Fast Zwillinge

Gustav Doré, Pharisäer und Zöllner, Bibelillustration, 1866.
Einige der Leute waren davon überzeugt, dass sie selbst nach Gottes Willen lebten. Für die anderen hatten sie nur Verachtung übrig. Ihnen erzählte Jesus dieses Gleichnis: 
»Zwei Männer gingen hinauf in den Tempel, um zu beten. Der eine war ein Pharisäer und der andere ein Zolleinnehmer.
Der Pharisäer stellte sich hin und betete leise für sich: ›Gott, ich danke dir, dass ich nicht so bin wie die anderen Menschen – kein Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder Zolleinnehmer wie dieser hier. Ich faste an zwei Tagen in der Woche und gebe sogar den zehnten Teil von allem, was ich kaufe.‹
Der Zolleinnehmer aber stand weit abseits. Er traute sich nicht einmal, zum Himmel aufzublicken. Er schlug sich auf die Brust und sprach: ›Gott, vergib mir! Ich bin ein Mensch, der voller Schuld ist.‹
Das sage ich euch: Der Zolleinnehmer ging nach Hause und Gott hatte ihm seine Schuld vergeben – im Unterschied zu dem Pharisäer.
Denn wer sich selbst groß macht, wird von Gott unbedeutend gemacht. Aber wer sich selbst unbedeutend macht, wird von Gott groß gemacht werden.«

Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade.

So beginnt die Geschichte: Einer steht im Tempel und betet leise für sich: Gott, ich danke dir, dass ich nicht so bin wie die anderen Menschen.
Und so endet die Geschichte: Dieser eine steht wieder im Tempel und betet leise für sich: Gott, vergib mir! Ich bin ein Mensch, der voller Schuld ist.
Zwischen Anfang und Ende aber spannt sich die Geschichte auf. Die Geschichte, die davon erzählt, wie Hochmut zu Demut wird, wie ein Hochmütiger sich zum Demütigen verwandelt.
Ich will versuchen, diese Geschichte zu erzählen.

