Ich habe deine Sünden vergessen

Von einer alten Frau im Dorf sagte man, ihr erscheine Gott. Der Pastor verlangte dafür Beweise: „Wenn Ihnen Gott das nächste Mal erscheint, dann bitten Sie ihn, Ihnen meine Sünden zu nennen, die nur er allein kennt.“ Einen Monat später kam die Frau wieder zum Pastor. Der fragte, ob ihr Gott erschienen sei. „Ja“, sagte sie. „Und haben Sie ihn nach meinen Sünden gefragt?“ „Ja, das habe ich!“ „Und was sagte er?“ „Sag’ dem Pastor, ich habe seine Sünden vergessen.“ Da ist der Pastor erleichtert.
Er ist erleichtert, dass die Frau sie ihm nicht aufzählt. Seine Sünden, die nur Gott kennt. Das, was er am liebsten vor sich selber verheimlichen würde. Aber weil die Scham stärker ist als das Verheimlichen, geht er davon aus, dass Gott die ganz geheimen Sünden auch kennt, kennen muss. „Du, Gott, erforschest mich und kennest mich.“
Aber Gott sei Dank: Es bleibt ihm erspart, das alles vorgesetzt zu bekommen. Er muss sich nicht damit auseinandersetzen. Er darf weiter versuchen, die brennende Scham zu löschen.
Und auch die Frau hat ja nichts gegen ihn in der Hand. Wenn sie von ihm wüsste, was er von sich weiß – wer weiß, ob sie dann noch etwas von ihm wissen wollte. Sicher käme sie dann nicht mehr zu ihm, um mit ihm zu reden. Statt dessen würde sie mit anderen über ihn reden. Sich das Maul zerreißen. Dass der Pastor solche Sünden …
Aber Gott hat sie ja vergessen, die Sünden, von denen nur sie beide, Gott und er wissen. Also weiß auch die Frau nichts davon. Und er kann sie auch endlich vergessen. Die Sünden. Wenn er sie vergessen kann. Wenn er glauben kann, dass Gott sie vergessen hat. Aber ob er, der Pastor, das glauben kann?

Szenenwechsel. Von der alten Frau, der Gott erscheint, und dem Pastor, dessen Sünden vergessen sind, zu Micha, dem Propheten, und den Menschen in Israel um 700 vor Christus.
Auch Micha erscheint Gott. Er öffnet ihm die Augen für das Unrecht in seinem Land. Und er legt ihm deutliche Worte in den Mund. Denn Gott weiß nicht mehr, wie weiter mit seinem Volk. Also ruft er die Berge, die Fundamente der Erde zur Hilfe. Sie sollen Zeugen sein, wie er um seine Menschen wirbt, ihr Verständnis sucht, sie einlädt, loszuwerden, was sie schon immer mal sagen wollten:
„Habe ich dir irgendetwas angetan, mein Volk? Habe ich etwa zu viel von dir verlangt? Bring deine Klage vor!“ (Micha 6,3)
Und wir ahnen, weil wir sein Volk kennen und weil wir uns kennen, dass es keine Klage der Menschen geben wird. Dass das Problem nicht so sehr bei Gott, sondern bei den Menschen liegt und bei dem, was sie tun oder eben nicht tun.
Wir ahnen: Die Menschen, Gottes Volk sind wieder einmal gottvergessen. Wohl halten sie noch Gottesdienste ab. Doch im Wesentlichen sind es die Priester, die das tun, weil es nun mal ihr Beruf ist.
Im Alltag, da spielt Gott längst keine Rolle mehr. Im Alltag, da zählen andere Götter. Solche, die sich leichter beeinflussen lassen, die nicht so starrköpfig, eigensinnig, fordernd sind wie der alte Gott der Väter.
Im Alltag, da zählen nicht die Regeln des Heiligen, die Gebote Gottes. Da zählt das eigene Vorankommen mit Hilfe der Ellenbogen, da gilt die Regel: nach oben buckeln, nach unten treten. Wer die Macht hat, dem unterwerfe ich mich. Über wen ich Macht habe, den unterdrücke ich.

