Über Mauern und Zäune

Zwei Pressekonferenzen, die Geschichte schreiben. Die eine am 15. Juni 1961. Die andere am 9. November 1989.
„Niemand hat die Absicht eine Mauer zu bauen“. Das sagt Walter Ulbricht auf der ersten Pressekonferenz. Zwei Monate später wächst in Berlin die Mauer, werden quer durch Deutschland Zäune errichtet.
„Das tritt nach meiner Kenntnis... ab sofort, unverzüglich.“ Das sagt Günter Schabowski auf der zweiten Pressekonferenz. Und meint damit die neuen Reiseregelungen, die es DDR-Bürgern erlauben, Anträge auf Auslandsreisen zu stellen. Kurze Zeit später heben sich in Berlin und quer durch Deutschland die Schlagbäume.
28 Jahre und ein paar Monate liegen zwischen diesen beiden Pressekonferenzen. 30 Jahre liegt die zweite inzwischen zurück: Die Mauer steht länger offen, als sie gestanden hat.
Wir pendeln immer mal ins Mecklenburgische. Weil Kirsten von dort kommt und ihre Mutter immer noch in Boizenburg lebt. Weil meine Eltern im Ruhestand aus dem Hessischen an den Plauer See gezogen sind. Weil wir fast zwanzig Jahre in Rostock und im Klützer Winkel gemeinsam gelebt haben – die Ostdeutsche und der Westdeutsche, die 1993 in Berlin ein deutsch-deutsches Paar wurden.
Nur noch ein großes braunes Schild an der A20 weist auf die ehemalige Grenze quer durch Deutschland und Europa hin. Kirsten und ihre Schwestern konnten als Kinder nicht verstehen, dass es diese Grenze gibt. Unsere Kinder verstehen nicht, dass es überhaupt eine Grenze geben musste.
Wozu sind die da, Grenzen und Mauern?
Die geschichtliche Antwort lautet mit den Worten der Partei, die immer Recht haben wollte: als antifaschistischer Schutzwall.
Diejenigen, die sie beschlossen und bauten, dachten womöglich tatsächlich: Die Mauer durch Berlin und der Zaun durch Deutschland sind ein Schutz.
Ein Schutz des Eigenen. Ein Schutz, für das, was man errichtet und erreicht hat. Ein Schutz vor denen, die es zerstören wollen. Ein Schutz vor denen auf der anderen Seite.
Einerseits. Andererseits: Schon ein Jahr vor dem Mauerbau galt für die Grenzsoldaten ein Schießbefehl – gegen die Menschen, die die DDR verlassen wollten. 1971 wurden dann die ersten Selbstschussanlagen gebaut, die ins Landesinnere gerichtet waren.
Das machte todsicher, wozu Mauer und Grenzzaun da waren: Um die jenseits der Grenze davon abzuhalten, in das Land zu kommen. Und um die diesseits der Grenze davon abzuhalten, das Land zu verlassen.
Also: Um die auszusperren, die draußen waren. Und um die einzusperren, die drinnen waren.

Die Rede vom antifaschistischen Schutzwall wirkte schon damals absurd. Heute klingt sie grotesk: Wie kann man auf die Idee kommen, eine Mauer durch eine Stadt zu bauen und einen Zaun um ein ganzes Land zu ziehen?
Niemand würde heute, eine, zwei Generationen später, so etwas Irrsinniges tun.
Ein Zaun, um Wildschweine davon abzuhalten, über eine Grenze zu wechseln? Det gør vi ikke!
Eine Mauer, um Menschen davon abzuhalten, aus Mexiko in die Vereinigten Staaten von Amerika zu kommen? Doch nicht im Land der unbegrenzten Möglichkeiten!
Ein Schutzwall, um das Abendland vor dessen Islamisierung zu retten? Das wird kein Patriot fordern!
Oder doch? Angela Merkel wird ja tatsächlich die Grenzöffnung vorgeworfen. Nicht die aus dem Jahr 1989. Sondern die aus dem Jahr 2015.
„Wir schaffen das!“, sagte sie da und meinte, dass ein reiches und großes Land wie Deutschland es schaffen kann, schaffen muss, Menschen zu helfen, die vor einem Krieg fliehen. Und öffnete die Grenzen.
Aber Halt, das ist falsch: Die Grenzen wurden nicht erst geöffnet, die waren schon offen. Und sie blieben es. Das ist der Vorwurf: Dass das ganze Deutschland seit 1989 offene Grenzen hat. Und sie bewahrt.
Dagegen stellt sich die Forderung, die Grenzen zu schließen. Womöglich mit den Worten: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen. Aber wir brauchen einen antiislamischen Schutzwall.“
Ich finde das absurd. Ich finde das grotesk.

