und für jeden ganz besonders.
Der Bräutigam tritt ein und holt sie ab. Er reicht ihnen die Hand und nimmt sie mit. Er will sie dabei haben bei seinem Fest, das lang und ewig dauert.
Mich tröstet das, wenn ich an die Menschen denke, die mir fehlen. Sie sind an einem guten Ort, dort, jenseits des Todes, auf der anderen Seite der Tür, die sich hinter ihnen geschlossen hat.
Daran halte ich mich auch, wenn ich an mein Sterben denke: Der dann eintritt und mich abholt zum Fest, wird Gott sein. Dann sehe ich ihn von Angesicht zu Angesicht und wenn er mich auffordert, tanze auch ich mit ihm.

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