Spricht etwas dagegen?


www.duomosangimignano.it/cattedrale.htm
Anna setzt sich in die Kirchenbank. Ruhig und angenehm kühl ist es hier. Der schwüle Toskana-Nachmittag bleibt draußen. Genauso wie die Touristenhorden, die sich durch die Gassen von San Gimignano schieben.
Sie nimmt den Rucksack ab und stellt ihn neben sich auf die Bank. Sie schaut nach oben. Über ihr wölbt sich an der Decke ein blauer Himmel. Sie schaut sich um.
Die Seitenwände sind übervoll mit Fresken – Bildergeschichten aus dem Mittelalter. Manche nur schwach zu erkennen, andere ganz klar und deutlich.
Anna steht auf und geht die Bilderreihen ab. Sie sieht zwei Männer, die in einem Boot sitzen und rudern. Und einen anderen Mann, der neben ihnen auf den Wellen steht.
Sie sieht denselben Mann, wie er im Wasser steht und ein anderer ihm Wasser über den Kopf träufelt. Auf dem größten Bild hängt der Mann am Kreuz. Unter ihm reiten Soldaten mit Lanzen auf Pferden, eine Frau und ein junger Mann schauen zu ihm auf.
Anna weiß – dieser Mann ist Jesus. Aber die Geschichten zu den ganzen Bildern, die kennt sie nicht. Nicht mehr.
Aber sie erinnert sich: Ihre Oma Martha hat ihr diese Geschichten einmal erzählt. Damals, als sie noch ein Kind war und manchmal bei Oma schlief.
Dann saß die Oma abends an ihrem Bett und erzählte ihr eine dieser Geschichten von Jesus. Sie, Anna, fand diese Geschichten spannend.
Aber ihr Vater hatte sie ausgelacht, als sie ihm einmal davon erzählte. „Ach, Oma und ihr Jesus!“, hatte er gesagt. Dann muss er irgendwie mit Oma gesprochen haben.
Oder war es Zufall, dass sie bald am Bett Geschichten aus Bullerbü vorlas, statt von Jesus zu erzählen?
Anna hatte sie gemocht, die Abenteuer von Lisa und Lasse und Bosse. Aber in diesem Augenblick, in dem sie im Dom von San Gimignano vor den Wandbildern steht, spürt sie, wie tief sie Omas Geschichten von ihrem Jesus berührt haben.
Sie nimmt sich ihr Smartphone und fotografiert Bild für Bild ab. Sie wird Oma Martha gleich nach ihrem Urlaub besuchen und ihr die Bilder zeigen und sie nach den Geschichten fragen.

Oma Martha staunt, als ihre Enkelin Anna aus dem Urlaub zurück kommt, braun gebrannt und gut gelaunt. Sie fragt sie nach der Sonne und dem Strand und den Jungs.
Anna gibt nur kurz Antwort. Dann erzählt sie von dieser Kirche in der Toskana und zeigt ihr auf dem kleinen Display dunkle Fotos. „Kind, ich kann gar nichts erkennen“, sagt Oma Martha. „Und wie war nun dein Urlaub?“
Anna ist enttäuscht. Aber sie lässt nicht locker. Eine Woche später kommt sie mit ihrem Laptop wieder. Jetzt erkennt Oma Martha die Geschichten auf den Fotos aus der Kirche und kann sie ihr erzählen.
Die Männer in dem Boot, das sind zwei Freunde von Jesus. Und das auf dem Wasser, das ist Jesus selber. Der war eines Nachts seinen Freunden, die mit dem Boot über den See fuhren, einfach auf dem Wasser nachgegangen.
Petrus, einer der Freunde, der war aus dem Boot ausgestiegen und auf dem Wasser zu Jesus gegangen. Bis er plötzlich unterging. Aber Jesus rettete ihn.
Und der Mann, der Wasser über Jesus träufelt, das ist Johannes. Der taufte Jesus. Weil Jesus das so wollte, er selber, Johannes, dachte, er könne das gar nicht. Und als Jesus getauft war, da hörte er eine Stimme vom Himmel: „Du bist mein lieber Sohn!“, sagte Gott zu ihm.
Der Mann am Kreuz, das ist auch Jesus. Er starb. Gehasst von den Menschen. Allein gelassen von den Freunden. Er dachte sogar, Gott hätte ihn verlassen.
Aber da irrte er sich. Gott war bei ihm. Nach drei Tagen holte er ihn aus dem Totenreich heraus. Das war der Anfang von etwas ganz Neuem. Für Jesus wie für alle Menschen.
Anna hört sich die Geschichten an. Und auch die zu all den anderen Fotos, die sie in der Kirche gemacht hatte. Als alle Fotos angeschaut und alle Geschichten erzählt sind, steht Oma Martha auf und geht in ihr Schlafzimmer.
Sie kommt mit ihrer alten Bibel wieder. „Da kannst du die Geschichten noch einmal selber nachlesen“, sagt sie zu Anna.

