Spricht etwas dagegen?
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Anna
setzt sich in die Kirchenbank. Ruhig und angenehm kühl ist es hier.
Der schwüle Toskana-Nachmittag bleibt draußen. Genauso wie die
Touristenhorden, die sich durch die Gassen von San Gimignano
schieben.
Sie
nimmt den Rucksack ab und stellt ihn neben sich auf die Bank. Sie
schaut nach oben. Über ihr wölbt sich an der Decke ein blauer
Himmel. Sie schaut sich um.
Die
Seitenwände sind übervoll mit Fresken – Bildergeschichten aus dem
Mittelalter. Manche nur schwach zu erkennen, andere ganz klar und
deutlich.
Anna
steht auf und geht die Bilderreihen ab. Sie sieht zwei Männer, die
in einem Boot sitzen und rudern. Und einen anderen Mann, der neben
ihnen auf den Wellen steht.
Sie
sieht denselben Mann, wie er im Wasser steht und ein anderer ihm
Wasser über den Kopf träufelt. Auf dem größten Bild hängt der
Mann am Kreuz. Unter ihm reiten Soldaten mit Lanzen auf Pferden, eine
Frau und ein junger Mann schauen zu ihm auf.
Anna
weiß – dieser Mann ist Jesus. Aber die Geschichten zu den ganzen
Bildern, die kennt sie nicht. Nicht mehr.
Aber
sie erinnert sich: Ihre Oma Martha hat ihr diese Geschichten einmal
erzählt. Damals, als sie noch ein Kind war und manchmal bei Oma
schlief.
Dann
saß die Oma abends an ihrem Bett und erzählte ihr eine dieser
Geschichten von Jesus. Sie, Anna, fand diese Geschichten spannend.
Aber
ihr Vater hatte sie ausgelacht, als sie ihm einmal davon erzählte.
„Ach, Oma und ihr Jesus!“, hatte er gesagt. Dann muss er
irgendwie mit Oma gesprochen haben.
Oder
war es Zufall, dass sie bald am Bett Geschichten aus Bullerbü
vorlas, statt von Jesus zu erzählen?
Anna
hatte sie gemocht, die Abenteuer von Lisa und Lasse und Bosse. Aber
in diesem Augenblick, in dem sie im Dom von San Gimignano vor den
Wandbildern steht, spürt sie, wie tief sie Omas Geschichten von
ihrem Jesus berührt haben.
Sie
nimmt sich ihr Smartphone und fotografiert Bild für Bild ab. Sie
wird Oma Martha gleich nach ihrem Urlaub besuchen und ihr die Bilder
zeigen und sie nach den Geschichten fragen.
Oma
Martha staunt, als ihre Enkelin Anna aus dem Urlaub zurück kommt,
braun gebrannt und gut gelaunt. Sie fragt sie nach der Sonne und dem
Strand und den Jungs.
Anna
gibt nur kurz Antwort. Dann erzählt sie von dieser Kirche in der
Toskana und zeigt ihr auf dem kleinen Display dunkle Fotos. „Kind,
ich kann gar nichts erkennen“, sagt Oma Martha. „Und wie war nun
dein Urlaub?“
Anna
ist enttäuscht. Aber sie lässt nicht locker. Eine Woche später
kommt sie mit ihrem Laptop wieder. Jetzt erkennt Oma Martha die
Geschichten auf den Fotos aus der Kirche und kann sie ihr erzählen.
Die
Männer in dem Boot, das sind zwei Freunde von Jesus. Und das auf dem
Wasser, das ist Jesus selber. Der war eines Nachts seinen Freunden,
die mit dem Boot über den See fuhren, einfach auf dem Wasser
nachgegangen.
Petrus,
einer der Freunde, der war aus dem Boot ausgestiegen und auf dem
Wasser zu Jesus gegangen. Bis er plötzlich unterging. Aber Jesus
rettete ihn.
Und
der Mann, der Wasser über Jesus träufelt, das ist Johannes. Der
taufte Jesus. Weil Jesus das so wollte, er selber, Johannes, dachte,
er könne das gar nicht. Und als Jesus getauft war, da hörte er eine
Stimme vom Himmel: „Du bist mein lieber Sohn!“, sagte Gott zu
ihm.
Der
Mann am Kreuz, das ist auch Jesus. Er starb. Gehasst von den
Menschen. Allein gelassen von den Freunden. Er dachte sogar, Gott
hätte ihn verlassen.
Aber
da irrte er sich. Gott war bei ihm. Nach drei Tagen holte er ihn aus
dem Totenreich heraus. Das war der Anfang von etwas ganz Neuem. Für
Jesus wie für alle Menschen.
Anna
hört sich die Geschichten an. Und auch die zu all den anderen Fotos,
die sie in der Kirche gemacht hatte. Als alle Fotos angeschaut und
alle Geschichten erzählt sind, steht Oma Martha auf und geht in ihr
Schlafzimmer.
Sie
kommt mit ihrer alten Bibel wieder. „Da kannst du die Geschichten
noch einmal selber nachlesen“, sagt sie zu Anna.
Anna
legt zuhause die Bibel neben ihr Bett. Jeden Abend liest sie ein oder
zwei Geschichten. Sie findet die Geschichten wieder, die ihr Oma
Martha erzählt hatte. Sie findet noch viel mehr Geschichten.
