Kommt und seht selbst!


Es dauert nur einen Augenblick – im wahrsten Sinne des Wortes: Es dauert einen Blick mit den Augen, einen Blick in die Augen. Dann ist es entschieden, heißt es.
Es ist entschieden, was ich von einem anderen halte, dem ich das erste Mal begegne. Es ist entschieden, ob ich mit ihm etwas zu tun haben will. Nach einem kurzen Augenblick weiß ich das.
Die Geschichte eines solchen Augenblicks erzählt das Johannesevangelium im ersten Kapitel.

Am nächsten Tag stand Johannes wieder da. Zwei von seinen Jüngern waren bei ihm. Da kam Jesus vorbei. Als Johannes ihn erblickte, sagte er: »Seht doch! Das ist das Lamm Gottes!« Die beiden Jünger hörten diese Worte und folgten Jesus.
Jesus drehte sich um. Er sah, dass sie ihm folgten, und fragte sie: »Was wollt ihr?« Sie antworteten ihm: »Rabbi« – das heißt übersetzt ›Lehrer‹ –, »wo wohnst du?« Er forderte sie auf: »Kommt und seht selbst!«
Da gingen sie mit und sahen, wo er wohnte. Sie blieben den ganzen Tag bei ihm. Das geschah etwa um die zehnte Stunde.
(Johannesevangelium 1,35-39 -- www.basisbibel.de)

Die Geschichte eines Augenblickes? Eigentlich sind es ja mehrere. Da sind zunächst zwei, die in der Geschichte nicht erzählt, sondern vorausgesetzt werden.
Der eine Augenblick ereignet sich, als die zwei Männer zu Johannes dem Täufer kommen. Sie sehen ihn in Betanien, jenseits des Jordans. Sie sehen wie er tauft und Menschen den Weg zu Gott weist.
Johannes seinerseits sieht, wie die beiden Männer vor ihm stehen. Er sieht, dass sie ernsthaft unterwegs sind auf dem Weg zu Gott, er tauft sie. So stelle ich es mir vor.
Der andere Augenblick ereignet sich, als Johannes Jesus auf sich zukommen sieht. Da sieht er wie der Geist wie eine Taube vom Himmel herabkommt und auf Jesus bleibt. Er sieht: Das ist Gottes Sohn. So erzählt es das Johannesevangelium.

Diese beiden Augenblicke gehen denen voraus, die wir miterleben.
Den ersten Augenblick wirft noch einmal Johannes. Er sieht Jesus – und er sieht mehr als ihn. Er sieht, wer Jesus ist, für ihn, für die Menschen: Das Lamm Gottes.
Johannes sieht, dass Jesus der ist, der all das trägt, was Menschen nicht tragen können oder wollen. Und dass Jesus der ist, der all das lebt, was Gott in ihn legt an Sorge um die Verlorenen, an Ärger über die Selbstgerechten, an Nachsicht mit den Schwachen, an Liebe zu allen.
Der zweite Augenblick gehört den beiden Männern, die eben noch Johannes Jünger waren, weil er sie getauft hat – und die jetzt Jesus nachlaufen.
Ein Augenblick hat ihnen gereicht, um Johannes stehen zu lassen und Jesus zu folgen. Vielleicht haben sie gespürt, wie ernst es Johannes mit seinen Worten ist: Das ist Gottes Lamm. Das ist der, den Gott schickt. Vielleicht ahnen sie, welche Rolle Jesus für ihr Leben spielen kann. Vielleicht wissen sie auch gar nicht, wie ihnen geschieht: Ihre Füße laufen, ohne den Kopf nach dem Weg zu fragen.
Den dritten Augenblick wirft Jesus über die Schultern. Er wendet sich um und entdeckt die beiden, die ihm da nachlaufen, mit eiligen und doch unsicheren Schritten.
Wie Johannes vor ihm sieht er in den beiden Männern Suchende, die finden wollen, wem sie ihr Leben anvertrauen können. Er erkennt Fragende, die wissen wollen, was sie im Leben trägt. Er weiß: Auch diese beiden Männer gehören zu den Menschen, die Gott ihm ans Herz gelegt hat, weil es seine Menschen sind.
In diesen kurzen Augenblicken ist es entscheiden. Es ist für die beiden Männer entschieden, dass sie sich und ihr Leben Jesus anvertrauen wollen – weil er sie freundlich anschaut.
Es ist für Jesus entschieden, dass er sie tragen will, weil er sie erkennt.
Aus den Augenblicken wird ein Nachmittag. Es ist um die zehnte Stunde, vier Uhr nachmittags.

