Goldregen unterm Tor

Es ist noch einmal der letzte Tag. Ich sitze am Bett der Mutter und halte ihre Hand und befeuchte ihre Lippen und lausche auf ihre Atemzüge. Ich höre am Telefon die Nachricht, die mich im Magen trifft und mir die Knie weich macht, die ich dennoch nicht begreife. Ich stehe in der Trauerhalle am offenen Sarg und sehe das ferne Lächeln und spüre die kalte Haut und suche nach Leben.
Es ist noch einmal dieser letzte Tag. Der Schmerz wird wieder wach, der doch noch nicht vergangen ist, sondern nur leicht schlummerte. Die Tränen, von denen ich hoffte, sie seien schon alle geweint, fließen von neuem.
In den Schmerz mischen sich die Erinnerungen, durch die Tränen huscht ein Lächeln. Weißt du noch? Kleine Geschichten aus dem Alltag mit ihr fallen mir ein. Gesten und Eigenarten, die zu ihm gehörten. Sie wärmen das Herz. Er ist noch lebendig in ihm, sie wohnt dort weiter.
Und doch: Der letzte Tag bleibt der letzte Tag. Er hat abgebrochen, was hätte weiter gehen sollen, müssen. Unwiderruflich hat er die Zukunft vergangen gemacht.

„Wer weiß, wie nahe mir mein Ende! Hin geht die Zeit, her kommt der Tod; ach wie geschwinde und behände kann kommen meine Todesnot“ (Ämilie Gräfin von Schwarzburg Rudolstadt, Wer weiß, wie nahe mir mein Ende).
Mein letzter Tag. Ein Tag, von dem keiner weiß, wie und wann er kommt. „Wie gut“, sagen die einen. „Ich will auch über mein Sterben selbst bestimmen“, sagen andere.
Den einen kommt dieser Tag gar nicht in den Sinn – so unwirklich weit weg scheint er ihnen. Andere ahnen seine Nähe, schauen aber lieber nicht so genau hin – er kommt von selber.
Wer dennoch davon spricht, der stößt oft genug auf taube Ohren. Kaum einer mag hören, wenn einer, den er an seiner Seite haben will, vom eigenen Tod spricht.
Und doch: Der Tod gehört zum Leben, es läuft auf ihn zu. Von Menschen, die dem Tod einmal nah waren und ins Leben zurückfanden, heißt es, dass sie anders leben.
Sie haben schon einmal ihren letzten Tag erlebt, der dann doch nicht der letzte Tag wurde. Aber weil sie das erfahren haben, wird jeder Tag ein wertvolles Geschenk.
Sie haben zudem eine Ahnung davon, dass sie jenseits des Todes erwartet werden. Das nimmt ihnen die Angst vor ihrem wirklich letzten Tag.

Was kommt an und nach diesem letzten Tag? Für die, die wir gehen lassen mussten. Für uns selber, wenn es soweit ist.
Alle, die mein Vater mir anvertraut,
werden zu mir kommen.
Und ich weise niemanden ab,
der zu mir kommt.
Denn dazu bin ich vom Himmel herabgekommen:
Nicht, damit ich das tue,
was ich selbst will,
sondern was der will,
der mich beauftragt hat.
Und er will von mir,
dass ich keinen von denen verliere,
die er mir anvertraut hat.
Am letzten Tag werde ich sie alle vom Tod erwecken.
Denn das ist der Wille meines Vaters:
Alle, die den Sohn sehen
und an ihn glauben,
werden das ewige Leben erhalten.
Am letzten Tag werde ich sie vom Tod erwecken.
(Johannesevangelium 6,37-40 – www.basisbibel.de)
Wir bitten jedes Jahr die Konfirmandinnen und Konfirmanden, sich davon ein Bild zu machen: Wie stellt ihr euch das vor, was nach dem letzten Tag, nach dem Tod kommt. Malt ein Bild.
In diesem Jahr haben viele der Jugendlichen ganz ähnliche, klassische Bilder gemalt: hier die Erde, dort den Himmel, dazwischen ein Tor, ein Weg von der Erde durch das Tor in den Himmel, ein Mensch, der diesen Weg geht.
Mir gefällt vor allem das Tor, das oft in der Mitte des Bildes zu sehen war: Der Tod ist ein Tor, durch das ich trete.
Wenn ich das tue an meinem letzten Tag, wechsle ich Raum und Zeit. Ich verlasse den Raum dieser Welt und betrete Gottes Raum. Ich trete aus der Zeit meines Lebens heraus und in die Ewigkeit Gottes hinein, die keine Zeit kennt.
Ich tue das, so stelle ich es mir vor, wie Goldmarie. Sie tritt im Märchen durch ein Tor und wird von Frau Holle mit Gold überschüttet, weil sie das Brot aus dem Ofen geholt und den Apfelbaum geschüttelt und die Betten ausgeschüttelt hat.
Der Schritt durch das Tor verwandelt mich. Mein kleines Leben wird mit Gold überschüttet. Ich sehe mit einem Schlag, wie reich es ist. Das Schöne an meinem Leben beginnt zu glänzen: All das, was ich geschafft habe. Was ich anderen gegeben habe. Was ich zuende gebracht habe.

