Segenskreislauf

Ein Schriftgelehrter fragte Jesus: »Welches Gebot ist das wichtigste von allen?« 
Jesus antwortete: »Das wichtigste Gebot ist dieses: ›Höre, Israel! Der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele, mit deinem ganzen Willen und mit deiner ganzen Kraft.‹ Das zweite ist: ›Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst.‹ Kein anderes Gebot ist wichtiger als diese beiden.« 
Da antwortete ihm der Schriftgelehrte: »Ja, Lehrer, du sagst die Wahrheit: Bei den Propheten heißt es: Gott hat dich wissen lassen, Mensch, was gut ist und was er von dir erwartet: Halte dich an das Recht, sei menschlich zu deinen Mitmenschen und lebe in steter Verbindung mit deinem Gott!« 
Als Jesus merkte, mit wie viel Einsicht der Schriftgelehrte geantwortet hatte, sagte er zu ihm: »Du bist nicht weit weg vom Reich Gottes.«

Wir geben zu: Wir haben ein wenig geschummelt. Eigentlich sagt der Schriftgelehrte etwas anderes. Wir haben ihm die Worte von Micha, dem Propheten, einfach in den Mund gelegt.

Wir finden ja. Wir haben ziemlich glaubwürdig geschummelt. Ein Schriftgelehrter muss ja die Heilige Schrift kennen. Also wird er auch diese Worte kennen: Gott hat dich wissen lassen, Mensch …

Gott hat dich wissen lassen, was gut ist. – Für uns klingt dieser Satz nach Weite. Nach der Weite des Watts und der Marsch und des Himmels darüber: Siehe, es ist gut.

Ganz am Anfang erzählt die Bibel, wie Gott die Welt baut. Und nach jedem neuen Baustein, den er hinzufügt, heißt es: Und Gott sah sich das an. Und siehe, es war gut, sehr gut sogar.

Der Schriftgelehrte weiß: Die Geschichte am Anfang der Bibel ist keine naturwissenschaftliche Abhandlung. Sie ist eine Geschichte über das Staunen: Gott hat dich wissen lassen, was gut ist. Schau dich um, Mensch, und staune.

Staune über die Blätter, die sich bunt färben und im Fliegen leuchten. Staune über den Menschen neben dir, der deine Hand hält und dich einfach so liebt. Staune darüber, dass etwas ist und nicht nichts.

Gott hat dich wissen lassen, was gut ist. Und wir haben es gesehen. Aber manchmal scheint der Herbstnebel sich darüber zu legen. Kalt und feucht und dicht und undurchdringlich.

So wie sich die Coronavirus-Pandemie mit ihrer zweiten Welle gerade über Alltag und Urlaub legt. Die Freude an den freien Tagen wird gedämpft. Was sonst im Alltag selbstverständlich ist, wird ungewiss.

Auch so wie die Trauer die Tage und erst recht die Abende dunkel macht. Das Leben verliert etwas von seinem Glanz, wenn einer an unserer Seite fehlt, wenn wir schon wieder von einem Menschen Abschied nehmen mussten.

Und doch: Manchmal kann es sein, dass ein Sonnenstrahl durch den Nebel bricht. Ein Lächeln über etwas, das ich mit dem erlebt habe, der nun nicht mehr da ist. Ein leises Einverständnis, dass er seine Ruhe gefunden hat.

Und immer mal wieder reißt der Wind den Corona-Nebel auf und ich vergesse die Maske und atme tief ein und aus und freue mich am Augenblick und versenke mich in dem, was ich gerade tue.

Gott hat dich wissen lassen, Mensch, was gut ist. Manchmal kann ich es nicht übersehen. Manchmal stolpere ich unverhofft darüber.

Gott hat dich auch wissen lassen, Mensch, was er von dir erwartet. – Wir sind uns unsicher, ob dieser Satz auch nach Weite klingt oder nicht vielmehr nach Enge.

Wo Menschen zusammenleben, haben sie Erwartungen aneinander. Ich erwarte, dass du pünktlich nach Hause kommst. Ich erwarte, dass du deine Hausaufgaben machst. So lange du deine Füße unter meinen Tisch stellst …

Das sind die ausgesprochenen Erwartungen. Daneben gibt es noch die unausgesprochenen. Dass ich regelmäßig vorbeikomme, um zu sehen, wie es geht. Oder dass ich die Butter an den richtigen Platz räume im Kühlschrank.