Die beiden Männer haben nur eine Frage an Jesus: „Wo wohnst du?“ Es ist eine ganz einfache Frage. Sie wollen von Jesus wissen, in welcher Straße, in welchem Haus, in welchem Zimmer er wohnt.
Aber in dieser Frage schwingt so vieles mit: „Wer bist du?“, höre ich die beiden Männer Jesus fragen. Wenn wir sehen, wie du wohnst, dann lernen wir dich kennen.“
„Können wir mit dir kommen?“, höre ich die beiden fragen. Wir möchten gern Zeit mit dir verbringen, mit dir reden, mit dir essen und trinken.
„Dürfen wir bei dir bleiben?“, auch das höre ich die Jünger fragen. Wir wollen mit dir gehen, von dir lernen, bei dir aufgehoben sein. Weil der eine Augenblick uns versprochen hat, dass wir all das bei dir finden, was unsere Sehnsucht stillt.
Jesus hat die Frage verstanden. Er hat all das gehört, was die beiden Männer in sie hineingepackt haben. „Kommt und seht selbst!“, sagt er zu ihnen.
Auch das klingt nach einer ganz einfachen Einladung: „Ich zeige euch gern, wo ich wohne.“ Aber genau so wie in der Frage schwingt in der Antwort so vieles mit.
„Kommt“, sagt Jesus, „und ihr werdet mich kennenlernen.“ Wenn sie mit ihm kommen, dann werden sie auch sehen, wer er für sie sein will.
„Kommt“, sagt Jesus, „ich verbringe gern meine Zeit mit euch.“ Er lädt sie ein in seine Gemeinschaft, der sie fehlen.
„Kommt“, sagt Jesus, „und bleibt bei mir.“ Er öffnet ihnen die Tür zu seinem Leben. Er verspricht ihnen, ihre Sehnsucht zu stillen.
„Kommt und seht selbst!“ So wird aus einem Augenblick erst ein Nachmittag und dann ein ganzes Leben.
Die beiden Männer bleiben bei Jesus, an diesem Tag, über diesen Tag hinaus. Sie werden seine ersten Jünger.

„Kommt und seht selbst!“ In diesem Sinne sind wir am Donnerstag mit den / euch Konfirmanden auf „Gottsucherexpedition“ gegangen.
Wir haben sie mitgenommen auf eine Phantasiereise: Erinnert euch, wie es war, als ihr einmal Gott begegnet seid. Oder: Stellt euch vor, wie es ist, wenn ihr Gott begegnet.
Wie sieht der Ort aus? Was hörst du dort? Wen siehst du dort? Was tust du dort? Was macht diesen Ort besonders kostbar?
Auf dieser Reise in die eigene Erinnerung oder in die Phantasie haben die Konfirmanden Bilder für das innere Fotoalbum gemacht. Damit sie etwas zum Anschauen haben, wenn sie einmal wieder die Reiselust packt, die Sehnsucht nach Gott. – So wie die beiden Männer immer das Bild von ihrer Begegnung an diesem einen besonderen Nachmittag in sich tragen werden.
Es sind dann als Mitbringsel von der Phantasiereise auch Bilder mit Wachs- oder Buntstiften entstanden.
Da liegt auf einer Wiese ein Mädchen. Das Gras leuchtet grün. Bunt in gelb und rot strahlen die Blumen. „Traumwiese“ steht über dem Bild. Vielleicht ein eigenes kleines Paradies, vielleicht auch nur ein Garten.
Aber was heißt nur: Geh aus mein Herz und suche Freud in dieser lieben Sommerzeit an deines Gottes Gaben – und in den Gaben findest du womöglich nicht nur Freude, sondern Gott selber.
Das sagte jedenfalls eine Frau aus dem Kirchengemeinderat, als ich dort am Abend nach dem Konfer auch auf Gottsucherexpedition ging: Wenn ich Gott mit meinem Augen suchen sollte, dann würde ich in meinen Garten gehen.
Ich selber malte auch ein Bild. Ein dunkler, mit Sternen übersäter Himmel. Hohe Berge, die sich als noch dunklere Schatten von diesem Himmel abheben. Bäume, die im Bergwind rauschen. Und – leider auf weißem Papier nur schwer zu malen – Schnee, der unter den Schuhen von zwei Menschen knirscht, die gemeinsam durch diese Winternacht laufen.
Der eine dieser beiden war Christian, ein Jugendmitarbeiter. Der andere war ich selber als Konfirmand.
Bei diesem Winterspaziergang zu später Stunde am Dachstein habe ich eine Einladung gehört: „Komm und sieh selbst!“
Ab diesem Augenblick wollte ich wissen, was es mit Gott auf sich hat und wo und wie ich ihm wohl in meinem Leben begegne.

Glaube fängt in dem Augenblick an, in dem einer zu mir sagt: Da ist Gott in deinem Leben. Komm und sieh selbst. Und wenn ich dann losgehe, um nachzuschauen, wo und wie. Dann komme ich in mein Leben – und ich sehe selbst, wo und wie Gott da ist.
Nicht immer und nicht immer gleich, natürlich. Denn das ist Glaube ja auch: eine Gottsucherexpedition. Ich habe Gott nicht. Ich suche ihn. Aber wunderbarerweise ist er mir gerade dann am nächsten, wenn ich ihn am meisten suche. Ich muss mich nur einmal umdrehen und die Augen und das Herz öffnen, mit dem bekanntlich am besten sieht.
Ob beim Gang durch den Garten, beim Blick in den weiten Föhrer Himmel oder beim Beten in der Kirche. Oder wo auch immer Sie Gott schon einmal gesucht und gefunden haben.
„Komm und sieh selbst!“

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