Über die Schwelle

Eine Frage zum Um-die-Ecke-Denken: Was ist die häufigste Ursache für Berufsunfähigkeit von Gleisarbeitern bei der Deutschen Bahn?
Schwellenangst, lautet die einfache Antwort. Aber vielleicht stimmt doch eher die Bestimmung des Duden. Demnach ist Schwellenangst ist eine „(durch innere Unsicherheit gegenüber dem Unvertrauten, Neuen verursachte) Hemmung“, einen bestimmten Raum zu betreten: Ich habe sie, wenn etwas Unbekanntes auf mich zukommt und meine Hände feucht werden und es im Bauch kribbelt.

Schwellenangst ist die Angst, die einer vor den Schwellen haben kann, über die er in seinem Leben steigt:
Vom Spielen Zuhause in den Kindergarten in die Schule. Vom Kind, das sich an den Eltern ausrichtet, zum Jugendlichen, der seinen eigenen Kopf hat, zum Erwachsenen, der frei ist, sich selbst zu leben, zum Elternteil, das sich um seine Kinder sorgt. Vom Schüler zum Lehrling oder Student zum Angestellten oder Selbstständigen zum Ruheständler.
Es sind mal flachere, mal höhere Schwellen, die zwischen diesen Lebensräumen zu überschreiten sind.
Manchmal ist es reizvoll, diese Schwellen zu überschreiten: Es macht stolz, mit der Schultüte in der Hand das erste Mal das Klassenzimmer zu betreten. Es macht Freude, die erste eigene Wohnung einzurichten. Es verleiht tiefe Zufriedenheit, mit dem eigenen Kind auf den Arm nach Hause zu kommen. Es macht frei, auf das Altenteil zu wechseln.
Manchmal kann an allen diesen Schwellen auch die Angst warten. Ich habe Schwellenangst, das vertraute Zimmer zu verlassen, in dem ich mich eingerichtet habe. Ich habe Angst, weil ich den neuen Raum nicht kenne und das, was mich dort etwas erwartet.
Fragen bedrängen mich: Werde ich es auf der neuen Schule schaffen? Welchen Beruf soll ich wählen? Werde ich glücklich mit dem Menschen, mit dem ich zusammenziehen will? Kann ich meinen Kindern überhaupt gerecht werden? Was soll ich bloß mit der vielen freien Zeit anfangen?
Und ich zögere und zögere, bevor in den Schritt über die Schwelle wage.
Die Angst muss nicht da sein. Aber wenn sie da ist, ist es gut sie mir einzugestehen. Und nach einem Weg zu suchen, sie zu überwinden – beide, die Schwelle und die Angst vor ihr.

Der Geist Gottes, das ist so etwas wie ein Mittel gegen die Schwellenangst. Das erfahren die Freunde Jesu an dem Tag, den wir heute feiern: Am Pfingsttag. Er ist der Tag, an dem die Freunde Jesu ihre Schwellenangst verlieren.
Natürlich haben sie Angst. Verunsichert sind sie, weil Jesus nicht mehr bei ihnen ist. Bislang sind sie ihm immer nachgegangen. Er hat sie bei der Hand genommen und ihnen den Weg gezeigt, den sie gehen konnten. Mit ihm war es ein leichtes, auch dorthin zu gehen, wo sie nicht wussten, was sie erwartete. Wenn er bei ihnen war, das wussten sie, musste alles gut und wunderbar werden.
Aber nun ist er nicht mehr da, nicht mehr so, dass sie ihn anfassen und ihm in die Augen sehen könnten. Also verkriechen sie sich gemeinsam in ihrem Zimmer. Sie halten sich aneinander fest, an denen, die sie kennen. Sie trauen sich nicht vor die Tür, nicht über die Schwelle.
Und dann geschieht das Wunder, das sich anfühlt wie ein Sturmwind, der alle Angst fortweht, und wie ein Feuer, das ihre Herzen entzündet: Sie fassen den Mut, ihr Zimmer zu verlassen und über die Schwelle zu treten und hinauszugehen in das Leben.
Sie tun das, weil Gott ihnen von seiner Kraft gibt, von seinem Geist. Weil Gott sie in seinen Segen hineinstellt.

