Ins Herz geschrieben

„Was ist das denn?“, das fragten sich die Konfirmanden und ich selber, als wir in einem Freizeitheim zu Gast waren: An jedem Türpfosten war ungefähr in Augenhöhe eine kleine Holzkapsel befestigt. Manche hatten ein Sichtfenster, durch das man ein Stück Papier erkennen konnte.
Was das war, das konnte uns der Hausleiter sagen: Das waren Mesusa, jüdische Türpfostenkapseln. Auf dem Stück Papier enthielten sie Worte aus der Tora der Juden, unseren fünf Büchern Mose. Worte, die Ihnen vertraut sein werden:

"Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft."
(Deuteronomium 6,4-5)

Es sind für Juden besondere Worte, nämlich der Beginn des Glaubensbekenntnisses, das sie beim Morgen- und Abendgebet sprechen. Es sind die Worte, die ihren Glauben auf den Punkt bringen.
Auch Jesus spricht diese Worte, als er einmal nach dem höchsten Gebot gefragt wird. Und auch uns haben sich deshalb diese Worte eingeprägt.
So wie sich die Juden tagtäglich beim Morgen- und Abendgebet erinnern, so werden auch wir erinnert. „Hört, der Herr ist unser Gott, der Herr allein.“

Woran wir da erinnert werden, finde ich gar nicht selbstverständlich, sondern ganz erstaunlich:
Es gibt nur diesen einen Gott. Er hat die Welt geschaffen, er hat allen Menschen das Leben geschenkt. Und dieser eine Gott hat seinen Bund geschlossen mit den Menschen, mit allen und mit jedem einzelnen.
An seiner Geschichte mit Israel sollen wir es sehen:
Gott führt sein Volk aus der Gefangenschaft in Ägypten heraus: Er will, dass Menschen in Freiheit leben.
Gott geht seinem murrenden Volk durch die Wüste voran: Er will, dass Menschen durch seinen Segen leben.
Gott schenkt seinem Volk seine Gebote: Er will, dass Menschen seinem Willen zu einem erfüllten Leben folgen.
„Hört, der Herr ist unser Gott, der Herr allein.“ Das ist das Versprechen, das er durch Mose Israel gibt. Das ist auch das Versprechen, das Jesus und seine Jünger in die Welt und zu uns tragen: Der eine Gott geht seinen Weg mit uns.

Aber: „Wenn Gott das verspricht, dann geht euren Weg auch mit Gott!“ So sagt es Moses an Israel weiter: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“
Und so tragen es Jesus und die Jünger in die Welt, so tragen sie es zu uns: „Wenn Gott dir verspricht, sich dir zuzuwenden, dann wende du dich ihm auch zu! Und nicht nur ein bisschen und manchmal. Sondern ganz und gar und immer – mit ganzem Herzen!“
Im Herz, da sitzen die Gefühle: Im Herzen freue ich mich und bin ich traurig. Mein Herz verzweifelt und jubelt. Im Herz keimen Verachtung und Zuneigung. Angst und Mut krampfen das Herz zusammen oder machen es weit.
Im Herz, da sitzen für die Menschen im alten Israel auch der Verstand und die Vernunft. Wir wägen mit dem Herzen ab, treffen mit dem Herzen Entscheidungen. Wir tragen in unseren Herzen Erinnerungen und bewegen dort Worte, die uns ans Herz gelegt werden.
So handeln wir auch mit dem Herzen, aus dem Herzen heraus: Der Wille, etwas zu tun, wurzelt in unserem Herzen.
Das Herz ist die Mitte des Menschen – wenn das Herz nicht mehr schlägt, verlieren wir unser Leben. Aber wir sollen es ja nicht verlieren.
Im Gegenteil mit dem ganzen Herzen sollen wir Gott lieben – damit das Herz in unserer Brust schlägt, damit es für Gott und vor allem durch Gott schlägt.

Alles, was wir im Herzen fühlen, sollen wir Gott voller Liebe anvertrauen, das können wir Gott ans Herz legen. Die Psalmen, diese uralten Gebete, singen davon ihre Lieder: Von dem Vertrauen, mit dem Menschen Gott ihre Freude und ihren Jubel jauchzen. Mit dem sie in ihrer Angst und ihrer Verzweiflung zu ihm flehen. Mit dem sie ihn in ihrer Wut anklagen. Aus vollem Herzen wenden sie sich an Gott.
Alles, was wir abwägen und entscheiden, sollen wir nach Gottes Willen tun. Dazu legt Gott Menschen seine Gebote ans Herz. Er lässt sie Mose auf Stein schreiben: Die Gebote, die das Herz des Menschen auf Gott lenken.
Ihm sollen wir uns zuwenden – dem einzigen Gott, der größer ist als alle Bilder, die man sich von ihm machen kann.
Mit Gottes liebevollem Blick sollen wir auf die Menschen neben uns schauen, damit wir ihre Liebe und Familien, ihre Wahrheiten und Werte, ihr Gut und Habe achten und bewahren.