Es gibt die ausgesprochenen und die unausgesprochenen Regeln, wie ich mein Leben zu leben habe. Solange ich mich in ihrem Rahmen bewege, merke ich sie kaum, weil sie so selbstverständlich sind.

Erst wenn ich die Regeln übertrete, bewusst oder unbeabsichtigt, stoßen sich andere an mir und ich mich an den Regeln und den Erwartungen. Sollen sie gelten? Schränken sie mich nicht viel zu sehr ein?

Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Das antwortet Jesus auf die Frage nach dem höchsten Gebot. Sei menschlich zu deinen Mitmenschen, so sagt es der Schriftgelehrte.

Die Grenze für das, was ich tue und will, das ist der Mensch, dem ich begegne, und das, was er will und tut. Wir treffen aufeinander mit dem, was wir erwarten.

Eng wird es dort, wo ich auf dem beharre, was ich für mich erwarte. Wenn mein Tun und Lassen der alleinige Maßstab für die Regeln ist, die gelten sollen.

Weit wird es dort, wo wir wechselseitig fragen, was wir für uns selber und voneinander erwarten. Wenn wir nach Wegen suchen, auf denen wir gemeinsam und gut nebeneinander gehen können.

Liebe deinen Nächsten wie die dich selbst – das zu erwarten, reißt den Zaun nieder, den ich um mich herum errichte, wenn sich alle nur nach meinen Regeln richten sollen.

Wenn ich diesen Zaun niederreiße, dann wird das Leben weit. Es hat dann Platz nicht nur für mich, sondern auch für die Menschen, denen ich begegne. Ein weites Feld.

Gott hat dich also wissen lassen, Mensch, was gut ist und was er von dir erwartet. – Für uns klingt dieser Satz nach Segen. Nach dem, was Gott schenkt und was wir schenken können.

Mit unseren Kindern haben wir gelernt: Es gibt einen Kreislauf des Wassers. Wenn es regnet, fällt das Wasser auf die Erde. Es durchfeuchtet sie, es fließt über sie, es versickert in ihr, es durchtränkt sie und sammelt sich in Seen und Meeren.

Wenn die Sonne das Land erwärmt und das Meer, verdunstet das Wasser. Es steigt auf und kühlt wieder ab und verflüssigt sich in Wolken, aus denen es wieder anfängt zu regnen.

Wir haben uns gedacht: So wie es einen Wasserkreislauf gibt, gibt es auch einen Segenskreislauf. Wenn wir segnen, fällt Gottes Segen auf das Leben eines Menschen.

Der hört und spürt dann: Du bist ein Kind Gottes. Er hat dich wunderbar geschaffen. Du gehörst zu Gott, wenn du lebst und wenn du stirbst.

Der hört und spürt dann: Gott geht mit dir durch dein Leben und du gehst mit ihm von einer Kraft zur anderen. In allem, was dir leicht fällt und was dir schwer ist, ist Gott bei dir.

Und tatsächlich: Der Segen fließt und sickert in das Leben, in jeden Tag und jede Stunde. Mal mehr, mal weniger spürbar. Aber er ist da.

Und der Segen steigt wieder auf. Er steigt auf, wenn du staunst über das, was dir geschieht, über die Menschen, die dir begegnen, über die Welt, die sich um dich weitet.

Jedes Staunen ist ein Lob, das zu Gott aufsteigt. Und der Segen steigt auf, wenn du anderen zum Segen wirst. Wenn du den Zaun einreißt, der zwischen euch steht.

Wenn du den anderen ansiehst, freundlich und zugewandt. Wenn du ihm die Hand reichst und was er sonst braucht zum Leben. Jede Gabe ein Segen, der sich verflüssigt.

So schließt sich der Kreislauf des Segens. Was von Gott kommt und dich reich macht, das macht andere reich und kehrt zurück zu Gott. Und von dort kommt es neu zu dir.

Gott hat dich wissen lassen, Mensch, was gut ist und was er von dir erwartet. Es ist ein Segen. 

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