Gegen die Wirklichkeit träumen

Ein Träumer – was ist das für ein Mensch? Einer, der träumt. Klar. Aber ist das einer, der aus der Wirklichkeit flieht? Oder einer, der die Wirklichkeit verändern will?
Ein Träumer kann sich eine Traumwelt neben der Wirklichkeit schaffen, weil die ihm nicht gefällt. Er verlässt das wirkliche Leben und bewegt sich nur in seiner erträumten Parallelwelt.
Ein Träumer kann aber auch seine Träume gegen die Wirklichkeit stellen. Er versucht jeden Tag, etwas von seinem Traum wirklich werden zu lassen, damit die Wirklichkeit sich verändert.

Die Bibel steckt voller Träumer. Einer von ihnen ist der Prophet Jesaja:
"Gott sagt: Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird.
Freuet euch und seid fröhlich immerdar über das, was ich schaffe.
Man soll nicht mehr hören die Stimme des Weinens noch die Stimme des Klagens. Es sollen keine Kinder mehr da sein, die nur einige Tage leben, oder Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen.
Sie werden Häuser bauen und bewohnen, sie werden Weinberge pflanzen und ihre Früchte essen. Sie sollen nicht bauen, was ein anderer bewohne, und nicht pflanzen, was ein anderer esse.
Und es soll geschehen: Ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören."

(Jesaja 65,17-25 in Auszügen -- Lutherbibel 2017 www.die-bibel.de)
 Was für ein Traum! Von einem Himmel, der weiter ist als der, unter dem wir leben. Und eine Erde, die bunter ist, als die, auf der wir lebe.
So weit ist der Himmel, dass niemand mehr trauert. Jeder Mensch lebt ein erfülltes Leben leben. Wenn einer stirbt, ist sein Leben schlicht vollendet und er einverstanden mit seinem Tod. Auch die Menschen, die zurückbleiben, lassen ihn in Frieden gehen. Weil die Zeit erfüllt war.
So weit ist die Erde, dass nichts mehr vergeblich ist. Jeder Mensch genießt die Früchte seiner Arbeit. Was er anfängt, bringt er zu Ende. Was er schafft, hat Bestand.
So weit der Himmel, das niemand mehr verzweifelt. Jeder Mensch spürt, dass Gott an seiner Seite ist. Wenn er nach Gott ruft, wenn er nur an ihn denkt – dann ist Gott schon zur Stelle. Kein Gebet bleibt unerhört.

Was für ein Traum! Aber was für ein Traum? Einer, der aus der Wirklichkeit flieht? Oder einer, der sich gegen die Wirklichkeit stellt?
Die Wirklichkeit jedenfalls sieht anders aus.
Die Verzweiflung hat Macht. Sie saugt aus manchen  Menschen allen Lebensmut und alle Lebensfreude. Keiner, der da helfen kann. Keine Hand, nach der sie greifen wollen.
Die Vergeblichkeit hat weiter ihre Macht. Ein Zitat aus dem schrägen Film „Das Leben des Brian“ treibt das ironisch auf die Spitze: „Du kommst aus dem Nichts und du gehst wieder ins Nichts zurück. Was hast du also verloren? NICHTS!“
Die Trauer hat ihre Macht. Der Abschiedsschmerz reißt seine Wunden. Ein Leben kann noch so erfüllt gewesen sein – der Mensch, der stirbt, fehlt. Die Trauerwunde schließt sich schwer. Erst recht, wenn der Tod viel zu früh kommt. Wenn so viel ungelebtes Leben übrig und viel zu viele Fragen offen bleiben. Selbst wenn sich die Wunde schließt: Die Narbe, die sie hinterlässt, bleibt.
 
Was also ist mit dem Traum von einem neuen Himmel und einer neuen Erde?

