Gott ist so frei

Am Anfang war die Neugier:

Mose aber hütete die Schafe Jitros, seines Schwiegervaters, des Priesters in Midian, und trieb die Schafe über die Wüste hinaus und kam an den Berg Gottes, den Horeb.
Und der Engel des Herrn erschien ihm in einer feurigen Flamme aus dem Dornbusch. Und er sah, dass der Busch im Feuer brannte und doch nicht verzehrt wurde. Da sprach er: Ich will hingehen und diese wundersame Erscheinung besehen, warum der Busch nicht verbrennt.

(2. Mose 3,1-3 -- Lutherbibel 2017)

Am Anfang war die Neugier. Mose ist neugierig. Er will sehen, was da geschieht. Auch wenn er womöglich seinen Augen nicht traut: Ein Dornbusch, der in Flammen steht und nicht verbrennt. Was verbirgt sich dahinter?
Am Anfang war die Neugier. Sie war neugierig. Sie wollte wissen, was da geschieht. Sonntag für Sonntag läuteten die Glocken. Viele Menschen gingen hinein in das Haus. Was sie dort machten, hieß Gottesdienst. Aber was war das?

Als aber der Herr sah, dass er hinging, um zu sehen, rief Gott ihn aus dem Busch und sprach: Mose, Mose! Er antwortete: Hier bin ich.
Er sprach: Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land! Und er sprach weiter: Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. Und Mose verhüllte sein Angesicht; denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen.
Und der Herr sprach: Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen, und ihr Geschrei über ihre Bedränger habe ich gehört; ich habe ihre Leiden erkannt. So geh nun hin, ich will dich zum Pharao senden, damit du mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten führst.

(2. Mose 3,4-7.10 -- Lutherbibel 2017)

Mose geht hin zum Dornbusch. Er findet heraus, was es damit auf sich hat. Mehr noch: Er wird ergriffen. Gott greift nach ihm. Er greift hinein in sein Leben. Geh zu meinem Volk. Ich gehe mit dir. Und Mose?
Sie geht hin, am nächsten Sonntag, als wieder die Glocken läuten. Sie setzt sich zu den Leuten in die Kirche. Sie hört die fremden Melodien und die fremden Worte. Sie betet. Sie wird ergriffen. Gott greift hinein in ihr Leben. Vertraue mir. Ich gehe mit dir. Und sie?

Mose sprach zu Gott: Siehe, wenn ich zu den Israeliten komme und spreche zu ihnen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt!, und sie mir sagen werden: Wie ist sein Name?, was soll ich ihnen sagen?
Gott sprach zu Mose: Ich werde sein, der ich sein werde. Und sprach: So sollst du zu den Israeliten sagen: »Ich werde sein«, der hat mich zu euch gesandt.

(2. Mose 3,13-14 -- Lutherbibel 2017)

Mose tritt wieder einen Schritt zurück: Ich sehe den Dornbusch. Ich höre Gott. Aber wenn ich davon erzähle: Wer wird mir glauben, was ich sehe und er nicht sieht? Wer wird dem Glauben schenken, den ich gehört habe und er nicht hört?
Sie tritt vor die Kirche: Ich habe die Melodien gehört und die Worte. Ich habe gebetet, mit dem barmherzigen Gott gesprochen. Welch merkwürdig schönes Wort: barmherzig. Was soll ich davon zuhause erzählen? Wer wird mir glauben? Wer wird mir Glauben schenken?

Am Anfang des Glaubens steht ein heiliger Augenblick. Manchmal ist es ein brennender Dornbusch. Oft ist es sehr viel bescheidener, alltäglicher.
Du bist das erste Mal in einer Kirche. Einfach nur so, mal schauen. Aber du kannst die Stille hören und das, was die Menschen hier über Jahrhunderte getröstet hat und froh gestimmt hat und glücklich gemacht hat.
Oder du gehst unter der Weite des Sternenhimmels spazieren, die Schritte knirschen im Schnee, und du weißt: Du bist aufgehoben und hast deinen Platz in dieser weiten Welt.
Oder du kniest vor dem Altar und spürst die Hände auf dem Kopf, die dich segnen, und eine Kraft rieselt dir über den Rücken und du weißt: Gott ist bei dir, du lebst in seinem Segen.
Aber was sollst du, kannst du anderen davon erzählen? Wer wird dir glauben? Wer wird dir Glauben schenken?

