Glückliche Sehnsucht

Der Mann spannt jede Muskel an seinem Körper an. Mit seiner Schulter stemmt er sich gegen den riesigen Stein vor ihm. Der Felsblock setzt sich in Bewegung und rollt eine Umdrehung den Hang hinauf.
Er ist kurz vor dem Ziel. Nur noch einmal durchatmen, die letzten Kräfte sammeln, noch ein Stoß mit dem Körper gegen den Stein. Da dreht das Übergewicht den Felsblock zurück und er rollt den ganzen Abhang wieder hinunter.
Der Mann geht ihm mit schwerfälligem Schritt hinterher. Unten angekommen beginnt er mit leerem Gesicht, den Stein erneut über den Berghang zu wuchten.
So erzählt eine alte griechische Sage vom Sisyphos, dem König von Korinth. Die Götter haben ihn dazu verdammt, auf ewig den Felsblock einen Abhang hinaufzuwälzen ohne jemals auf dem Gipfel anzukommen. Und Sisyphos leidet – an der Aufgabe, an sich, an den Göttern.

Manchmal geraten Menschen in Situationen, die schier unmenschlich sind. Sie zu ertragen, übersteigt alles Vermögen. Sie auszuhalten, übersteigt alles Verstehen.

Jeremia zum Beispiel, der biblische Prophet. Er stammte aus einer alten Priesterfamilie. Er kannte sich aus mit dem Glauben und den Bräuchen. Als Gott ihn zum Propheten berufen wollte, leistete er Widerstand. Er rang mit Gott. Doch der war stärker.
Jeremia wurde Prophet und hatte nun seine Aufgabe, die ihn einsam machte: Unangehme Wahrheiten musste er laut aussprechen. Aber wer will die schon hören?
Er quälte sich mit seinem Auftrag und wurde ihn doch nicht los. Immer wieder brach es aus ihm heraus.

HERR, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich. Denn sooft ich rede, muss ich schreien; »Frevel und Gewalt!« muss ich rufen. Denn des HERRN Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich. Da dachte ich: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer, in meinen Gebeinen verschlossen, dass ich's nicht ertragen konnte; ich wäre schier vergangen. Denn ich höre, wie viele heimlich reden: »Schrecken ist um und um!« »Verklagt ihn!« »Wir wollen ihn verklagen!« Alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle: »Vielleicht lässt er sich überlisten, dass wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen.« Aber der HERR ist bei mir wie ein starker Held.
(Jeremia 20,7-11a -- www.die-bibel.de)

Jeremia ringt. Er ringt mit seinem Gott und dem Auftrag, der ihm zu schwer geworden ist. Er klagt Gott an: Du hast mich verführt wie ein Liebhaber sein Mädchen.
Jeremia wollte weder Prophet werden noch sein Leben lang bleiben. Er hat es nicht gewollt, immer wieder als das religiöse Gewissen auftreten zu müssen. Er hat es nicht gewollt, für seine Worte Hass zu ernten. Er hat nicht zu dem werden wollen, dem man mit Misstrauen und Abscheu begegnet.
Aber er hat keine Wahl, es gibt kein Zurück: Gottes Wort brennt in ihm. Er muss reden, schreien, auch wenn ihn keiner hören will. Auch wenn er sich selbst dagegen aufbäumt. Er muss weiter reden, weiter leiden – an den Verhältnissen, an seinem Auftrag, an sich und damit vor allem an Gott.

Wir sind nicht Sisyphos und nicht Jeremia. Dennoch gibt es Situationen, die schier unmenschlich sind und unser Vermögen und Verstehen übersteigen.
Ich denke an den Terror, der nicht nur im Irak das Leben unmöglich macht. Menschen wird mit menschenverachtender Gewalt alles genommen, was sie zum Leben brauchen. Sie verlieren die Menschen, die ihnen Halt geben. Sie verlieren das Zuhause, das ihnen Schutz gibt.
Sie verlieren die Arbeit, die ihnen Aus- und Einkommen gibt. Sie verlieren sich im Leid und im Schmerz. Sie verlieren – vielleicht – den Glauben an Gott.
Ich denke an das Leid, das in unserem unmittelbaren Umfeld geschieht. Ich erinnere mich an das Entsetzen über den tödlichen Autounfall bei Oevenum oder an die Familientragödie in Midlum im vergangenen Jahr.
Ich denke auch an das verzweifelte Mitleiden mit Menschen, denen wir uns verbunden fühlen. Mit Menschen, die krank sind, die leiden, denen wir gern Trost spenden würden – ohne einen Trost für sie zu finden.
Schließlich sind da die Situationen, in denen wir selber trostlos sind, in denen uns kein Trost mehr erreicht, sondern jeder Versuch wie Hohn klingt. Die Augenblicke, in denen wir vor den Scherben unserer Lebenspläne stehen, weil unsere Liebe nicht mehr gewollt wird, weil unsere Arbeitskraft überflüssig ist. Die Momente, in denen der Tod uns Menschen nimmt, deren Leben mit unserem Leben eng verwoben war.
Das sind Situationen, die schier unmenschlich erscheinen, weil sie unser Vermögen und Verstehen übersteigen. Aber wenn sie uns einmal gefangen haben, müssen wir uns ihnen stellen. Wie gehen wir dann mit ihnen um?