Ich finde das gefährlich. Wer nach außen Mauern bauen will, der errichtet noch viel schneller Zäune im Inneren.
Der 9. November erzählt ja nicht nur von der Mauer, die fällt. Er erzählt auch von den Zäunen, die hochgezogen werden. 1938 werden in der Nacht zum 10. November jüdische Geschäfte zerstört, Synagogen in Brand gesteckt.
Davor schon und erst recht danach werden Menschen hinter Zäunen und Stacheldraht in Ghettos und Lagern weggesperrt. Weil sie anders glauben, leben, denken, als es denen gefällt, die die Macht haben. Auch die Macht und den Hass dazu, Menschen millionenfach umzubringen.
Die Macht ist längst Geschichte. Der Hass ist es nicht. Der Hass, der damals Zäune und Gaskammern ersonnen und gebaut hat, ist immer noch da. Der Hass gegen Menschen, die anders glauben und leben und denken, als es dem Hasser gefällt.
Und es hat den Anschein, dass die Hasser ihren Hass immer lauter heraus brüllen und in die Ohren derer, denen ihr Hass gilt. Und auch, dass sie ihrem Hassgebrüll immer öfter Hasstaten folgen lassen.
Ach, wenn man diesen Hass doch mit Mauern umgeben und ihn einzäunen könnte.
Aber selbst wenn: Auch dann hätte der Hass gewonnen. Denn man würde doch nur selber anfangen, Mauern zu bauen und Zäune zu errichten. Anstatt sie einzureißen und zu zerschneiden.

Der 9. November 1938 zeigt einen Schritt, wie es dazu kam, Zäune aus Hass zu ziehen. Vom 9. November 1989 kann man lernen, wie es gelingt, eine Mauer einzureißen.
Wir waren auf alles vorbereitet, außer auf Kerzen und Gebete.“ Ein Stasioffizier sagt das, allerdings ist er nur eine Figur im Roman „Nikolaikirche“ von Erich Loest.
In der politischen Wirklichkeit sagte 1990 der einstige Volkskammerpräsident Horst Sindermann in einem Interview mit dem Spiegel:
Der gewaltfreie Aufstand passte nicht in unsere Theorie. Wir haben ihn nicht erwartet, und er hat uns wehrlos gemacht.
30 Jahre später erklärt der frühere Bischof Axel Noack in einem Interview mit der Zeitschrift „Chrismon“: „Die Revolution wäre sicherlich auch ohne die Kirche gekommen. Aber die Kirche und ihr jahrelanges Engagement für den Frieden haben wesentlich dazu beigetragen, dass sie friedlich blieb.
Und noch ein Zitat: „Glückselig sind, die Frieden stiften. Denn sie werden Kinder Gottes heißen.“ Worte aus der Bergpredigt von Jesus sind das. 

Mit Kerzen und Gebeten also, ohne Gewalt, mit Frieden – so bringt man eine Mauer zum Einsturz, so öffnet man Schlagbäume.
Wer Kerzen in die Hand nimmt, der wird vorsichtig. Langsam muss er sich bewegen, weil das Licht flackert und schnell erlöschen kann.
Freiheit und Gerechtigkeit sind wie ein Kerzenlicht. Sie flackern, sie brauchen den Schutz einer Hand, damit sie weiter brennen. Aber wenn sie scheinen, funkelt ihr Licht – und ihr Schein liegt auch auf dem Gesicht des anderen.
Wer Gebete spricht, der sammelt sich. Der schaut auf das, was ihn unbedingt angeht, was ihm heilig ist. Er will, dass es bewahrt bleibt.
Aber dass es bewahrt bleibt, das legt er in Gottes Hände. Wer betet, vertraut sich und sein Wollen Gott an. Und der muss damit rechnen, dass Gott anders will als er selbst.
Wer eine Kerze in der Hand hält und ein Gebet im Herzen trägt, der verzichtet auf Gewalt.
Weil er das Licht der Kerze auf dem Gesicht des Gegenüber sieht. Und weil er seinen Willen nicht mit Gottes Willen verwechselt.
Und damit überrascht er den anderen. Denn nach der Logik des Hasses ist das Gesicht des anderen verdunkelt. Und nach der Logik des Hasses darf man sein Recht mit Gewalt durchsetzen. Wenn einer nicht nach dieser Logik handelt, kommt der Hass aus dem Gleichgewicht.
Wer so Frieden stiftet, der ist glückselig. Denn er wird Gottes Kind heißen.
Auf Gottes Kindern liegt Segen. Wie ein Arm, der sich dir um die Schultern legt, ein lächelnder Blick, der dir in die Augen schaut. Eine Stimme, die dir ins Ohr spricht: Du kannst das!
Und Gottes Kinder werden ein Segen sein, der Leben bringt: Eine Hand, die sich um eine Faust legt. Ein Flüstern, das Gebrüll übertönt. Ein Traum von Frieden, der wirklich wird.

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