Gefunden, nicht gesucht

Ein Mann hatte zwei Söhne. Der jüngere sagte zum Vater: ›Vater, gib mir den Teil der Erbschaft, der mir zusteht.‹ Da teilte der Vater seinen Besitz unter den Söhnen auf.
Ein paar Tage später machte der jüngere Sohn seinen Anteil zu Geld und wanderte in ein fernes Land aus. Dort verschleuderte er sein ganzes Vermögen durch ein verschwenderisches Leben. Als er alles ausgegeben hatte, brach in dem Land eine große Hungersnot aus. Auch er begann zu hungern.
Da bat er einen der Bürger des Landes um Hilfe. Der schickte ihn aufs Feld zum Schweinehüten. Er wollte seinen Hunger mit den Futterschoten stillen, die die Schweine fraßen. Aber er bekam nichts davon.

(Lukasevangelium 15,11-16 – www.basisbibel.de)

Der Sohn:
Ich habe das Abenteuer gesucht. Damals, als ich unbedingt fort wollte.
Ich kannte das hier alles so gut. Jede Ecke auf dem Hof. Jede Kellerassel, die über den Boden kroch.
Wenn ich morgens aufstand, wusste ich schon, was der Tag bringen würde. Die Kühe melken. Die Kälber füttern. Übers Feld fahren. Am Trecker schrauben.
Wenn mich meine Mutter ansah, wusste ich schon, was sie im nächsten Augenblick zu mir sagen würde. Und daran, wie mein Vater atmete, konnte ich seine Laune ablesen.
Und abends die Treffen mit den Freunden waren auch immer gleich. Die gleiche Hütte, die gleiche Flasche Bier, die gleichen Witze.
Ich musste hier weg. Ich wollte etwas sehen von der Welt. Der Himmel über mir sollte anders aussehen. Die Erde anders riechen. Jeder Tag sollte mich überraschen mit etwas, das ich noch nicht kannte. Menschen wollte ich kennen lernen, die anders dachten und redeten und lebten als meine Eltern und meine Freunde.
Ich suchte ein anderes Leben. Eines jenseits der Pfade, die meine Eltern und deren Eltern vorgetrampelt haben.
Ich bin dankbar, dass ich losziehen durfte.

Der Vater:
Ich habe sein Glück gesucht. Sein Bestes habe ich gewollt. Wie hätte ich auch anders können. Schließlich habe ich ihn geschaffen. Als mein Gegenüber. Als Geschöpf meiner Liebe.
Natürlich wusste ich, was gut für ihn war. Und natürlich habe ich versucht, ihm das zu zeigen. In meiner Nähe sollte er sich wohl fühlen. Wie im Paradies. An nichts sollte es ihm fehlen bei mir.
Was fürs Leben gut war, das wollte ich ihm beibringen. Zu wissen, wo man herkommt, etwa. Und wo man hingehört. Einen Ort zu haben, an dem du dich geborgen fühlst. Jemanden, dem du vertraust.
Und wie er anderen Menschen begegnet, das sollte er lernen. Aufrecht und zuverlässig. Freundlich und zugewandt. Für sich selber sorgen, ohne die Ellbogen auszufahren. Für den anderen sorgen, ohne sich selber aufzugeben.
Aber wie sollte er lernen, was gut fürs Leben war, wenn er das Leben nicht selber lebte? Bei mir hatte er es gut. Da war ich mir sicher. Aber es zog ihn weg. Sein Glück wollte er woanders suchen.
Kann man einen festhalten, der nach seinem Glück sucht? Ich konnte das nicht. Ich wusste: Würde ich ihn festhalten, würde er selbst im Paradies, am Ort des größtmöglichen Glückes, nicht glücklich werden.

Da ging der Sohn in sich und dachte: ›Wie viele Arbeiter hat mein Vater und sie alle haben reichlich Brot zu essen. Aber ich komme hier vor Hunger um. Ich will zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe Schuld auf mich geladen – vor Gott und vor dir. Ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn genannt zu werden. Nimm mich als Arbeiter in deinen Dienst.‹ So machte er sich auf den Weg zu seinem Vater.
Der sah ihn schon von Weitem kommen und hatte Mitleid mit ihm. Er lief seinem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Aber sein Sohn sagte zu ihm: ›Vater, ich habe Schuld auf mich geladen – vor Gott und vor dir. Ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn genannt zu werden.‹
Doch der Vater befahl seinen Dienern: ›Holt schnell das schönste Gewand aus dem Haus und zieht es ihm an. Steckt ihm einen Ring an den Finger und bringt ihm Sandalen für die Füße. Dann holt das gemästete Kalb her und schlachtet es: Wir wollen essen und feiern! Denn mein Sohn hier war tot und ist wieder lebendig. Er war verloren und ist wiedergefunden.‹
Und sie begannen zu feiern.
(Lukasevangelium 15,17-24 – www.basisbibel.de)

