Die Geschichte von Paula und Frau Heil und Kurt
Kurt schaut nach draußen. Die Blätter
an der Linde bewegen sich im Wind. Die Sonne lässt sie leuchten, in
gelb, orange und grün. Durch das gekippte Fenster trifft ein Hauch
der feucht-frischen Herbstluft sein Gesicht.
Trotz des geöffneten Fensters ist es
in dem Zimmer stickig: Abgestandene Luft, die nach
Desinfektionsmittel und kaltem Mittagessen riecht. Die Schwester hat
das Essen noch nicht abgeräumt. Es steht noch auf der Ablage des
Nachtschranks.
Nur wenig hat Paula davon gegessen. Bei
jedem Löffel, den Kurt ihr hinhielt, musste er sie überreden, den
Mund zu öffnen. Es tat ihm weh, wie er sie bei jedem Bissen würgen
sah.
Er kann seine Frau verstehen.
Kartoffelbrei aus der Tüte, eine fertig angerührte Soße, pürierte
Erbsen. Nie würde sie ihm so etwas vorsetzen. Bei ihr ist immer
alles frisch zubereitet, am liebsten aus dem eigenen Garten. Wie
lange sie immer braucht, bis alles abgeschmeckt ist.
Ob sie das jemals wieder schaffen wird?
Am Herd in ihrer Küche für sie beide zu kochen? Wie sehr wünscht
er sich das. Wenn er jetzt manchmal allein an der Spüle steht, fällt
ihm auf, wie schön das war: Sie wusch ab, er trocknete ab. Dabei
erzählten sie miteinander.
So war das. So hätte das bleiben
sollen. Ist es aber nicht. Vor acht Tagen hat er sie im Garten
gefunden. „Ich häng’ nur schnell die Wäsche auf“, hatte sie
gesagt. Als sie nicht wiederkam, ging er irgendwann nach draußen, um
nach ihr zu schauen. Da sah er sie liegen. Die Arme und Beine ganz
verdreht, das Gesicht verzogen.
Der Notarzt war schnell da. Er kann
sich nicht mehr erinnern, dass er ihn angerufen hat. Kurz danach kam
auch der Krankenwagen. „Schlaganfall“, sagte ihm der Arzt. „Sie
hat Glück gehabt, dass Sie sie so schnell gefunden haben.“
Aber was ist daran ein Glück, dass sie
hier jetzt in diesem stickigen Zimmer liegt? Dass das Essen nicht
schmeckt und muffig riecht, ist noch das Geringste.
Jedes Wort fällt ihr schwer. Lange
muss sie nach dem Richtigen suchen. Wenn sie es gefunden hat, kann er
sie kaum verstehen. Oft schüttelt sie den Kopf, weil sie schon
wieder nicht sagen konnte, was ihr doch auf der Zunge lag.
Am schwersten fällt es ihm, ihr in die
Augen zu schauen. Immer wieder füllen sie sich mit Tränen. Jeder
Blick eine Bitte an ihn, doch etwas zu tun. Aber was soll er tun? Er
würde sie so gern voller Mut und Zuversicht anschauen. Oft muss er
sich abwenden, wenn sie ihn anschaut. Er sieht ihre Verzweiflung –
und in ihm steigt sie auch auf. Was soll nur werden?
Was soll nur werden? Paula ist allein
in ihrem Zimmer. Ihr Kurt ist gegangen. Sie freut sich, dass er jeden
Tag die Fähre nimmt, um sie zu besuchen. Immer um die gleiche Zeit
geht die Tür auf und sie hört sein „Hallo, meine Pauliline!“
Fröhlich soll es klingen. Aber sie hört auch, wie sehr er sich
diese Fröhlichkeit abringt.
Dann sitzt er bei ihr und erzählt ihr,
was ihm so einfällt. Der Hund von den Nachbarn war wieder mal in
ihrem Garten. Die Hansens sind verreist.
