Wo Zorn und Traum zusammentreffen
Große und kleine Bäume. Braune Stämme, grüne
Kronen, rote Früchte. Ein Fluss, der sich durch Wiesen schlängelt.
Dazwischen
Strichmännchen, die breit grinsen und die Arme hochwerfen. Menschen,
die sich freuen, die gemeinsam feiern und tanzen.
17 Bilder sind auf dem Boden ausgebreitet. Im Religionsunterricht schnell gemalt mit Wachsstiften oder gezeichnet mit Buntstiften.
Ein
Mosaik aus Bildern, das sich zu einem Obstgarten zusammenfügt. Das
Paradies muss irgendwo in der Nähe sein.
Nur
noch kurze Zeit / dann
verwandelt sich der abgeholzte Libanon in einen Obstgarten / und der
Obstgarten wird zu einem wahren Wald.
An
jenem Tag hören alle, die taub sind, / sogar Worte, die nur
geschrieben sind, / und die Augen der Blinden sehen selbst im Dunkeln
und Finstern.
(Jesaja 29,17-18 - Einheitsübersetzung)
Das
ist die Vorlage für die Bilder auf dem Boden: die blühende
Landschaft, die der Prophet Jesaja sieht vor mehr als 2.700 Jahren.
Auf
einem Bild geht schwarz in blau über, wechselt dunkle Nacht in
hellen Tag. Ein Mensch steht noch auf der Grenze, macht aber schon
den Schritt ins Helle, in den Tag hinein.
Auch
andere Bilder zeigen einen Wechsel. Neben den Apfelbäumen, die
schwer sind von den Früchten, stehen die Strünke der abgeschlagenen
Stämme.
Karge,
verwüstete Landschaften teilen sich das Blatt Papier mit blühenden,
paradiesischen Landschaften. So als würden sie zusammengehören.
Aber wie?
Die
Bibel erzählt vom Paradies, in dem der Menschen einst lebte und das
er verlor. Weil er schuldig wurde an Gott und der ihn daraufhin aus
dem Garten vertrieb.
Die
Bibel erzählt aber auch vom Paradies, das auf den Menschen wartet.
Jesaja sagt: Gott verspricht es seinen Menschen. Nur noch ganz kurze
Zeit, dann ist es so weit.
Ist
das Paradies nun vergangen oder kommt es erst noch? Die Antwort auf
diese Frage macht einen Unterschied.
Sie
entscheidet darüber, wie ich die Welt sehe. War früher alles
besser? Wird also alles immer schlechter? Oder kann es nur besser
werden? Kommt das Beste womöglich erst noch?
Meine
Antwort entscheidet auch darüber, welche Haltung ich einnehme zu der
Gegenwart, in der ich lebe.
Ziehe
ich die Mundwinkel herunter und lege die Hände in den Schoß und
beklage den Untergang des Abendlandes, der sich nicht mehr aufhalten
lässt?
Oder
krempele ich die Ärmel hoch und spucke in die Hände und entwerfe
eine Zukunft, wie sie mir gefällt und alle anderen auch glücklich
machen soll?
Meine
Antwort entscheidet schließlich auch darüber, welchen Weg ich für
den halte, der zum Paradies führt. Ist es der Weg zurück in die
goldene Vergangenheit? Oder ist es der Weg in die strahlende Zukunft?
Will
ich zum Beispiel dahin zurück, wo die Frau sich um Kinder, Küche
und Kirche kümmert und der Mann arbeiten geht und das
Familienoberhaupt ist? Wo die Heimat allein den reinblütigen
Deutschen gehört und Ausländer nur im Ausland leben?
Oder
will ich dorthin, wo Familie die Menschen sind, die sich egal welchen
Geschlechts aus Liebe zusammenfinden? Wo zur Bürgergemeinschaft alle
gehören, die am selben Ort zusammenleben – ob sie schon immer da
waren oder aus guten Gründen dazugekommen sind.
Je
nachdem, wohin ich will, werde ich am 24. September auf dem
Wahlschein mein Kreuz setzen.
Aber
wo immer auch das Paradies wartet – verloren in der Vergangenheit
oder verlockend in der Zukunft: die Gegenwart ist nicht das Paradies.
Die
muss sich ändern. Die wird sich ändern. Damit sie wieder oder
erstmals zum Paradies wird. Sagt Jesaja:
Die
Erniedrigten freuen sich wieder über den Herrn / und die Armen
jubeln über den Heiligen Israels.
Denn
der Unterdrücker ist nicht mehr da, / der Schurke ist erledigt, /
ausgerottet sind alle, die Böses tun wollen, die andere als
Verbrecher verleumden, / die dem Richter, der am Tor sitzt, Fallen
stellen / und den Unschuldigen um sein Recht bringen mit haltlosen
Gründen.
(Jesaja 29,19-21 - Einheitsübersetzung)
Das
Paradies liegt irgendwo hinterm Horizont der Gegenwart. Verschwommen,
als Wunsch, als Traum.
Was
es so drängend macht, sind die Menschen, um derentwillen es kommen
soll, kommen muss.
Es
gibt Menschen, die die Gegenwart drückt. Es sind die, die darauf
warten, dass sie endlich etwas zu lachen haben und einen Grund zum
Jubeln. Jesaja nennt sie die Erniedrigten und die Armen.
