Zeig dich!

Stell dir vor, du wirst auf die Probe gestellt:
Vor zwei Wochen hast du in der Bücherei einer Angestellten ordentlich die Meinung gesagt.
Du fandest sie schon immer unangenehm rechthaberisch. Nun wollte sie dir ein Buch in Rechnung stellen, das du längst abgegeben hattest – dachtest du. Bis due es gestern unter deinem Sofa entdeckt hast.
Was machst du? Gibst du das Buch ab und tust so, als sei nichts geschehen? Oder gibst du das Buch ab und bittest sie um Entschuldigung? Oder bittest du jemand anderen, das Buch für dich abzugeben?

„Zeig dich! Sieben Wochen ohne kneifen.“ So ist die Fastenaktion der evangelischen Kirche in diesem Jahr überschrieben.
Auf unserer Insel muss man daran erinnern: Am Montag und Dienstag war Fasching. Dann kam der Aschermittwoch. Und heute haben wir den ersten Sonntag der Fastenzeit.
„Eigentlich bin ich ganz anders. Ich komme nur so selten dazu“, sagt Ödon von Horvath. Ich füge hinzu: Aber jetzt, in diesen Wochen bis Karfreitag, wäre die Gelegenheit, mal eigentlich und ganz anders zu sein.

Paulus schreibt nach Korinth und vielleicht auch an uns:
Als Mitarbeiter Gottes bitten wir euch aber auch: Sorgt dafür, dass die Gnade Gottes, die ihr empfangen habt, nicht ohne Wirkung bleibt. Denn Gott spricht: »Zu der Zeit, als ich dir Gnade schenkte, habe ich dich erhört. Am Tag der Rettung bin ich dir zu Hilfe gekommen.« Seht doch! Jetzt beginnt die Zeit, in der Gott Gnade schenkt. Seht doch! Jetzt ist der Tag der Rettung.
(2. Korinther 6,1-2)

Ich habe mit Absicht gesagt: in diesen Wochen bis Karfreitag. Meistens haben wir ja Ostern im Blick. In Gedanken sind wir  schon aus dem Winter heraus und im Frühling angelangt.
Aber der Weg, den wir jetzt an den Sonntagen gehen, der führt Jesus erst einmal in die Kälte hinein. Eisig beißt der Wind, der ihm aus dem Osten ins Gesicht fährt.
Die Passionszeit ist kein Triumphzug, sie ist ein Leidensweg. Dabei könnte Jesus einen anderen Weg gehen. Er könnte kneifen.
Oder auf den Versucher hören, der ihm die ganze Welt und noch viel mehr verspricht. Wenn er nur den leichteren Weg nimmt. Aber Jesus wählt den schwereren Weg. Den Weg, den Gott ihm weist.
Am Anfang dieses Weges dienen ihm die Engel und bringen ihm Brot. „Jetzt beginnt die Zeit, in der Gott Gnade schenkt“, schreibt Paulus.
Das klingt verrückt: Gnade – wäre das nicht das, was der Teufel verspricht: Nie Hunger nach Leben, sondern immer Brot die Fülle. Kein Stein, über den ich stolpere, sondern immer auf den Händen getragen werden. Nie etwas erleiden oder ertragen müssen, sondern über die Welt herrschen?
Nein, höre ich Paulus sagen, Gnade beginnt dort, wo du nicht kneifst. Gnade findest du dort, wo du den schweren Weg gehst. Wo du Leid trägst und stolperst und dich sehnst. Zeig dich!

Stell dir vor, du wirst wieder auf die Probe gestellt: Eine sehr gute Freundin von dir feiert bald Geburtstag. Du bist nicht eingeladen. Sie sagt dir am Telefon: Du weißt doch, wie wenig Platz wir haben. Das nimmst du mir doch nicht krumm! Wie antwortest du?
Sagst du: Ehrlich gesagt, dass trifft mich schon! Oder etwas verschnupft: Nee, ist doch kein Problem! Oder betont fröhlich: Überhaupt nicht! Was machst du denn zu essen?
Was ist der schwerere Weg? Der Freundin zu sagen, was ich empfinde? Oder der Freundin ein schönes Fest zu wünschen? Was hieße hier: Zeig dich!?

Paulus schreibt:
Wir beweisen in jeder Lage, dass wir Gottes Diener sind: Mit großer Standhaftigkeit ertragen wir Leid, Not und Verzweiflung.
Man schlägt uns, wirft uns ins Gefängnis und hetzt die Leute gegen uns auf. Wir arbeiten bis zur Erschöpfung, ohne zu schlafen oder zu essen.
Wir achten auf einen einwandfreien Lebenswandel, Erkenntnis, Geduld und Güte, den Heiligen Geist und aufrichtige Liebe.
Wir achten außerdem auf die Wahrheit unserer Verkündigung und die Kraft, die von Gott kommt.
Wir erfüllen unseren Auftrag – mit den Waffen der Gerechtigkeit, die Gott uns in die rechte und die linke Hand legt. Wir erfüllen ihn – gleichgültig, ob wir dadurch Herrlichkeit gewinnen oder Schande, ob wir verleumdet werden oder gelobt.