„Gott gab uns seinen Geist“, schreibt Paulus an die Gemeinde in Rom und beschreibt, was sich damit verändert: „Er gab uns seinen Geist und tat damit für uns, was er für Jesus Christus tat: Er gab ihm Leben und machte auch uns lebendig.
Wir sind jetzt freie Menschen durch den Geist Gottes. Wer aus der Kraft Gottes lebt, hat ihn vor Augen und hat teil an seiner Lebendigkeit.
Gott bestimmt jetzt, wer ihr seid. Sein Geist wohnt in euch und bestätigt und bekräftigt euch, dass ihr zu ihm gehört. Der Mensch, den Gott in euch geschaffen hat, lebt, weil Gott ihn festhält, schützt und bewahrt.“

So beschreibt Paulus wie es ihm und den Freunden Jesu ergeht.
Durch Gottes Geist fühlen sie wieder Leben in sich. Vieles war in ihnen erstorben und ist jetzt neu erwacht: Die Lust, unter Leute zu gehen. Die Freude, am Morgen aufzustehen. Das Interesse am dem, was um sie herum geschieht.
Gottes Geist macht sie frei von der Schwellenangst, die sie eben noch einschnürte. Was sie erwartete, das würde im Zweifelsfall nie mehr so schön werden wie früher – so hatten sie gedacht. Aber jetzt fassen sie Mut: Das Alte werden sie verlassen und ins Unbekannte gehen – mit Gottes Geist!
Sie gehen dorthin wo sie niemanden kennen, zu den Parthern und Medern und Elamitern und wen sie noch alles treffen. Das Wunder ist: Die Fremden verstehen sie und sie verstehen die Fremden. Das Unbekannte wird zum Vertrauten.
In all dem erfahren sie, dass Gottes Geist sie bewahrt. Auch wenn sie ihre Lebensräume wechseln – sie bleiben dieselben, weil Gott bei ihnen bleibt.
Gerade dadurch werden sie andere Menschen: Menschen, die auf Gott vertrauen. An den Schwellen ihres Lebens und in den Räumen dazwischen.
Und Menschen, die davon erzählen müssen. Die anderen, wildfremden Menschen erzählen müssen, was sie im Leben trägt und begeistert.

Diese anderen, wildfremden Menschen lassen sich von der Begeisterung der Freunde Jesu anstecken. Der Geist erfasst auch sie, weht alle Bedenken weg und entzündet ihre Herzen.
Dass das so war und immer noch so ist – das feiern wir heute. Wir feiern, dass Gott Menschen begeistert.
Von Gott begeistert werden, jeden Tag neu. Das ist Versprechen von Pfingssten.
Von Gott begeistert werden: Damit ich die Kraft habe, – wenn es an der Zeit ist – einen Lebensraum über eine Schwelle zu verlassen und mich von dem, was seine Zeit gehabt hat, zu verabschieden.
Damit ich mich freue, über eine Schwelle einen Lebensraum zu betreten und das Neue dort mit Staunen zu entdecken.
Damit ich mich für das begeistere, was jeder Lebensraum an Schönem und Einmaligem für mich bereit hält – und darauf vertraue, dass ich das Schwierige und Traurige, das mir widerfährt, mit Gottes Hilfe tragen kann.
Damit ich erfahre, dass Gott mich auf meinem Weg hält, beschützt und bewahrt – dass ich, wenn ich über eine Schwelle stolpern, wieder auf die Beine komme.
Was ich mir wünsche – für Lea Sophie, für euch und Sie, für mich – das ist verpackt in noch eine Frage zum Um-die-Ecke-Denken:
Was einer braucht, um in einer herausfordernden Situation schnell zu reagieren.
Die Auflösung? Ihr werdet drauf kommen.

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