Gott ist da längst vergessen. Also muss Gott sich in Erinnerung bringen:
„Ich habe dich aus der Sklaverei in Ägypten befreit. Ich habe dir Mose, Aaron und Mirjam als Führer gegeben. Denk daran, mein Volk, wie der Moabiterkönig Balak wollte, dass Bileam dich verflucht, er dich aber segnen musste, weil ich das so wollte. Denke daran, wie du über den Jordan in dein Land gezogen bist, das ich dir verheißen hatte. Dann wirst du erkennen, wie viel Gutes ich für dich getan habe.“(Micha, 6,4-5)
So sagt Gott. Und er hat Erfolg. Das Volk erinnert sich an das Gute. Es erinnert sich an all die Augenblicke, die entscheidenden und die alltäglichen, in denen Gott es begleitet und mit seinem Segen überschüttet hat.

Aber mit dem Erinnern kommt die Scham. Die Menschen sehen wieder Gott – und sie fragen sich voller Furcht und Zittern, was er wohl jetzt von ihnen halten mag.
Sie sehen das Gute, das von Gott kommt Und sie sehen all das Böse, das sie anderen und einander angetan haben. Sie entdecken, wie fürsorglich Gott mit ihnen umgegangen ist – und wie sie ihm die kalte Schulter gezeigt haben.
Sie werfen das eine und das andere in die Waagschale. Und sie sehen, wie schwer ihr Unrecht wiegen muss. Sie sprechen sich selbst das Urteil, das sie von Gott über sie erwarten.
Es muss ein vernichtendes Urteil sein. Doch vielleicht lässt es sich ja noch abwenden. Vielleicht lässt Gott sich ja noch gnädig stimmen. Vielleicht können sie sich noch seine Gnade verdienen.
Also fragt einer aus dem Volk Micha, den Anwalt Gottes:
„Womit soll ich vor den HERRN treten, diesen großen und erhabenen Gott? Was soll ich ihm bringen, wenn ich mich vor ihm niederwerfe? Soll ich einjährige Rinder als Opfer auf seinem Altar verbrennen? Kann ich ihn damit erfreuen, dass ich ihm Tausende von Schafböcken und Ströme von Olivenöl bringe? Soll ich meinen erstgeborenen Sohn opfern, damit Gott mir meine Schuld vergibt?“ (Micha 6,6-7)

Es ist die alte menschliche Rechnung, die er da aufmacht: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Die Waage muss wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Das Unrecht verlangt ein Opfer, das den Schaden wieder gut macht.
Aber was ist der Preis? Wie hoch muss die Reparations­zahlung sein, die er Gott gegenüber zu leisten hat? Reichen Rinder und Schafe und Olivenöl? Oder muss Gott ein Mensch geopfert werden, um die schwere Schuld abzutragen? Was kostet es, dass Gott das Urteil kassiert und Gnade vor Recht walten lässt?

Die Antwort auf all diese Fragen ist – Schweigen. Micha sagt dazu nichts, Gott legt ihm keine Antwort auf diese Fragen in den Mund.
Er verkündet kein Urteil, unter das sich der Mensch zu beugen hätte, um für das bestraft zu werden, was er getan hat. Er benennt keinen Preis, den der Mensch zu bezahlen hätte, um das Unrecht auszugleichen, das er begangen hat.
Stattdessen: Schweigen. Gott vergisst, das Urteil zu sprechen. Er hat das Urteil vergessen. Er hat die Sünden vergessen.
Da wird keine Strafe vollzogen. Da wird keine Wieder­gutmachung fällig. Das meint Gnade. Das Unrecht aussprechen, das war – und es dann vergessen. Gründlich vergessen. Gott kann das. Er tut es.
Wohl dem, der das Vergessen Gottes annehmen kann und nicht auf seinem Unrecht beharren muss. Denn dann kann Gott mit ihm neu anfangen. Und er kann mit Gott und mit sich neu anfangen.