Wenn ich von der Wahrheit erzähle, die mein Leben ausmacht, begebe ich mich in Gefahr. Ich setze mich den anderen aus. Was, wenn sie lachen: Du spinnst, Gott gibt es nicht!?
Ich setze mich mir selber aus. Was ich erlebt habe, war so einmalig – wenn ich davon erzähle, klingt es so banal und schal. War da was?
Halte ich das aus, mich und die Wahrheit, die mein Leben ausmacht, so aufs Spiel zu setzen?
Am Ende könnte ich mich getäuscht haben: Da waren kein brennender Dornbusch, keine Sterne, kein Segen. Alles nur eingebildet?!
Also schweige ich lieber von der Wahrheit, die mein Leben ausmacht. Ich verberge sie tief in mir selbst hinter einer Tür mit sieben Schlössern. Nur hin und wieder gehe ich sie dort heimlich besuchen.

Andere Menschen schreien ihre Wahrheit laut heraus. Um ihre eigenen Zweifel zu übertönen. Mit jeder Frage, die andere ihnen stellen, werden sie lauter.
Man sagt, jeder Glaube, jede Religion stehe in der Gefahr, diesen Weg zu gehen. Am Anfang stehen die Neugier und der heilige Augenblick: Gott ist da und Gott ist nah.
Der Augenblick vergeht. Was bleibt und immer wieder hervorgeholt wird, ist die Erinnerung. Von ihr wird erzählt. Jedes Mal ein wenig anders, aber doch auch gleich.
Irgendwann schreibt einer auf, was erinnert werden soll – und zwar genau so. Als würde einer den heiligen Augenblick auf Papier bannen, damit er nicht wegläuft.
Das Papier wird immer dicker. Glaubenssatz wird unablässig an Glaubenssatz gefügt. Einen ganzes Haus entsteht auf diese Weise: So müsst ihr glauben und nicht anders. Das Haus wird dem Glauben zum Gefängnis.
Irgendwann geht es nur noch um die Macht. Es geht nicht mehr um den heiligen Augenblick, nicht mehr um Gott. Es geht nur noch darum, dass der andere sich unterwirft.
Die Wahrheit, die das Leben ausmacht, ist da längst in dem Gefängnis verkümmert, in das sie eingesperrt wurde. Und mit ihr ist das Vertrauen gestorben, dass es überhaupt eine Wahrheit geben könnte, die das Leben trägt.

Wer wird mir glauben? Wer wird mir Glauben schenken? Mose stellt die Frage Gott. Und Gott verrät Mose seinen Namen.
„Ich werde sein, der ich sein werde. So sollst du sagen: 'Ich werde sein', der hat mich zu euch gesandt.“
Nomen est omen. Der Name ist ein Zeichen. Wer den Namen kennt, der kennt den Menschen. Gilt auch: Wer Gottes Namen kennt, der kennt Gott?
Ich bin der Gütige. Ich habe euch alle lieb. Oder Ich bin der Gerechte. Ich richte euch nach euren Taten. Das wären  Namen, die ein eindeutiges Zeichen abgeben.
Sie versprechen: So und nicht anders ist Gott. Aber „Ich werde sein, der ich sein werde“?
Gott verweigert das eindeutige Zeichen. Sein Name sprengt jede Mauer, hinter der ich ihn einsperren will. Ich kann Gott nicht festlegen. Ich kann über ihn nicht verfügen.
Gott ereignet sich. Er begegnet mir. Ich begegne ihm. Mal so, mal anders. Dass er es ist, weiß ich erst, wenn ich vor ihm stehe. Vorher habe ich vielleicht eine Ahnung.
Dass er es ist, weiß ich nur, wenn ich ihm begegne. Nachher habe ich vielleicht eine Erinnerung.
Gott bleibt beständig der Ganz Andere. Anders als meine Ahnung, anders als meine Erinnerung. Er schenkt sich, wann er will und wie er will und wem er will. Er bleibt er selbst. Der, der er sein wird.
Gott ist so frei, der z werden, der er sein wird. Das macht mich frei.

Es gibt nicht nur den einen Ort, an dem ich Gott finde. Es gibt nicht nur die eine Art, Gott zu vertrauen. Es gibt nicht nur die einen Worte, von Gott zu reden.
Das ist anstrengend. Ich muss immer wieder von neuem suchen. Nach einem Ort, an dem Gott mir nahe kommt. Nach dem Vertrauen, das meinen Glauben trägt. Nach den Worten, die etwas von der Wahrheit erzählen, die mein Leben ausmacht. Ich werde damit nicht fertig.
Das ist aber auch gut so. Weil Gott der wird, der er sein wird, kann ich Sonntag für Sonntag über Gott und den Glauben reden. Weil ich mich jeden Tag neu ins Abenteuer Glaube stürzen muss, kann ich erleben, das Vertrauen trägt. Weil Gott mich überraschen oder sogar erschrecken kann, kann ich heilige Augenblicke erleben.
Das schönste daran: Gott ist so frei, das zu tun: Mich zu überraschen. Immer wieder neu. Damit er für mich der wird, der er sein wird.

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