Ich kann Jesaja als einen Träumer sehen, der aus der Wirklichkeit flieht. Er ist einer, der mein Leid nicht teilt, der meine Verzweiflung nicht kennt, der blind ist für meine Wirklichkeit. Aus seiner Traumwelt sagt er mir: „Es wird alles gut. Du musst nur ein wenig warten.“
Aber ich habe die Zeit dazu nicht. Ich kann und ich will nicht warten. Meine Wirklichkeit muss sich jetzt verändern.
Ich brauche jetzt einen Trost. Ich brauche jetzt Sinn. Ich brauche jetzt einen bei mir.
Doch gibt Jesaja mir mit seinem Traum eine konkrete Hoffnung, wann das geschieht? Jetzt oder morgen oder irgendwann?
Zeigt er mir nicht nur den Weg in eine Traumwelt? Aber vor meiner Wirklichkeit und meinem Leben will ich nicht fliehen.

Wenn ich den Träumer Jesaja so verstehe, dann muss er mich enttäuschen. Weil er so wenig, weil er gar nichts mit meiner Wirklichkeit zu tun hat.

Aber was, wenn ich Jesaja als einen verstehe, der seinen Traum gegen die Wirklichkeit stellt. Der mit ihm die Wirklichkeit verändern will?
Dann klingt aus seinem Traum die Sehnsucht nach einem neuen Himmel und einer neuen Erde. Danach, dass kein Mensch mehr an seinem Leben verzweifelt, weil er meint, dass alles doch ohnehin keinen Sinn mehr hat und keiner ihn will. Danach, dass der Tod und der Schmerz, den er auslöst, endlich aufhören, das Leben und die Freude daran zu verdunkeln.
Ich entdecke in diesem Traum die Sehnsucht nach einer Wirklichkeit, die längst noch nicht wirklich ist. Aber die Sehnsucht ist stark. So stark, dass sie die Wirklichkeit jetzt schon verändern kann.
 
Und Jesaja sagt: Das ist nicht nur mein Traum und vielleicht deiner. Das ist auch und vor allem Gottes Traum. Das ist seine Sehnsucht. Gott teilt die Sehnsucht nach einem neuem Himmel und einer neuen Erde.
Das verändert meinen Blick auf die Wirklichkeit und auf mein Leben. Ich sehe Gott neben mir.
Ich sehe, wie er mit mir auf mein Leben und die Wirklichkeit schaut. Auf den Schmerz, den es mir bereitet, am Abend allein in der Wohnung zu sitzen. Auf das Dunkel, weil ich mit meinem Leben nicht weiter weiß.
Ich ahne, wie er sich mit mir danach sehnt, dass ich ein Licht finde, das mir einen neuen Weg weist. Dass ich es schaffe, die Leere an meiner Seite und die Trauer in meinem Herzen auszuhalten. 
Es ist ein Traum. Aber einer, der die Wirklichkeit verändert. Ich bin nicht allein mit meinem Sehnen. Gott teilt es. Meine Wirklichkeit soll nicht bleiben, wie sie ist. Sie soll sich ändern. Weil ich davon träume und es will. Weil Gott davon träumt und es will.
Dieser Traum tut gut. Er macht mich frei. Frei, auf meine Wirklichkeit zu schauen und auf das, was jetzt schon möglich ist.
Meine Wirklichkeit zeigt mir weiter Trauer und Schmerz und Verzweiflung. Aber ich sehe mehr. Ich sehe, wovon ich träume und wovon Gott träumt.
Und ich entdecke die ersten Spuren von dem neuen Himmel und der neuen Erde. Ich entdecke die Spuren, die meine Wirklichkeit verändern. Ich entdecke die Kraft, die von dem Traum Gottes in mir ausgeht.
Die Kraft des Traumes hilft mir, die Trauer in mir auszuhalten. Sie bringt mich auf den Weg, der ins Leben hinausführt.
Es sind zaghafte Spuren. Solche, die ich manchmal wieder verliere und nach denen ich dann wieder suchen muss. Aber ich werde ihnen weiter folgen.
Ich bin ein Träumer. Ich träume davon, dass sich die Wirklichkeit und mein Leben ändern. Und Gott träumt mit mir von einem neuen Himmel und einer neuen Erde.

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