Gemälde mit Paulus
Vielleicht gleicht das Leben, das einer
lebt, einem Gemälde. Du stehst davor und siehst es an wie ein
Gemälde in einem Museum.
Du siehst die Farben, hell und dunkel,
kräftig und matt. Du siehst die Formen, weich und scharf, kantig und
rund.
Du kannst das alles beschreiben, was du
siehst. Aber es fehlt ein Wort, ein Satz, der das Einzelne zu einem
Ganzen ordnet. Es fehlt eine Überschrift, ein Titel, der dir hilft,
dein Leben auszulegen.
Paulus kennt so ein Wort. Er hat es
einst gesagt bekommen – es ist ihm ins Herz gefallen und dort
geblieben:
Der Herr hat zu mir gesagt: »Du
brauchst nicht mehr als meine Gnade. Denn meine Kraft kommt gerade in
der Schwäche voll zur Geltung.« (2. Korinther 12,9)
Ich stelle mir vor:
Paulus hat sich einen Platz im Schatten
des Olivenhains gesucht. Die Hitze setzt ihm zu. Der Kopf pocht mit
jedem Schlag seines Herzens.
Er verkrampft. Schmerzen pulsieren
durch seinen ganzen Körper. Sie sind die Spuren dessen, was er in
den langen letzten Jahren erlitten hat.
Sie kommen aus der Kälte, die während
der Nächte im Freien in seine Knochen kroch. Sein Körper erinnert
sich an den Hunger und den Durst, den er an manchen Tagen litt.
In den Beinen stecken die Fußmärsche,
auf denen er durch das halbe römische Reich zog. Hinter jeder
Wegbiegung vermutete er Räuber, die ihn mit ihren Keulen erschlagen
würden.
Sein Nacken verspannt sich immer noch
aus Angst. Auch die Panik überfällt ihn wieder, die nach ihm griff,
als er eine endlose Zeit durch das Mittelmeer trieb, festgeklammert
an zwei Planken.
Er sieht noch einmal die hasserfüllten
Gesichter der Menschen, die mit Steinen nach ihm werfen. Er spürt,
wie sie ihn treffen, an Armen, Beinen und Rücken. Er hört, wie die
Rute zischt, und fühlt, wie es brennt, als ihn die Schläge des
römischen Soldaten treffen.
Manchmal wünscht er sich, der Tod
würde ihn von diesen Schmerzen erlösen. Jetzt, im Schatten unter
dem Olivenbaum, sinkt er wenigstens in einen unruhigen Dämmerschlaf.
Als Paulus wieder aufwacht, hat sich
eine kleine Wolke für einen Augenblick vor die Sonne geschoben. Ein
Lufthauch weht durch den Olivenhain.
Paulus hat den Angriff der
Schmerzattacke überstanden. Sein Körper entspannt sich. Hochgefühl
breitet sich in ihm aus und mit ihm ganz andere Erinnerungen.
Vierzehn Jahre sind sie alt und doch
ganz frisch. Auch damals suchte er den Schatten eines Olivenbaums und
rutschte in einen unruhigen Dämmerschlaf. Als er aufwachte hatte
sich der Hain in ein Paradies verwandelt.
Zuerst hatte er es gerochen. Ein
Geschmack lag in der Luft, der ihn an die Ankunft des Frühlings
erinnerte.
Dann hatte er es gesehen. Ein warmes
Licht lag zwischen den Bäumen, das geradewegs in sein Herz schien.
Schließlich hatte er es gehört. Es
war ein Gesang, der zugleich von außen kam und in ihm klang.
Als würde seine Seele schwingen. Er
genoss diese Melodie, er nahm das Licht begierig auf und sog die
Frühlingsluft ein. Dann schloss er die Augen.
Nach einer kleinen Weile machte er sie
wieder auf und saß auf kargem Boden unter dem Olivenbaum, geblendet
von der Sonne.
Aber der paradiesische Augenblick blieb
in ihm wach, bis heute. Manchmal wünscht er sich, er würde den Weg
zurück finden dorthin, in den dritten Himmel.
Paulus steht auf und klopft sich den
Staub ab. Er hat noch eine ganze Strecke vor sich, bis er sein Ziel
erreicht.
Titus, der Freund, hilft ihm auf den
Esel. Der eine wird ihn in die Stadt tragen. Mit dem anderen wird er
unterwegs Wasser und Datteln und Gedanken teilen.
„Wird es gehen?“, fragt ihn Titus,
als Paulus sich auf dem Eselsrücken zurechtsetzt. „Es wird“,
antwortet er.
„Ich bewundere deine Kraft, ich hätte
sie nicht so wie du“, sagt Titus und gibt dem Esel einen Klaps. Sie
laufen los.
Wortlos gehen sie voran, Paulus auf dem
Esel, Titus neben ihnen her.
„Weißt du, Titus“, bricht Paulus
irgendwann das Schweigen. „Weißt du, es ist ja nicht meine Kraft,
die ich habe. Das habe ich gelernt und erfahren in all den Jahren.
