Segensduft

Der kleine Junge geht Abend für Abend mit seinem Schnuffelteddy ins Bett. Hat der Vater das Gute-Nacht-Lied gesungen hat, schnuffelt der Junge an seinem Teddy, bis er einschläft. Schaut die Mutter später nach dem Jungen, liegt der Teddy immer noch über der Nase.
Es gibt einen Zwilling zu dem Schnuffelteddy. Der wohnt im Wäscheschrank. Alle paar Wochen tauschen die beiden die Plätze. Der Teddy aus dem Bett wandert mit einem Umweg über die Waschmaschine in den Schrank. Der Teddy aus dem Schrank nimmt den Platz im Bett ein.
So ist es auch an diesem Abend geschehen, heimlich hat die Mutter die Teddyzwillinge ausgetauscht. Jetzt kuschelt sich der Junge in sein Bett. Er kramt den Schnuffelteddy unter der Bettdecke hervor. Er legt ihn sich an die Nase – und stutzt.
Er schnuffelt, er hält den Teddy vor die Augen, er schnuffelt wieder. Was er in der Hand hält, sieht aus wie sein Teddy. Aber etwas stimmt da nicht.

Kein anderer Sinn geht so direkt in unser Gehirn wie das Riechen, heißt es. Der Mensch kann 10 000 bis 50 000 verschiedene Düfte unterscheiden. Teddy ist nicht gleich Teddy. Auch wenn sie gleich aussehen.
Nichts ist so sehr mit Erinnerungen verbunden wie Gerüche. Ich kann mich nicht erinnern, wie etwas riecht. Aber wenn ich etwas rieche, erinnere ich mich, wann und woher ich diesen Geruch kenne. Ein Geruch steigt in der Nase und Bilder steigen im Gehirn auf. Und wenn ich etwas sehe und es riecht anders, als ich es gespeichert habe, werde ich stutzig.

„Jesus war in Betanien“ (Markusevangelium 14,3a), erzählt das Markusevangelium. Ein Dorf vor den Toren von Jerusalem. Es riecht nach einer staubigen Straße in der Mittagssonne, nach Thymian und Rosmarin.
„Er war zu Gast bei Simon, dem Aussätzigen“ (Markusevangelium14,3a), um bei ihm zu essen. Die kühlere, etwas abgestandene Luft eines kleinen Hauses. Der Duft von frisch gebackenem Fladenbrot, von Knoblauch in Olivenöl. Aber auch der strenge Geruch von verschwitzten Menschen in einem zu kleinen Raum.
„Als Jesus sich zum Essen niedergelassen hatte, kam eine Frau herein. Sie hatte ein Fläschchen mit Salböl dabei. Es war reines, kostbares Nardenöl. Sie brach das Fläschchen auf und träufelte Jesus das Salböl auf den Kopf.“ (Markusevangelium 14,3b.)
Ein süßer, holziger, erdiger Duft breitete sich um Jesus aus. Nach und nach überdeckte das Öl alle anderen Gerüche.

Die Frauen hielten die Luft an. Welch wunderbarer Duft. Tief atmeten sie ihn ein. Fast war es, als schmeckten sie ihn auf der Zunge. Ein Fest für die Sinne, das die Seele zum Tanzen brachte.
Nie hätten sie sich solch ein Öl leisten können. Die Frau, die das Fläschchen aufbrach, musste reich sein, sehr reich. Und mutig, sehr mutig.
Das, was sie da tat, war eine öffentliche Liebeserklärung. Eine sinnliche dazu. An einen Mann, der nicht ihrer war. Sie kam ihm zärtlich nahe. Viel näher, als es sich schickte.
Aber mit dieser Frau, einer von ihnen, kamen auch sie Jesus nahe. Tauchten ein in den Duft, der jetzt von ihm ausging. Diesen Duft sogen sie auf und speicherten ihn für immer ab.

Die Männer an Jesu Seite rümpften die Nase über die Frau und das, was sie tat.
„Einige ärgerten sich darüber und sagten zueinander: 'Wozu verschwendet sie das Salböl? Das Salböl war mehr als dreihundert Silberstücke wert. Man hätte es verkaufen können und das Geld den Armen geben.' Sie überschütteten die Frau mit Vorwürfen.“ (Markusevangelium 14,4-6.)
Heiliger Zorn und gerechte Wut war, was sie ergriff. Der Arbeitslohn eines ganzen Jahres floss Jesus durch die Haare und verflüchtigte sich zu einem wohlriechenden Nichts.
Das stank zum Himmel. In Jerusalem saßen die Blinden auf der Straße und bettelten, wussten die Witwen heute nicht, wovon sie morgen leben sollten.
Und ihr Gastgeber, Simon, der Aussätzige: Der war genauso darauf angewiesen, dass andere mit ihm teilten, was er zum Leben brauchte. Trotzdem lud er sie alle zu sich ein.
Das musste diese reiche Frau doch sehen. Oder konnte sie sich in ihrem Reichtum keine Armut vorstellen? Dann war sie hier falsch. War sie bei Jesus falsch.
Auch der konnte doch unmöglich gut finden, was die Frau tat.