Anna legt zuhause die Bibel neben ihr Bett. Jeden Abend liest sie ein oder zwei Geschichten. Sie findet die Geschichten wieder, die ihr Oma Martha erzählt hatte. Sie findet noch viel mehr Geschichten.
Mit den Geschichten kommen die Fragen. Wieso kann Petrus erst auf dem Wasser laufen und geht dann unter? Was heißt taufen? Wieso muss Jesus sterben? Und was heißt: Er ist auferstanden?
All die Fragen will sie Oma Martha stellen, als sie zu ihrem Geburtstag zu Besuch kommt. Als sie eintrifft, sitzt nur ein Gast an der gedeckten Tafel.
Es ist eine junge Frau, vielleicht zehn Jahre älter als sie. „Das ist unsere neue Pastorin“, stellt Oma Martha sie vor. „Und das ist meine Enkelin Anna, die so viel in der Bibel liest, aber noch gar nicht getauft ist.“
Anna wird rot im Gesicht. Kann Oma nicht ein einziges Mal ihren Mund halten?
Die Pastorin lächelt. „Verstehen Sie denn auch, was sie da lesen?“, fragt sie. „Naja“, sagte Anna, „manchmal ist das ganz schön schwer. Das kann ich allein gar nicht verstehen. Das ist ja alles neu für mich.“
Wir haben gerade einen Glaubenskurs“, sagt die Pastorin. „Da kommen Leute wie Sie mit ganz vielen Fragen. Vielleicht mögen Sie auch mal kommen?“
Mal schauen“, antwortet Anna. Die Pastorin nickt, dann steht sie auf: „Ich muss jetzt leider weiter. Bis zum nächsten Mal.“

Das nächste Mal ist ein Dienstagabend. Unsicher und mit feuchten Händen steht Anna viel zu früh vor dem Pfarrhaus.
Da sind Sie ja!“ Die Pastorin steht in der offenen Tür und lacht ihr entgegen. „Kommen Sie man rein, die anderen werden wohl auch gleich da sein. Ein bisschen Zeit ist ja noch.“
Es sind fünf Andere, die an diesem Abend noch kommen. Die Pastorin verteilt Bibeln. Sie hat eine Geschichte für diesen Abend ausgesucht.
Anna kennt sie schon: Petrus, der erst auf dem Wasser gehen kann und dann versinkt. Jesus, der ihn vor dem Untergang bewahrt.
Anna gefällt die Geschichte. Und ihr gefällt auch, was die anderen dazu sagen.
Dass Petrus erst ganz mutig ist und voller Vertrauen. Dass er deshalb das schafft, was unmöglich ist. Und dass er dann das Vertrauen verliert und untergeht. Aber dass Jesus ihm gerade dann hilft.
Ja“, denkt sie, „so ist das mit meinem Leben auch. Manchmal gelingt mir alles. Und manchmal denke ich, ich kann gar nichts. Dann brauche ich jemanden, der mich aus dem Wasser zieht.“
Genau, du hast die Geschichte verstanden“, sagt die Pastorin neben ihr. Anna wird rot im Gesicht. Sie hat laut gedacht.

Vierzehn Tage später ist Anna wieder im Pfarrhaus beim Gesprächsabend. Und auch die weiteren drei Abende kommt sie.
Am letzten Abend verteilt die Pastorin wieder die Bibeln. Dieses Mal lesen sie eine Geschichte, die Anna noch nicht kennt. Die Geschichte erzählt von dem Eunuch aus Äthiopien.
Sie lesen sie reihum, jeder aus der Gruppe liest einen Satz. „Sieh doch, dort ist eine Wasserstelle. Spricht etwas dagegen, dass ich getauft werde?
Anna liest diesen Satz laut vor. Er lässt sie an diesem Abend nicht mehr los. Sie kann kaum dem Gespräch der anderen folgen.
Darüber, dass Eunuchen als welche galten, die vor Gott unrein waren. Und dass der Heilige Geist immer seine Finger im Spiel hat.
Das alles hört sie nur halb. In ihr wiederholt sich immer und immer wieder der Satz: „Spricht etwas dagegen, dass ich getauft werde?“
Anna trödelt, als der Abend zu Ende ist. Sie will die Letzte sein, sie muss mit der Pastorin allein sprechen. Um ihr diese eine Frage zu stellen: „Spricht etwas dagegen, dass ich getauft werde?“
Nichts spricht dagegen. Alles spricht dafür. Wenn du nur willst“, antwortet die Pastorin und schaut ihr mit einem ernsten Lächeln in die Augen.
Ja, ich will!“, sagt Anna und wird – wieder einmal rot. „Dann sollst du auch getauft werden“, sagt die Pastorin.

Vier Wochen später sitzt Anna unruhig in der Kirchenbank. Sie hört die Orgel. Sie hört auch, wie ihre Oma neben ihr singt. Sie selber kann nicht singen.
Weil sie das Lied nicht kennt, obwohl sie es sich selber ausgesucht hat. Und weil sie aufgeregt ist.
Nach dem Lied ist dann die Taufe dran“, hat die Pastorin zu ihr gesagt. Ihre Taufe. Heute wird sie getauft. Einen Tag vor ihrem Geburtstag.
25 Jahre wird sie morgen alt. Die Freunde sind schon alle eingeladen. Aber heute ist erst einmal Taufe. Ihre Taufe. Und morgen feiert sie Geburtstag. Ihren Geburtstag.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Fortsetzung folgt

Dreifach Gott begegnen

Herr, sag uns, wie wir beten sollen