Das alles sollen wir. Und Gott weiß – und wir wissen –, dass unsere Herzen oft genug aus Stein sind. Es hilft wenig, dass die Gebote auf Stein stehen und wir sie im Konfirmandenunterricht einmal auswendig gelernt haben: Sie erreichen unsere Herzen viel zu selten, wir handeln allzu oft nicht nach ihnen.
Gott weiß das – und er macht Hoffnung mit einem anderen Versprechen, das der Prophet Jeremia weiter gibt: Gott wird seine Gebote in unsere Herzen schreiben. Dann bestimmen sie Gefühle und Willen, Verstand und Tun.
Wenn das so sein wir, dann werden wir Gott liebhaben mit ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all unserer Kraft.
Bis es so weit ist, bleiben das Sollen und die Erinnerungsarbeit:

"Diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore."
(Deuteronomium 6,6-9)

Ganz wortwörtlich nehmen fromme Juden diese Aufforderung zur Erinnerungsarbeit:
An den Türpfosten bringen sie die Mesusa an, die Kapseln, die ihr Glaubensbekenntnis enthalten: „Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein.“
Und beim Morgen- und beim Abendgebet legen sie die Tefilin an: Sie binden sich mit Riemen kleine Würfel an die linke Hand und zwischen die Augen. Auch diese Würfel enthalten das Glaubensbekenntnis: „Und du sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“

Auch wenn uns diese Bräuche vielleicht eigenartig erscheinen – ich finde sie beeindruckend.
Die Kapsel am Türpfosten, die Mesusa, erinnert dich jedes Mal, wenn du über eine Schwelle trittst: „Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein.“ Jedes Mal, wenn du von einem Raum in einen anderen gehst, wird dir neu versprochen: Gott war in dem Raum bei dir, aus dem du kommst. Und Gott wird auch in dem Raum bei dir sein, den du jetzt betrittst.
Es ist unzählige Mal an einem Tag ein kleiner Segen, der aus der Kapsel zu mir spricht und mich auf meinem Weg durch den Alltag geleitet und begleitet.
Die Gebetsriemen an der Stirn und an der Hand, sie erinnern am Morgen und am Abend beim Gebet:
„Du sollst den Herrn deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“
Jedes Mal, wenn du sie umbindest, hinterlassen sie einen Eindruck, der sich auch deinem Herzen mitteilt:
In allem, was du siehst und hörst, was du denkst und willst, sollst du auf Gott schauen. Alles, was du fühlst und spürst, was dich bewegt und umtreibt, kannst du Gott anvertrauen. Bei allem, was du tust und lässt, was du willst und ablehnst, lass dich von dem leiten, was Gott dir ans Herz legt.
Jedes Mal werde ich erinnert, mein Leben, meinen Alltag auf Gott auszurichten. Und so greift Gott Raum in meinem Leben. Unmerklich, aber stetig breitet sich sein Segen in mir aus.

Vielleicht wäre es ja eine Idee, diesen jüdischen Brauch in abgewandelter Form aufzunehmen.
Ich kann mir einen Segensvers aus der Bibel suchen. Meinen Tauf- oder Konfirmationsspruch oder einen anderen Vers. Einen, der mir zusagt: Gott ist dein Gott und für dich da. Und einer, der mich auffordert: Richte dich aus auf Gott. Schaue auf ihn.
Diesen Bibelvers kann ich neben die Eingangstür meiner Wohnung hängen. Damit ich und jeder andere, der über die Schwelle tritt, erinnert wird: Gott ist da!
Und ich kann morgens und abends zum Gebet eine Kerze anzünden – als Zeichen, dass Gott das Licht ist, das mir den Weg zeigt; und als Aufforderung, dass ich diesem Lichtschein folge.
Und wenn ich das so lange tue, bis es mir fehlt, wenn ich es nicht tue – spätestens dann trage ich Gott in meinem Herzen.

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