Schau über das Ende hinaus
Ein
Tag reiht sich an den anderen. Das gemeinsame Frühstück, die
Besorgungen im Haushalt am Vormittag, der Weg zur Arbeit, die
Mittagspause, die Tasse Kaffee am Nachmittag, das Puzzeln im Garten,
das Erzählen beim Abendbrot, das einverständige Schweigen, wenn es
dunkel wird.
Es
sind wunderbar alltägliche Tage, die wir mit einem geliebten
Menschen leben. Tage, die immer gleich bleiben sollen. Und plötzlich
ist alles anders.
Der
Tod bricht den Alltag ab, macht ihn leer und sinnlos. Den geliebten
Menschen, der eben noch da war, hat er mit sich genommen hat.
Plötzlich fehlt da einer an meiner Seite, der mein Leben teilt und
füllt.
Der
Tod eines Menschen, mit dem wir zusammengelebt haben oder der uns
trotz räumlicher Ferne nahe stand, ist ein einschneidendes
Ereignis. Für viele eine persönliche Lebenskrise.
Der
Tod zwingt mich, inne zu halten. Er fordert mich heraus, mein Leben
neu einzurichten. Doch bevor mir das gelingt, falle ich erst einmal
in ein tiefes Loch.
Eben
lief ich noch sicheren Fußes durch mein Leben. Jetzt tut der Boden
sich unter mir auf und droht mich zu verschlucken.
Ob
ich dann hören mag, dass einmal alles ganz anders wird? Ob ich dann
glauben kann, dass wieder und ganz neu alles gut wird?
Dass
es so sein wird, davon träumt Johannes:
Dann
sah ich einen neuen Himmel und
eine neue Erde.
Denn
der erste Himmel und die erste Erde
sind
verschwunden.
Und
das Meer ist nicht mehr da.
Und
ich sah die heilige Stadt: das neue Jerusalem.
Sie
kam von Gott aus dem Himmel herab –
für
die Hochzeit bereit wie eine Braut,
die
sich für ihren Mann geschmückt hat.
Dann
hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen:
»Sieh
doch: Gottes Wohnung bei den Menschen!
Er
wird bei ihnen wohnen
und
sie werden seine Völker sein.
Gott
selbst wird als ihr Gott bei ihnen sein.
Und
er wird jede Träne abwischen von ihren Augen.
Es
wird keinen Tod und keine Trauer mehr geben,
kein
Klagegeschrei und keinen Schmerz.
Denn
was früher war, ist vergangen.«
Der
auf dem Thron saß, sagte:
»Sieh
doch: Ich mache alles neu!«
Und
er spricht: »Schreib alles auf,
denn
diese Worte sind zuverlässig und wahr!«
Was
für ein Bild von der Zukunft, das Johannes träumt und malt. Voller
Sehnsucht, die darauf hofft, dass Himmel und Erde verwandelt werden.
Und
dass alles mit ihnen verwandelt wird: Wir, mit Leib und Seele; alle
Geschöpfe; die ganze Erde und sogar der Himmel.
Johannes
malt in seiner Sehnsucht das, was kommt, in einem großartigen Bild,
in wunderbar hellen Farben. Alles wird anders. Alles wird ganz neu
und gut.
Ein
Bild, das alles Grau, alle Trauer, alles Leid überstrahlen soll.
Aber vielleicht ist es ja dennoch oder gerade deshalb so, dass dieses
Bild vom himmlischen Jerusalem fremd bleibt.
Denn
was hat dieses Traumbild mit der Wirklichkeit zu tun, mit den
schweren Erfahrungen, die ich im alltäglichen Leben mache? Dieses
Bild – vielleicht scheint es nicht mehr als ein frommer
Wunschtraum.
Doch
womöglich kennen Sie das ja auch: Dass Sie sich manchmal wünschen,
an einem ganz anderen Ort zu sein. Dass Sie sich weit weg träumen
von allen Sorgen und Schmerzen, von allem Weinen und Trauern. Nur
fort aus diesem grauen Novemberalltag, dorthin wo eine freundliche
Sonne sanft den Rücken wärmt.
Und
dann sind es gerade diese Wunschträume, die helfen, den Tag zu
bestehen. Manchmal ist es die geträumte Sonne, die den wirklichen
und grauen Tag aufhellt und zu leben hilft. Und vielleicht liegt
genau darin die Kraft, die aus dem großen Bild von Gottes neuer
Stadt fließt.
Doch
zunächst einmal sind da die Bilder, die uns die Wirklichkeit vor
Augen und in die traurigen und ängstlichen Herzen malt: „Ich werde
die Bilder nicht mehr los“, sagt einer, der einen engen Angehörigen
verloren hat.