Dafür – für den neuen Anfang – gibt Micha seine Worte mit auf den Weg:
„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ (Micha 6,8)
Micha sagt, worum es Gott geht. Drei kurze Sätze, aber was steckt alles drin!

GOTTES WORT HALTEN, das ist das erste. Und vielleicht lässt sich das ganz wörtlich verstehen: Gottes Wort halten, also: die Bibel in die Hand nehmen, darin lesen.
Wenn ich das tue, entdecke ich in diesem alten Buch lauter Sätze, Gedanken, Geschichten, die mich fördern und fordern, verpflichten und beglücken.
So kann's einem gehen, der Gottes Wort in der Hand hält, darin liest, mit anderen darüber ins Gespräch kommt. So kann’s ihm gehen, dass sich ihm sein Leben aufschließt und sich ihm der zeigt, der ihn durch sein Leben begleitet, dass sich ihm Gott zeigt. Und so wird die Bibel dann zu Gottes Wort.

Das zweite: LIEBE ÜBEN. Damit kann ich nie zu spät oder zu früh anfangen. Liebe üben beginnt da, wo ich einen anderen Menschen erlebe, mit ihm spreche, ihm zuhöre, ihn bewundere, wenn er mir wichtig ist. Liebe üben heißt auch, sich auf einen Menschen einstellen in allen Lebenssituationen, nicht nur in den frohen Stunden.
Das kann niemand sofort. Aber wer es übt, tritt aus dem engen eigenen Lebenskreis heraus. Er wird weltweit, denn es gibt auf der Welt so viele Menschen, denen Liebe fehlt, die meine Liebe brauchen.
Das Schöne daran: Viele wohnen gar nicht weit weg, sondern gleich nebenan, sitzen neben mir beim Essen, begegnen mir beim Spaziergang. An ihnen kann ich Liebe üben.

Schließlich das dritte: DEMÜTIG SEIN VOR DEINEM GOTT. Was könnte das sein? Viel zur Kirche, in den Gottesdienst gehen, sich zur Gemeinde halten? Vielleicht gehört das dazu.
Aber Gott hat mit meinem Leben, mit meinem Alltag zu tun. Da geschieht es doch, dass das Miteinander gelingt, ohne mein Zutun, ohne meine Leistung. Da geschieht es doch, dass neuer Mut, frische Kraft, tiefe Freude aufsteigt.
Das kann niemand erzwingen oder herbeireden. Das wird geschenkt. Und das dann anzunehmen, das kann froh machen und bescheiden, kurz: es kann demütig machen, wenn ich Gottes Segen erlebe und spüre, wie er in meinem Leben zum Guten wirkt.

Und vielleicht wird der Pastor ja ein wenig demütig, nach seinem zweiten Gespräch mit der alten Frau. Es ist ihm jetzt gar nicht mehr so wichtig, herauszufinden, ob Gott ihr nun wirklich und wahrhaftig erscheint.
Denn was er von ihr hört – das wird ihm zum Segen, das wird ihm zum Wort, das Gott zu ihm spricht: „Sag dem Pastor, ich habe seine Sünden vergessen!“
Angst und bange ist ihm immer geworden, wenn er an all die Sünden dachte, die er in sich verschloss und am liebsten auch Gott verheimlicht hätte. Da konnte er noch so oft von der Vergebung der Sünden predigen. Für die anderen mochte das gelten. Aber für ihn?
Doch jetzt hat er es ja gehört. Aus berufenem Mund gehört: Sag dem Pastor, ich habe seine Sünden vergessen!
Was er sich selber nicht glauben konnte – der Frau kann er es glauben. Wie gut, dass sie ihm Gottes Wort ausgerichtet hat.

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