Der Sohn:
Jetzt bin ich wieder da. Das Abenteuer, das ich gesucht hatte, habe ich gefunden. Erst sah es aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Bunt und laut und schnell. Ein Fest. Ständig war ich berauscht. Manchmal vom Alkohol. Immer von dem Gefühl, dass nichts unmöglich ist.
Ich habe ausgekostet, was alles möglich war. Ich habe die Freiheit genossen, die mir das Leben schenkte. Ich habe sie, die Freiheit und das Leben, bis ins letzte ausgereizt.
Bis ich dann merkte, dass sogar die Freiheit und das Leben nicht unendlich sind. Ich bin tatsächlich an Grenzen gestoßen. Erst an die des Geldes, dann an meine eigenen.
Auch das war ein Abenteuer: Zu merken, wie ich mitten im Flug abstürze. Am Anfang kribbelte es im Bauch. Dann kam die Panik.
Ich griff verzweifelt nach Händen, die mich halten sollten. Aber denen fehlte die Kraft. Oder sie wurden mit einem Achselzucken fortgezogen. Soll er doch fallen.
Und ich fiel und stürzte und fiel, bis ich auf den Boden aufschlug.
Das tat weh. Zu sehen, zu wissen: Du bist am Ende. Am Ende deiner Freiheit, am Ende deines Lebens.
Das war schwer. Mir das einzugestehen: Du bist gescheitert. Du kommst nicht mehr vorwärts. Du kannst nur noch zurück.
Aber das tat gut: Wie ich dann zurück war und er mir entgegenkam, lief, stürzte, mich in den Arm nahm.
Das tut gut zu spüren: Hier kann ich sein. Hier darf ich sein. Hier schaut mich einer freundlich und liebevoll an. Hier bin ich geborgen.
Das habe ich nicht gesucht. Aber ich habe es gefunden.

Der Vater:
Er ist wieder da. Das ist ein Fest. Ein wirkliches Freudenfest.
Es ist kein Triumph. Nach dem Motto: Ich habe es doch immer gewusst. Hättest du mal auf mich gehört.
Er hatte meinen Segen, als er losging. Ich wollte, dass er sein Glück findet. Ich habe ihm das von Herzen gewünscht.
Meine Wünsche und mein Segen haben ihn begleitet. Vielleicht hat er das gespürt in den Augenblicken, in denen das Glück ihm Flügel verlieh. Als er wie auf Wolken ging, weil alles neu war und schön und groß und weit.
Kann auch sein, dass er mich da ganz vergessen hatte. Zu sehr beschäftigt damit, sich und sein Glück zu genießen und das Leben und die Freiheit auszukosten. Zu stark, um Zweifel zu haben an sich und dem Leben.
Erinnert hat er sich erst, als das Glück unter ihm nachgab und er einbrach. Schade. Ich hätte gern an seinem Glück Anteil gehabt. Ich hätte gern seine Abenteuer mit ihm geteilt.
Es ist wie mit den großen Unternehmen: Wenn sie Gewinne machen, wollen sie keine Steuern zahlen. Machen sie Verluste, soll der Staat helfen. So ist es mit jedem einzelnen Menschen: Wenn es ihnen gut geht, lassen sie es sich gut gehen. Geht es ihnen schlecht, rufen sie nach mir.
Aber ich lasse mich ja rufen. Ich höre ja. Ich bin ihm ja entgegengerannt, die Arme weit ausgebreitet. Es sah vielleicht ein wenig lächerlich aus. Aber es fühlte sich gut und richtig an, ihn einfach nur zu umarmen.
Das war das Fest: Zu spüren, wie eine große Last und Anspannung von ihm abfiel und er sich in das uralte Vertrauen aus Kindertagen fallen ließ. Das ist ein Fest: Wenn einer seinen Glauben findet oder wiederfindet.

Der Sohn:
Wie es nun weiter geht?
Vielleicht bleibe ich da. Bleibe ich hier, wo ich geborgen bin und willkommen. Der Mensch, der ich bin. Gewollt. Ohne Fragen, ohne Vorwürfe. Geliebt. Einfach so.
Vielleicht kommen mir auch wieder Zweifel. Ob das wirklich alles ist. Und wahr. Kann gut sein, dass es mir hier wieder zu eng wird und es mich fort zieht.
Und ich weiß: Ich darf dann wieder losziehen. Keiner der mich festbindet, die Tür verrammelt. Wenn ich bleibe, soll ich das aus eigenen Stücken wollen und tun.
Aber wenn ich wieder losziehen, dann wird es anders sein als beim ersten Mal. Ich werde etwas mitnehmen: Das Wissen um mein Zuhause. Das Vertrauen, dass ich, was ich tue, in seinem Segen tue, mit Gottes Segen. Wo ich auch hingehe, geht der Segen mit.
Wenn ich wieder das Abenteuer suche, dann stellt er meine Füße auf weiten Raum, damit ich wie auf Wolken gehen kann. Und wenn ich falle, dann breitet er die Arme aus und fängt mich auf.
Ich weiß: Er hat mich wiedergefunden, ehe ich ihn von neuem gesucht habe.

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