Sie schließt dann irgendwann die
Augen, damit er aufhört zu reden. Er soll einfach nur dasitzen und
ihre Hand halten. Das tut gut. Alles andere ist zu viel.
Was interessieren sie der Hund und die
Hansens? Sprechen würde sie gern. Sich mit der linken Hand kratzen.
Aufstehen, nach draußen gehen. Zuhause sein. Aber sie kann es nicht.
Sie kann es einfach nicht. Nie mehr? Oder noch nicht wieder?
Darüber würde sie gern mit ihm reden.
Wenn sie denn sprechen könnte. Aber selbst wenn: Würde er ihr
zuhören? „Das wird schon wieder“, sagt er immer und tätschelt
ihre Hand. In seinen Augen sieht sie die gleiche Verzweiflung, die
auch in ihrem Herzen wohnt.
Es klopft an der Tür. Vorsichtig wird
sie geöffnet. Eine junge Frau kommt herein. Sie könnte ihre Tochter
sein. Dunkle Haare. Ein freundliches Gesicht, blitzende Augen.
„Guten Tag, Frau Schulze, ich bin
Frau Heil, die Krankenhausseelsorgerin.“ Paula schmunzelt: Frau
Heil.
„Lächeln Sie über meinen Namen?“
Paula nickt. „Da sind sie nicht die erste. Ich find’s ja selber
ein lustiges Zusammentreffen von Beruf und Name. Aber stellen Sie
sich vor, ich würde Unheil heißen.“ Paula muss wieder schmunzeln
und schüttelt mit dem Kopf.
„Darf ich mich einen Augenblick zu
Ihnen setzen?“, fragt Frau Heil. Paula nickt. Frau Heil rückt sich
den Stuhl zurecht, auf dem Kurt auch immer sitzt.
„Wie geht es Ihnen, Frau Schulze?“
Frau Heil schaut sie an. Paula schaut Frau Heil an. Der Arzt fragt
das auch immer: „Na, wie geht es uns denn heute, Frau Schulze?“
Bevor sie antworten kann, schaut er schon in seine Aufzeichnungen.
Was sie zu sagen hat, das will er gar nicht hören.
Aber Frau Heil will es. Jedenfalls
schaut sie ihr in die Augen. So wie sie auf dem Stuhl sitzt, hat sie
viel Zeit mitgebracht. Paula sucht nach ihren Worten.
„Ich – kann – nicht – so –
gut – sprechen“, sagt Paula. Frau Heil nickt und legt ihre Hand
auf Paulas Hand. „Dabei hätten sie soviel zu sagen, nicht wahr?
Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen das unglaublich schwer fällt.“
Paula nickt und ihre Augen füllen sich
schon wieder mit Tränen. Sie will das nicht, aber sie kommt nicht
dagegen an. Sie drückt die Hand von Frau Heil.
„Es – ist – so – schwer, –
dass – ich – nicht – kann“, sagt sie. Frau Heil nickt und
erwidert den Händedruck. Paula fängt an zu weinen. Frau Heil wendet
sich nicht ab, wie Kurt es immer tut. Sie schaut ihr weiter fest in
die Augen. Paula spürt: Sie muss nichts sagen. Frau Heil weiß auch
so, wie es ihr geht.
Sie weiß, wie sehr sie es sich
wünscht, in die Zeit vor dem Schlaganfall zurückzukehren. Sie hört
die Frage, die ständig in ihrem Kopf umherkreist: Warum musste
ausgerechnet sie das treffen? Sie fühlt die Angst, mit der sie in
die Zukunft schaut. Sie braucht das alles Frau Heil nicht zu sagen.
Sie braucht sie nur anzuschauen.
„Ich mache Ihnen einen Vorschlag“,
sagt Frau Heil. „Wir beten gemeinsam.“ „Wie soll das gehen?“,
fragt sich Paula. „Ich beginne das Gebet – und dann sind wir
still. Und im Stillen sagen Sie Gott, was Sie ihm sagen wollen. Wie
es Ihnen geht. Was sie fürchten. Was Sie hoffen. Was Sie ärgert.