(2. Korinther 6,3-8a)

Paulus kneift nicht. Er erträgt, was er ertragen muss. Er geht den Weg, auf den anderen ihn drängen. Er stellt sich den Mobbern und dem shitstorm.
Paulus zeigt sich. Er wählt, was Gott ihm hinhält. Er geht den Weg, den Gott ihm zeigt. Er will das Böse mit Gutem  überwinden. Er will sagen, was ihm Gott in den Mund und ins Herz legt, auch wenn es anderen als Torheit und Ärgernis aufstößt.
Paulus beweist in jeder Lage, dass er Gottes Diener ist. Wem auch immer er es beweist: Gott oder sich selber. Oder anderen und also auch uns.
Auf alle Fälle sind seine Schuhe mir ein paar Nummern zu groß. Ich könnte in ihnen nicht laufen. Ich bin froh, dass ich es nicht tun muss.
Aber ich möchte etwas lernen von Paulus. Ich möchte von ihm lernen, Gottes Diener zu sein.
Ich ahne, dass ihm das hilft, nicht zu kneifen: Er ist Gottes Diener. Also: Was er tut, tut er nicht für sich.
Ich unterstelle: Wenn ich etwas für mich tue, gehe ich den leichteren Weg. Ich suche das, was mir angenehm ist, was Spaß macht, und weiche jedem Widerstand aus.
Es fühlt sich ein wenig so an, als würde ich nur zu einer Radtour aufbrechen, wenn mir jemand anhaltenden Rückwind aus allen Richtungen verspricht.
Aber Paulus hat ein Ziel, das er erreichen will. Es geht ihm nicht um Wind von hinten oder von der Seite. Es geht ihm um das Ziel, um Gott. Und dafür tritt er in die Pedale. Auch gegen den Wind.
Paulus dient Gott. Ich ahne, dass ihm das auch hilft, sich zu zeigen. Was er tut, tut er für Gott.
Ich unterstelle: Wenn ich etwas für Gott tue, dann schiebt mich das an. Dann kann ich auch den schwereren Weg auf mich nehmen. Gegen den Wind.
Es ist ein wenig wie Doping, allerdings erlaubtes: Das Epo, das meine roten Blutkörperchen bildet, heißt Gnade. Ich tue etwas für Gott, weil er schon längst etwas für mich getan hat. Ich diene ihm, weil er beständig mir dient.
Paulus zeigt sich, weil er das zeigen will: Seht her, Gott ist da. Ich habe es erlebt. Meine Kraft ist Gottes Kraft. Und die zeigt sich gerade dann, wenn ich am schwächsten bin und gegen den Wind kaum ankomme.

Stell dir vor, du wirst ein drittes Mal auf die Probe gestellt: Du bist im Supermarkt und siehst ein paar Regale weiter eine Bekannte stehen, die kurz vor Weihnachten ihren Mann bei einem Unfall verloren hat. Du hast sie seitdem noch nicht getroffen. Was machst du?
Begrüßt du sie und redest mit ihr über das Wetter und wartest, dass sie von selber über den Todesfall spricht? Oder gehst du weiter deinem Einkauf nach und nickst nur kurz, wenn eure Blick sich treffen? Oder gehst du zu ihr und sagst ihr, wie leid es dir tut und fragst sie, wie es ihr geht?
Meistens spürt man ja genau, was zu tun wäre – aber tut es trotzdem nicht. Gegen die erste Regung stehen sofort Ausreden auf, die sich als kluge Einwände tarnen.
Aber wie wäre es, wenn ich gleich tue, was zu tun ist? Dann habe ich die Hausaufgaben erledigt und hinterher frei.

Paulus schreibt:
Wir gelten als Betrüger und sagen doch die Wahrheit. Wir werden verkannt und sind doch anerkannt. Wir sind vom Tod bedroht, und seht doch: Wir leben!
Wir werden ausgepeitscht und kommen doch nicht um. Wir geraten in Trauer und bleiben doch fröhlich. Wir sind arm und machen doch viele reich. Wir haben nichts und besitzen doch alles!

(2. Korinther 6,8b-10)

Paulus hat den klugen Einwänden und geschickten Ausreden die Tür zugeschlagen. Er lässt sie den Raum nicht mehr betreten, in dem er mit seinem Leben und Gott und den anderen zusammensitzt.
Also kann er nicht mehr kneifen und muss sich zeigen. Er braucht nicht mehr zu kneifen und darf sich zeigen.
Paulus jedenfalls entdeckt die Gnade, die auf dem liegt, was er tut. Er sieht Gnade, wo er abgelehnt wird und ausgeschimpft und bedroht. Er spürt Gnade, auch wenn Körper und Seele schmerzen.
Die Gnade verwandelt, was ihm widerfährt. Gott verwandelt, was er erlebt. Das Dunkle beginnt zu Leuchten, in der Kälte blühen die ersten Winterlinge.
Es liegt Gnade auf der Fahrt gegen den Wind. Es liegt Gnade darauf, wenn ich vom leichten auf den schweren Weg abbiege. Es liegt Gnade darauf, nicht zu kneifen, sondern sich zu zeigen.
Gott zeigt sich – also kannst du dich zeigen. Du zeigst dich – also zeigt sich dir Gott.

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