Du
musst nur mit offenen Augen und wachem Herzen um dich schauen. Dann
siehst du sie. So wie Jesaja sie zu seiner Zeit sah, wenn er durch
die Straßen von Jerusalem lief.
Du
musst nur in die Flüchtlingslager in Afrika gehen, wo Zehntausende
seit Jahren in Hütten und Zelten wohnen. Die nicht zurück können
und nicht vor. Die von dem leben, was Warlords ihnen zum Leben
lassen. Und von dem, was an Spenden von unserem Tisch fällt.
Du
musst dorthin gehen, wo multinationale Firmen die Machthaber mit
Millionen von Euros und Dollars schmieren. Und dennoch
Milliardengewinne einfahren, weil die Erniedrigten und Armen
Sklavenarbeit für sie verrichten. Und wir kaufen und nutzen, was sie
fördern und herstellen.
Du
musst an die Grenzen von Europa gehen. Dorthin, wo Zäune errichtet
werden, um die Erniedrigten und Armen von dem Reichtum abzuhalten,
der auch der deine ist. Und du siehst die Tausenden von Toten, die
beim Versuch, die Zäune zu überwinden, sterben. Und hörst andere
sagen: Selber schuld.
Du
musst dorthin schauen. Wenn du offene Augen hast und ein waches Herz
– dann muss Zorn dich packen. Heiliger Zorn auf die Schurken und
Unterdrücker, auf alle, die Böses tun.
Und
du spürst den zornigen Blick von Jesaja, der auch dich trifft, weil
du Teil des Systems bist.
Vielleicht
verstehst du dann den Zorn, der sagt: Ach, wären sie doch endlich
weg, die Unterdrücker und Schurken. Kommt, lasst sie uns ausrotten,
die Bösen.
Damit
der Weg frei wird. Der Weg heraus aus Erniedrigung und Armut. Der Weg
ins Paradies. Oder wenigstens in ein besseres, in ein
menschenwürdiges Leben.
Für
Jesaja beginnt der Weg hier. An dem Ort, wo Zorn und Traum
zusammentreffen.
Wer
sieht, dass die Gegenwart eine andere werden muss, der will
aufbrechen. Und wer den Traum vom Paradies träumt, der kann
aufbrechen. Er ist nicht allein.
Darum
– so spricht der Herr zum Haus Jakob, / der Herr, der Abraham
losgekauft hat:
Nun
braucht sich Jakob nicht mehr zu schämen, / sein Gesicht muss nicht
mehr erbleichen.
Wenn
das Volk sieht, was meine Hände in seiner Mitte vollbringen, / wird
es meinen Namen heilig halten. Es wird den Heiligen Jakobs als heilig
verehren / und erschrecken vor Israels Gott.
Dann
kommen die Verwirrten zur Einsicht / und wer aufsässig war, lässt
sich belehren.
(Jesaja 29,22-24 - Einheitsübersetzung)
Wo
Traum und Zorn zusammentreffen, ist Gott ganz nah. Da steht er.
Mittendrin statt nur dabei.
Er
stellt sich den Unterdrückern und Schurken in den Weg. Er hält dem
ersten von ihnen einen Spiegel hin. Einen, der ihm das Gesicht so
verzerrt, dass er sich nicht wiedererkennt.
Vielleicht
ist noch etwas Menschliches in seinem Herzen übrig geblieben und er
erschrickt. Vor dem Bild, das Gottes Spiegel ihm von sich zeigt: Eine
Fratze aus Habgier und Verachtung, aus Berechnung und Zynismus.
Es
ist nicht viel, was Gott den Unterdrückern und Schurken
entgegenhalten kann. Aber womöglich ist der Spiegel ein Anfang.
Einer, der ihren Blick auf sich selbst und die Welt, auf ihr Tun und
die Erniedrigten und Armen verändert.
An
ihre Seite, an die Seite der Armen und Erniedrigten, stellt sich Gott.
Auch dem ersten von ihnen hält er seinen Spiegel hin. Und er schaut
hinein und sieht sich, wie Gott ihn sieht.
Er
sieht – einen Menschen. Einen Mensch, den Gott wunderbar
geschaffen nach seinem Bild und den er beim eigenen Namen gerufen
hat.
Das
macht ihn nicht satt. Aber es macht ihn frei. Es macht ihn frei von
dem Verdacht, er könnte selber schuld sein an seiner Lage. Nicht er
verschuldet sie, sondern der Unterdrücker.
Es
macht ihn frei, den Kopf zu heben. Wen er aufblickt, schaut er in das
Angesicht Gottes, das über einem leuchtet. Das eigene Gesicht
beginnt zu leuchten, erst von innen, dann auch so, dass andere es
sehen können.
Wenn
er aufblickt, schaut er dem Unterdrücker in die Augen. Er hält
dessen Blick stand, bis auch der erkennt: Er ist ein Mensch.
Wenn
er aufblickt, kann er bis zum Horizont schauen – dort, wo das
Paradies liegt. Vielleicht wartet dort ein Garten. Viele große und
kleine Bäume. Braune Stämme, grüne Kronen, rote Früchte. Ein
Fluss, der sich durch Wiesen schlängelt.
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