Und wenn Sie meinen, Sie sind fertig – dann drücken Sie meine
Hand. Dann bete ich für uns das Vaterunser. Wenn Sie können und
mögen, beten Sie es mit. Sind Sie mit dem Vorschlag einverstanden?“
Paula nickt und drückt die Hand.
„Barmherziger Gott“, beginnt Frau Heil, „du siehst unser Herz
und hörst unsere Worte. Wir sagen dir, was uns bewegt.“
Dann schweigt sie und Paula denkt.
Warum sie einfach so umfallen musste. Ob sie jemals wieder richtig
sprechen kann. Wie es nur werden soll mit ihr.
Sie denkt all das, was sie sonst auch
immer denkt. Dennoch fühlt es sich anders an. Frau Heil hält ihre
Hand und schaut sie immer noch aufmerksam an. Und irgendwie ist auch
Gott da und hört ihr zu und sieht sie freundlich an.
Da weiß Paula: Die Hand, die sie hält,
hält sie und wird sie weiter halten. „Von allen Seiten umgibst du
mich, Gott, und hältst deine Hand über mir.“
Sie drückt die Hand. Frau Heil beginnt
zu beten. „Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein
Reich komme…“. Da stimmt auch Paula mit ein und betet: „Dein
Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.“
Paula lässt die Hand erst los, als
Frau Heil schon lange den Segen gesprochen hat. „Danke“, sagt
sie. „Frau – Heil – der – Name – passt.“ Frau Heil
lächelt. „Ich komme nächste Woche wieder. Bis dahin alles Gute,
Frau Schulze.“
„Hallo Pauliline“. Es ist der
nächste Tag. Kurt steht in der Tür und sieht zu Paula. „Hallo –
mein – Kurtili“, sagt Paula. Kurts Herz macht einen Sprung. Paula
klingt heute anders. Wärmer, fröhlicher. Er schaut sie an. Die
Augen leuchten, sie lächelt.
Er geht zu ihrem Bett, sie streckt ihm
die rechte Hand entgegen. „Drück – mich!“, sagt sie. Kurt
drückt sie. Und Paula drückt ihn mit ihrem gesunden Arm.
Kurt rückt sich seinen Stuhl zurecht
und setzt sich. „Du bist ja richtig vergnügt heute“, sagt er.
Paula strahlt und hält ihm die Hand hin. Er legt seine Hand hinein.
Paula drückt die Hand und lächelt und Kurt lächelt und drückt
zurück.
„Was ist denn mit dir geschehen?“,
fragt er. „Ein – Wunder!“, antwortet Paula.
Das ist die Geschichte von
Paula und Kurt und Frau Heil, die wahr ist, weil sie erfunden ist. Sie erzählt von der Macht des
vertrauensvollen Gebets. So ist in der Übertragung der Basisbibel
ein Abschnitt aus dem Jakobusbrief überschrieben:
"Wer von euch leidet,
soll beten.
Wer fröhlich ist,
soll Loblieder singen.
Wer von euch krank und schwach ist,
soll die Ältesten der Gemeinde zu sich
bitten.
Sie sollen für ihn beten
und ihn im Namen des Herrn mit Öl
salben.
Das Gebet,
das ganz im Vertrauen auf Gott
gesprochen wird,
wird den Kranken retten.
Der Herr wird ihn wieder aufstehen
lassen
und ihm vergeben,
wenn er Schuld auf sich geladen hat.
Überhaupt sollt ihr einander eure
Schuld bekennen
und füreinander beten,
damit ihr gesund werdet.
Das Gebet eines Menschen,
der nach dem Willen Gottes lebt,
kann durch seine Kraft viel bewirken."
(Brief des Jakobus 5,13-16 -- www.basisbibel.de)
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