Mit
den Geschichten kommen die Fragen. Wieso kann Petrus erst auf dem
Wasser laufen und geht dann unter? Was heißt taufen? Wieso muss
Jesus sterben? Und was heißt: Er ist auferstanden?
All
die Fragen will sie Oma Martha stellen, als sie zu ihrem Geburtstag
zu Besuch kommt. Als sie eintrifft, sitzt nur ein Gast an der
gedeckten Tafel.
Es
ist eine junge Frau, vielleicht zehn Jahre älter als sie. „Das ist
unsere neue Pastorin“, stellt Oma Martha sie vor. „Und das ist
meine Enkelin Anna, die so viel in der Bibel liest, aber noch gar
nicht getauft ist.“
Anna
wird rot im Gesicht. Kann Oma nicht ein einziges Mal ihren Mund
halten?
Die
Pastorin lächelt. „Verstehen Sie denn auch, was sie da lesen?“,
fragt sie. „Naja“, sagte Anna, „manchmal ist das ganz schön
schwer. Das kann ich allein gar nicht verstehen. Das ist ja alles neu
für mich.“
„Wir
haben gerade einen Glaubenskurs“, sagt die Pastorin. „Da kommen
Leute wie Sie mit ganz vielen Fragen. Vielleicht mögen Sie auch mal
kommen?“
„Mal
schauen“, antwortet Anna. Die Pastorin nickt, dann steht sie auf:
„Ich muss jetzt leider weiter. Bis zum nächsten Mal.“
Das
nächste Mal ist ein Dienstagabend. Unsicher und mit feuchten Händen
steht Anna viel zu früh vor dem Pfarrhaus.
„Da
sind Sie ja!“ Die Pastorin steht in der offenen Tür und lacht ihr
entgegen. „Kommen Sie man rein, die anderen werden wohl auch gleich
da sein. Ein bisschen Zeit ist ja noch.“
Es
sind fünf Andere, die an diesem Abend noch kommen. Die Pastorin
verteilt Bibeln. Sie hat eine Geschichte für diesen Abend
ausgesucht.
Anna
kennt sie schon: Petrus, der erst auf dem Wasser gehen kann und dann
versinkt. Jesus, der ihn vor dem Untergang bewahrt.
Anna
gefällt die Geschichte. Und ihr gefällt auch, was die anderen dazu
sagen.
Dass
Petrus erst ganz mutig ist und voller Vertrauen. Dass er deshalb das
schafft, was unmöglich ist. Und dass er dann das Vertrauen verliert
und untergeht. Aber dass Jesus ihm gerade dann hilft.
„Ja“,
denkt sie, „so ist das mit meinem Leben auch. Manchmal gelingt mir
alles. Und manchmal denke ich, ich kann gar nichts. Dann brauche ich
jemanden, der mich aus dem Wasser zieht.“
„Genau,
du hast die Geschichte verstanden“, sagt die Pastorin neben ihr.
Anna wird rot im Gesicht. Sie hat laut gedacht.
Vierzehn
Tage später ist Anna wieder im Pfarrhaus beim Gesprächsabend. Und
auch die weiteren drei Abende kommt sie.
Am
letzten Abend verteilt die Pastorin wieder die Bibeln. Dieses Mal
lesen sie eine Geschichte, die Anna noch nicht kennt. Die Geschichte
erzählt von dem Eunuch aus Äthiopien.
Sie
lesen sie reihum, jeder aus der Gruppe liest einen Satz. „Sieh
doch, dort ist eine Wasserstelle. Spricht etwas dagegen, dass ich
getauft werde?“
Anna
liest diesen Satz laut vor. Er lässt sie an diesem Abend nicht mehr
los. Sie kann kaum dem Gespräch der anderen folgen.
Darüber,
dass Eunuchen als welche galten, die vor Gott unrein waren. Und dass
der Heilige Geist immer seine Finger im Spiel hat.
Das
alles hört sie nur halb. In ihr wiederholt sich immer und immer
wieder der Satz: „Spricht etwas dagegen, dass ich getauft werde?“
Anna
trödelt, als der Abend zu Ende ist. Sie will die Letzte sein, sie
muss mit der Pastorin allein sprechen. Um ihr diese eine Frage zu
stellen: „Spricht etwas dagegen, dass ich getauft werde?“
„Nichts
spricht dagegen. Alles spricht dafür. Wenn du nur willst“,
antwortet die Pastorin und schaut ihr mit einem ernsten Lächeln in
die Augen.
„Ja,
ich will!“, sagt Anna und wird – wieder einmal rot. „Dann
sollst du auch getauft werden“, sagt die Pastorin.
Vier
Wochen später sitzt Anna unruhig in der Kirchenbank. Sie hört die
Orgel. Sie hört auch, wie ihre Oma neben ihr singt. Sie selber kann
nicht singen.
Weil
sie das Lied nicht kennt, obwohl sie es sich selber ausgesucht hat.
Und weil sie aufgeregt ist.
„Nach
dem Lied ist dann die Taufe dran“, hat die Pastorin zu ihr gesagt.
Ihre Taufe. Heute wird sie getauft. Einen Tag vor ihrem Geburtstag.
25
Jahre wird sie morgen alt. Die Freunde sind schon alle eingeladen.
Aber heute ist erst einmal Taufe. Ihre Taufe. Und morgen feiert sie
Geburtstag. Ihren Geburtstag.
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