Manche Konfirmanden malten hinter dem Tor eine Verzweigung: Der Weg kann in den Himmel gehen, aber auch in die Hölle führen.
So wie das Märchen von der Goldmarie erzählt, aber auch von der Pechmarie. Die tritt unters Tor und hat Pech. Für das, was sie versäumt hat, überschüttet Frau Holle sie mit Pech. Es klebt an ihr wie all das Schlechte, das sie getan hat.
Wie wird das sein mit mir? Wo habe ich das Brot im Ofen gelassen und den Apfelbaum nicht geschüttelt und die Betten nicht ausgeschüttelt? Wo war ich zu faul für andere und zu selbstverliebt? Die Fragen muss ich mir stellen, hoffentlich nicht erst am letzten Tag.
Aber: Frau Holle ist nicht Gott und Gott ist nicht Frau Holle. Keiner, der bei Gott unter das Tor tritt, hat Pech. Vor Gott beginnt alles zu glänzen. Auch das, wo ich meine, gescheitert zu sein und versagt zu haben. An anderen, an mir selber.
Dass all das Pechschwarze da ist in meinem Leben, kann ich jetzt schon sehen, wenn ich mich traue hinzuschauen. An meinem letzten Tag werde ich nicht anders können.
Gott wird es mir zeigen, dort unter dem Tor. Aber ich werde es anschauen können, weil Gott auch das Dunkle an mir zum Glänzen bringt.

„Alle, die mein Vater mir anvertraut, werden zu mir kommen. Und ich weise niemanden ab.“ So sagt Jesus. „Am letzten Tag werde ich sie alle vom Tod erwecken.“
Manche Konfirmanden malten einen Engel in das Tor. Er steht dort und wartet auf den Menschen, um ihn dort freundlich zu empfangen.
Mir gefällt auch das: All die Menschen, von denen ich hier Abschied nehmen muss, werden erwartet. Die gestorben sind, verschwinden nicht im Nichts. Sie gehen an einen Ort, wo ein hilfsbereiter Engel auf sie wartet. Der schaut ihnen entgegen und wenn sie da sind, begrüßt er sie: „Da bist du ja“.
Gott hält sie ihr ganzes Leben im Auge behalten und schaut sie auch jetzt freundlich an.
Und ich werde ebenso erwartet am Tor zum Himmel und werde hindurchgeführt und erlebe, wie Gott mein Leben ganz neu zum Glänzen bringt.
Jeder wird erwartet, sagt Jesus. Auch du. Auch die Menschen, die dir lieb sind.

Im Märchen tritt Goldmarie durch das Tor und kehrt so zurück in ihr altes Leben, das dennoch neu wird.
Im wirklichen Leben und Sterben führt das Tor nicht zurück zu den Menschen. Es führt von ihnen weg. Es bedeutet Trennung zwischen denen, die gehen, und denen, die bleiben.
Was kann da denen, die bleiben, ein Trost sein und Hoffnung geben? Die Konfirmanden sind über unseren Friedhof gegangen und haben die Grabsteine befragt: Was haben die Menschen an Worten darauf geschrieben, die Hoffnung machen und Trost geben?
Sie kamen mit einem Ergebnis zurück: Die Liebe bleibt. Der Tod kann das Band nicht durchreißen, das die Liebe zwischen Menschen knüpft. Wer stirbt, geht zu Gott. Und wer geht, bleibt im Herzen.
Das nimmt nicht den Schmerz weg, dass einer geht. Der nimmt allenfalls ab. Und doch ist es ein Trost: Die Liebe gilt auch über den letzten Tag hinaus.
Sie tut das, weil es Gottes Liebe ist, die sich in unserer Liebe spiegelt. Diese Liebe umgreift alles. Für Gott und die Liebe gibt es keinen ersten und keinen letzten Tag. Sie waren immer schon da. Sie werden immer bleiben. Über alle letzten Tage hinaus.

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