Aber weil ich weiß, dass ich keine Kraft habe, muss ich mich an
andere Kräfte halten. Du leihst mir deine Kraft, um auf den Esel zu
kommen, weil ich es mit meiner nicht schaffe. Und unser Herr leiht
mir seine Kraft, die Menschen in seinen Gemeinden zu sammeln, weil
ich es mit meiner Kraft nicht schaffe.“
„Das mache ich doch gern“,
entgegnet Titus. „Ich helfe dir gern auf den Esel und trage auch
gern deine Briefe zu den Gemeinden.“
„Das weiß ich, Titus“, sagt
Paulus. „Und ich lasse mir gern helfen. Von dir. Und von unserem
Herrn. Weißt du, mir geht da die ganze Zeit ein Satz durch den Kopf:
‚Du brauchst nicht mehr als meine Gnade. Denn meine Kraft kommt
gerade in der Schwäche voll zur Geltung.’“
„Ja“, sagt Titus, „ja, das haben
schon die Alten gesagt: Gott ist bei den Schwachen.“
„Ja, das auch“, antwortet Paulus,
„aber ich meine noch etwas anderes. Unser Herr kann mir seine Kraft
nur schenken, wenn ich selber keine Kraft habe. Solange ich selber
Kraft habe, verlasse ich mich auf mich selber. Wenn ich aber keine
Kraft habe, dann hat der Herr Raum, mit seiner Kraft in mir und durch
mich zu wirken.“
„Das soll einer verstehen“, sagt
Titus.
„Ja, das ist nicht zu verstehen, das
ist das Wunder der Gnade“, entgegnet Paulus. „Gerade wenn ich
schwach bin, bin ich stark. Denn wenn ich stark bin, rechne ich nicht
mit dem Herrn – und also bin ich schwach, weil ich auf mich selber
schaue. Bin ich aber schwach, öffne ich mich dem Herrn – und also
bin ich stark, weil er dann in mir wirkt. Das ist gegen alle
Erwartung, aber es ist meine Erfahrung und mein Glaube.“
Titus schaut Paulus an, dann sieht er
in die Ferne. Nach einem kurzen Zögern hebt er den Arm und zeigt auf
den Horizont.
„Sieh doch, Paulus“, sagt er, „da
sind die ersten Häuser. Wir haben es gleich geschafft.“
„Wir nicht“, sagt Paulus, „wir
nicht. Der Herr hat es für uns geschafft. Seine Kraft ist in uns
Schwachen mächtig.“ Über sein Gesicht huscht ein erleichtertes
Lächeln.
Paulus im Schatten des Olivenhains: Er
sieht auf sein Leben wie auf ein Gemälde.
Er sieht die himmlischen Szenen. Der
Augenblick, in dem er nicht von dieser Welt ist. Blaue, gelbe, grüne
Farbtöne. Formen, die ineinanderfließen.
Er sieht die erdenschweren Szenen.
Menschen, die ihn anfeinden. Gefahren, die nach ihm greifen. Scharfe
Formen, rote, orange, braune Farbtöne.
Er sieht auf sein Leben wie auf ein
Gemälde. Und er kennt den einen Satz, der ihm das Gemälde und sein
Leben auslegt:
Du brauchst nicht mehr als meine
Gnade. Denn meine Kraft kommt gerade in der Schwäche voll zur
Geltung.
Und er sucht in dem Gemälde, das ihm
sein Leben zeigt, nach den Spuren dieser Kraft. Er sucht nach der
Gnade – und er findet sie.
Ganz offenbar in den himmlischen Szenen
– und versteckt auch in den erdenschweren Szenen. Was er erst nicht
zusammenbrachte, zeigt sich ihm nun. Alle Formen, alle Farben zeigen
die Gnade, auf die ihn das Wort hinweist.
Wie ist es, wenn ich vor meinem Leben
stehe wie vor einem Gemälde?
Ich schaue es an und sehe anderes als
Paulus. Aber hier und da sind es doch ähnliche Farben und Formen.
Die Bilder berühren sich.
Ich sehe manches, an dem ich getragen
habe und immer noch trage, was Kraft kostet. Rote, orange, braune
Farbtöne, scharfe Formen.
Ich sehe anderes, das mich Lächeln
machte und immer noch ein Lächeln aufs Gesicht zaubert, was Kraft
gibt. Formen, die ineinander fließen. Blaue, gelbe, grüne Farbtöne.
Ich versuche es mit den Augen zu sehen,
mit denen Paulus auf sein Leben schaut. Ich suche nach der Gnade in
dem Gemälde.
Ich schaue anders auf das, was ich
erlebt habe, wenn ich es so tue. Wenn ich in dem, was ich erlebt
habe, nach den Farben und Formen suche, in denen sich die Kraft
Gottes zeigt.
Also schaue ich auf mein Leben. Und ich
versuche es neu zu deuten. Bei manchen Szenen werde ich sofort sagen:
„Ja, da kann ich Gott sehen und erkennen.“
Bei anderen werde ich erst einmal
sagen: „Da kann ich ihn nicht entdecken, da fehlt er.“ Aber ich
schaue noch einmal hin und noch einmal.
Bis ich ihn in allen Farben und Formen,
die mein Leben malen, entdecke und erkenne. Bis das Gemälde, dem
mein Leben gleicht, mir zeigt, was mich Kraft kostet oder mir Kraft
gibt.
Und bis es mir zeigt, wie Gott kräftig
gewesen ist in mir. Wie er da ist, wo ich denke, dass mich alle Kraft
verlässt. Und wie er da ist, wo ich meine, vor Kraft nur so zu
strotzen.
So schaue ich hin und entdecke nach
einer Weile in allem Gottes Gnade.
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