Sisyphos hat seine Art gefunden, mit seinem unmenschlichen Leiden umzugehen. Immer und immer wieder wälzt er den Felsblock den Berg hinauf. Immer und immer wieder steigt er ihm den Berg wieder hinunter und beginnt von Neuem.
Er sieht nur noch den Stein, den Berg und seine Aufgabe. Woher der Stein und der Berg und die Aufgabe kommen, das vergisst er. Er fragt nicht mehr Warum? Oder: Wozu?
Er wählt den Stein als sein selbst gewolltes Leben, er nimmt den Berg als sein selbst gewähltes Zuhause, er erledigt die Aufgabe als seine selbst gesuchte Bestimmung. So müssen wir ihn uns als einen glücklichen Menschen vorstellen, sagt der französische Philosoph Albert Camus.
„Ich bin ganz nüchtern geworden“, sagte mir einmal eine Frau. „Ich sehe nur noch auf das, was ich sehen kann.“ Sie gleicht in ihrem Umgang mit ihrem Leben dem Sisyphos: Der Schmerz über den Verlust eines lieben Menschen ist der Schmerz, den es auszuhalten gilt. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Der Schmerz ist ein Gefühl – das vielleicht wieder abklingt, oder auch nicht. Er ist eine Aufgabe, die ich verrichte – die ich vielleicht erledigen kann, oder auch nicht. Vielleicht bleibt der Stein irgendwann auf dem Gipfel liegen, oder auch nicht.
Aber es ist nur mein Schmerz, mein Leiden, das kein Woher und kein Wozu hat, das keinen Gott kennt und braucht. So saß die Frau vor mir: Ganz nüchtern, ganz ruhig, vielleicht sogar glücklich. Weil sie für ihr Leben sagen konnte: Es ist, wie es ist.

Eine andere Art, mit seiner unmenschlichen Aufgabe umzugehen, hat Jeremia gefunden.
Ich höre, wie Jeremia klagt und alles raus lässt, was sich in ihm aufgestaut hat. Er fragt nach dem Warum und dem Wozu. Er fordert Antworten – von Gott. Ihn lässt er nicht los. Ihm erspart er nicht, wie es ihm geht. Ihn lässt er die Verzweiflung, die Wut, die Angst, den Schmerz spüren.
Jeremia schreit seine Gefühle Gott ins Ohr. Und die Gefühle beginnen sich zu verändern. Erinnerungen werden wach an Zeiten, in denen alles begann, was ihn an Gott bindet. Wie in einer langjährigen Liebe, die zu Ende scheint, auf einmal wieder ein neues Brennen zu spüren ist.
Jeremia ist nicht am Ende. In seiner Verzweiflung taucht auf einmal dieses große „Aber“ auf: „Aber der Herr ist bei mir wie ein starker Held.“
Er spürt in seinem Leiden, in seiner Verzweiflung plötzlich wieder die Nähe Gottes. Deshalb müssen wir ihn uns als glücklichen Menschen vorstellen.

„Wie eine Hirschkuh im trockenen Bachtal / nach frischen Wasserströmen schreit – / so sehne ich mich, Gott, nach dir!“ Davon, ein glücklicher Mensch zu sein, träumt auch der Beter von Psalm 43.
Zweieinhalb Jahrtausende trennen uns in der Zeit von diesem Beter. Aber vielleicht werden seine Worte doch auch unsere Worte: „Meine Seele dürstet nach Gott, / nach dem lebendigen Gott.“
Es sind keine Worte, die sich in das fügen, was ich ertragen muss. Sie nehmen das Leiden nicht einfach hin. Anders als Sisyphos träumen sie von einem Leben ohne Leiden. Da wohnt immer noch ein Sehnen in ihnen.
Es sind aber auch keine Worte, die sich gegen das stellen, was sich mir entgegenstellt. Sie fügen sich in das Leiden ein. Und wollen doch nicht in ihm bleiben. Sie suchen nach der Hand, die sie herausreißt.
Dieses Sehnen und Suchen – das ist das Band zu Gott. So lange im Leiden das Sehnen bleibt, ist Hoffnung.
Dann spüren wir uns selber, was uns ausmacht und bewegt, was uns umtreibt. Dann leben wir. Und dann taucht aus dem Sehnen in uns womöglich auch das große Aber auf:
„Aber Gott, der Herr, ist bei mir wie ein starker Held.“

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