Manchmal
sind es friedliche, erlösende Bilder davon, wie eine sanft
einschlief. Manchmal sind es aber auch Bilder von der Krankheit, die
den Körper aufzehrt. Die Bilder von blinkenden Geräten auf der
Intensivstation. Bilder, die gefangen nehmen und immer und immer
wieder kehren.
Manchmal
dauert es Jahre, bis sie abklingen. Manchmal steigen Schreckensbilder
auch erst nach Jahrzehnten wieder auf. Vielleicht haben sie lange im
Vergessen geruht, bis sie plötzlich aufgeschreckt werden.
Da
sind die oft grauenhaften Erlebnisse, die viele Menschen während der
Flucht am Ende des zweiten Weltkriegs machten. Und die wieder
lebendig werden, wenn man andere fliehen sieht vor Krieg und Armut.
Es
sind nicht nur Bilder des eigenen Erlebens, sondern auch Bilder aus
der Zeitung, aus dem Fernsehen, die an uns zerren und uns schmerzen.
Bilder aus dem Jemen, aus Syrien, vom Mittelmeer.
Es
sind traurige Bilder, die die Wirklichkeit malt. Dagegen das Bild vom
himmlischen Jerusalem: Eine Stadt mit zwölf Toren, die für alle
offen ist, in der Gott selbst anwesend ist und tröstet. Er ist den
Menschen so nahe, dass er selbst ihre Tränen abwischt.
Johannes
sieht, was kein Auge je gesehen hat. Er sieht, was man sich kaum
vorstellen kann.
Das
Ende der Zeit mit allem Leid und den Beginn der ewigen Herrlichkeit.
Er sieht eine neue Erde, einen neuen Himmel, eine Stadt ohne Tränen,
ohne Tod, ohne Leid, ohne Jammer, ohne Kummer.
Er
sieht sich selbst – ein einsamer Gefangener auf der kargen Insel
Patmos befindet. Er sieht seine eigene trostlose Gegenwart.
Und
er sieht, wie sie sich auflöst. Wie sie abgelöst wird von einer
Zukunft, die schöner und wirklicher ist als all seine Träume.
Das
neue Jerusalem ist keine bestehende Stadt, die von Menschen
verbessert wird. Sie ist auch keine Stadt, die von Menschen nach
ihren Weltverbesserungsvorstellungen gebaut wird.
Das
neue Jerusalem ist der fremde Ort, der auf die Erde kommt. Er ist der
Ort, an dem Gott ganz da ist.: Gott kommt herab und wischt alle
Tränen ab. Gott kommt und der Mensch ist frei – frei von Tod und
Leid, Geschrei und Schmerz.
Gott
kommt mit seinem Trost genau dahin, wo ich ganz trostlos bin.
Das
sieht Johannes – und ich sehe es mit ihm.
Mir
tut es gut, dem Bild vom Tod und Leid dieses andere Bild
entgegenzusetzen. Mir hilft es, ein helles Bild über die dunklen
Farben zu legen.
Natürlich:
Die dunklen Farben scheinen weiter durch. Die Trauer bleibt. Ich kann
sie nicht einfach wegwischen.
Aber
die Farben verwandeln sich. Die Trauer verwandelt sich. Das Leben
kehrt zurück.
Durch
das Helle, durch den Trost gewinnt das Leben wieder Kraft. Es hebt
sich ab vom Dunklen, von der Trauer.
Mir
tut es gut, auf dieses andere Bild vom himmlischen Jerusalem zu
schauen, es in mich aufzunehmen.
Aus
ihm kommt mir Trost entgegen. Der Tröster macht aus dem Bild den
einen Schritt heraus und tritt an meine Seite. Und mein Leben kann
anders werden. Ich kann eine andere werden.
Ich
brauche einen Tröster. Ich kann mich nicht selber trösten. Mir
selber nehme ich die Worte nicht ab, die versuchen zu trösten.
Aber
dem Tröster nehme ich sie ab. Gott nehme ich sie ab, der seinen Ort
mitten in meiner Trauer sucht und findet. Der da ist und die Hand
hält und dem Schluchzen zuhört und die Tränen abwischt, wenn es an
der Zeit ist.
Dem
Tröster nehme ich sie ab. Auch im Angesicht des Todes spricht er
noch und immer wieder vom Leben: Das, was du jetzt siehst, ist noch
nicht alles. Das Ende ist noch nicht alles.
Schaue
über das Ende hinaus. Schaue mir in die Augen. Du wirst mehr sehen,
als du jetzt ahnen kannst. Leben, das überfließt.
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