„Aber Jesus sagte: 'Lasst sie doch! Warum macht ihr der Frau das Leben schwer? Sie hat etwas Gutes an mir getan. Es wird immer Arme bei euch geben, und ihr könnt ihnen helfen, so oft ihr wollt. Aber mich habt ihr nicht für immer bei euch. Die Frau hat getan, was sie konnte: Sie hat meinen Körper im Voraus für mein Begräbnis gesalbt.'“ (Markusevangelium 14,6-8.)
Am liebsten hätte Jesus geschwiegen und still genossen. Das Öl, das warm von der Hand der Frau auf sein Haar tropfte und über seinen Kopf lief. Den Duft, der ihn einhüllte wie eine unsichtbare Haube, an der alles außen abprallte.
Aber die so vernünftigen Freunde holten ihn zurück, wie so oft, wenn er allein mit sich und Gott sein wollte. Sie erinnerten ihn an seinen Auftrag: Für andere da sein. Ihnen Gott nah bringen. Und das Leben. Immer weiter und weiter, ohne Pause.
Ach, das Leben. Sie dachten, er hätte es in der Hand. Er hätte alles in der Hand. Er würde geben und geben und geben, bis alle genug hätten.
Ja, das tat er auch: Geben. Sein Leben sogar, wenn es sein musste. Und es musste sein, das sah er kommen.
Aber wer gibt, der muss auch empfangen. Sonst blutet er aus. Die Frau machte ihn zu einem, der empfing.
Sie beschenkte ihn mit dem, was sie hatte. Einem Duft, der nicht blieb und sich doch tief einprägte. Einer Nähe, die wärmte und gut tat, weil sie wenig von ihm, aber alles für ihn wollte. Was die Frau tat, war ein Segen.

Ich stelle mir vor, dass Jesus diesen Abschiedssegen mit sich trug durch die zwei, drei Tage, die auf die Begegnung mit der Frau im Haus von Simon, dem Aussätzigen, folgten.
Er nahm den Segen mit sich in den Abend, an dem er das letzte Mal mit seinen Freunden Brot und Wein teilte. Er spürte ihn auf sich, als er später in der Nacht allein betete.
In seiner Kleidung, in seinem Haar, auf seiner Haut blieben Spuren des Salböls. Der Duft stieg ihm in die Nase und erinnerte ihn: Du bist gesegnet. Gott ist um dich wie dieser Duft. Gott hüllt dich mit seinem Segen ein.
Er trug den Duft und den Segen an sich. Als er allein vor dem jüdischen Rat stand und vor Pilatus, dem römischen Herrn über seinen Tod, während Petrus draußen im Hof ihn drei Mal verriet. Ein letzter Hauch des Duftes umwehte ihn, als er am Kreuz nach Gott schrie.
Da war der Duft eine leise Antwort auf seine Frage: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen. Das hat er nicht, erinnerte ihn der Duft. Du kannst ihn nicht sehen, aber er ist da. Er hält dich im Leben und im Sterben.

So stelle ich mir das vor.
Bei Schafen, heißt es, ist es so: Nach der Geburt schnuppert das Mutterschaf an seinem Lamm. Und das Lamm an seiner Mutter. Die beiden verbinden sich über den Duft. Ein Leben lang werden sie sich unter Tausenden von Schafen wiedererkennen – allein am Geruch.
Kunststück, so intensiv wie Schafe riechen.
Babys und kleine Kinder riechen viel zarter, flauschiger, süßer. Aber sie riechen. Sie riechen so, dass man beständig an ihnen schnüffeln muss, wenn man sie auf dem Schoß, auf dem Arm, an der Brust hat.
Und Babys und kleine Kinder tauchen ihrerseits ein in den Duft der Mutter und auch des Vaters. Wenn sie an der Brust trinken. Wenn sie sich anschmiegen, um getröstet zu werden.
Der Duft sagt ihnen: Hier bin ich geborgen. Sie ist da für mich. Er ist an meiner Seite.

Das Wasser, mit dem wir taufen, ist geruchslos. Man müsste sich trauen, Nardenöl zu kaufen und hinein zu träufeln. Aber was man mit dem Geld alles machen könnte…
Doch wenn es das gäbe: einen besonderen Taufduft. Einer, der dich erinnert: Du bist getauft. Du bist gesegnet. Von allen Seiten umgibt dich Gott und hält seine Hand über dir.
Dieser Duft steigt dir in die Nase, immer wenn du ihn brauchst. Und er erinnert dich: Bei Gott bist du geborgen. Er ist an deiner Seite. Er segnet dich.

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