Am Anfang also steht einer im Tempel. Eduard soll er heißen. Er betet leise für sich. Gott, ich danke dir, dass ich nicht so bin wie die anderen Menschen.
Den Dank spricht er aus vollem Herzen. Dort trägt er den Stolz auf das, was er aus seinem Leben gemacht hat. Und das ist nicht wenig.
Bei dieser Sparkassenwerbung, denkt er oft, könnte er locker mitmachen: Mein Haus, mein Auto, mein Boot. Doch eitel ist er nicht.
Er muss anderen nicht zeigen, wie toll er ist, um zu merken, dass er es zu etwas gebracht hat. Das weiß er auch so.
Sein Haus, sein Auto, sein Boot sind schön und angenehm. Ein Zeichen vielleicht, dass er es sich leisten kann. Aber nicht darauf ist er stolz. Stolz ist er darauf, dass er es sich verdient hat.
Ich habe es mir verdient. Das unterscheidet ihn von anderen Menschen. Er hat gearbeitet, hart gearbeitet. Mehr als andere es getan haben.
Als Kind schon fing er beim Großvater im Laden an. Nach der Schule hat er das Lager aufgeräumt und Regale bestückt. In den Ferien ist er frühmorgens mit dem Großvater zum Großmarkt gefahren.
Er hat es sich verdient, dass er den Laden übernehmen durfte, als der Großvater nicht mehr mochte. Als würdiger Erbe hat er sich erwiesen.
Erst hat er den einen Laden modernisiert. All die Investitionen vollzogen, gegen die sich der Großvater bis zuletzt gesträubt hatte.
Dann war da im anderen Teil der Stadt der Händler, der ihn fragte, ob er nicht seinen Laden übernehmen wolle. Er finde keinen Nachfolger.
Er hat es sich verdient. Er stand noch früher auf und ging noch später nach Hause. Die Läden wuchsen, es wurden nach und nach immer mehr.
Eine Kette von Läden übers ganz Land entstand. Weil er arbeitete, hart arbeitete, mehr als alle, die er anstellte.
Gott, ich danke dir, dass ich nicht so bin wie die anderen Menschen. Den Segen in meinem Leben, ich habe ihn mir verdient.
So betet Eduard und verbeugt sich und dreht sich um und tritt aus dem Tempel auf die Straße. Am Eingang sitzt einer mit einem Hund neben sich und einem Hut vor sich.
Eduard greift in die Tasche und nimmt einen kleinen Schein heraus und lässt ihn in den Hut gleiten.
Der Mann am Boden sieht den Schein und hebt den Blick und schaut den Geber an. Eduard erstarrt. Dann reißt er den Blick los und wendet sich um und geht, läuft davon.
Zuhause schaut er in den Spiegel und betrachtet minutenlang sein Gesicht. Die Augen, die Grübchen am Mund, die Falten an der Nasenwurzel.
Wenn er sich den Bart dazu denkt und die Haare etwas länger und ungewaschen: Der Mann am Boden sieht ihm ähnlich, sehr ähnlich sogar. Und er sieht aus wie er.
Als wäre er ein Zwilling von mir, sagt er über dem Nachtisch und dem Espresso zu Karin, seiner Frau. Vielleicht hast du einen Bruder und weißt es nur nicht, antwortet sie.
Was, Papa hat einen Bruder?, fragt Tom, der Sohn, der sich gerade doch noch ein Eis abholt. Nein, entgegnet Eduard. Aber es könnte sein, sagt Karin.
Aber es könnte sein. Mit diesem Satz und dieser Begegnung tritt der Konjunktiv in Eduards Leben: Was wäre, wenn?
Dabei bewegt ihn gar nicht die Vorstellung, er könnte einen Bruder haben. Das schließt er aus. Ihn treibt ein anderer Gedanke um: Er könnte der Mann am Boden sein.
Was wäre, wenn sein Leben so gelaufen wäre, dass es ihn dorthin geführt hätte? Mit dem Hund neben sich und dem Hut vor sich. Mit verfilztem Bart und ungewaschenen Haaren.
Dem Konjunktiv stellt er den Indikativ entgegen: Ich habe es mir verdient. Er hat es sich verdient.
Der Mann am Boden hat sein Leben liegen lassen. Der hat die Chancen nicht aufgesammelt, die sich ihm boten. Aber er, Eduard, hat sie genutzt. Er hat etwas gemacht aus dem, was sich ihm an Möglichkeiten auftat.
Wenn der Mann am Boden nur wollte, dann könnte er. Keiner muss das Leben führen, das der führt. Jeder ist seines Glückes Schmied. Man muss nur schmieden.
Am Ende bekommt jeder das Leben, das er verdient. Daran hält Eduard fest und ärgert sich, dass er dem Mann am Boden einen Schein in den Hut geworfen hat.
Hat er damit nicht noch unterstützt, dass der dort sitzen bleibt? Warum hat er ihm nicht die Hand gereicht, damit er endlich aufsteht? Das wird er nachholen. Er wird den Mann suchen und ihm die Hand reichen und ihm aufhelfen.
Eduard findet den Mann vor dem Tempel. Dort sitzt er immer noch. Inzwischen unter einem Vordach, weil es endlich einmal regnet.
Eduard spricht den Mann am Boden an: Entschuldigen Sie, meine Frau und ich haben uns gefragt, ob Sie vielleicht eine Tasse Tee … Der Blick des Anderen bringt ihn zum Schweigen.
Er setzt neu an: Ich wollte Sie fragen: Wollen Sie vielleicht bei uns zuhause ein Bad nehmen und einen kleinen Imbiss?
Der Mann am Boden nickt. Er steht auf und streckt eine dreckige Hand aus: Ich bin Karl. Karl folgt Eduard durch die Straßen. Ein ungleiches Paar, das sich ähnlich sieht.
Wir haben Besuch, ruft Eduard ins Wohnzimmer, als die beiden bei ihm eingetroffen sind. Er schickt Karl ins Gästebad und Tom zum Bäcker.
Als Karl eine halbe Stunde später aus dem Bad kommt und das Wohnzimmer betritt, lässt Karin fast die Tasse fallen.
Tatsächlich, wie aus dem Gesicht geschnitten, sagt sie. Jetzt nur noch die Haare ein wenig kürzer und …
Und Karl und Eduard sähen sich zum Verwechseln ähnlich. Sie könnten das Leben tauschen und die Rollen, die sie in ihm spielen, und keiner würde es merken außer ihnen selber.
Aber Eduard will sein Leben nicht tauschen mit dem von Karl. Zumindest nicht mit dem Leben, von dem Karl erzählt, wenn denn stimmt, was der erzählt. Eduard beschließt, dass das der Fall ist.
Wie Perlen auf eine Schnur zieht Karl ein Unglück nach dem anderen auf. Seinen Vater kennt er nicht, von der Mutter hat er nur noch ein Gesicht vor Augen und den Geruch von Alkohol und Rauch in der Nase.
Im Kinderheim muss er brav sein gegenüber den Erwachsenen und stark gegenüber den anderen Kindern. In der Schule ist er der Außenseiter, das Heimkind, mit dem keiner spielt.
Er ist unterwegs, streicht durch die Wälder, zieht durch die Straßen. Das Heim vermittelt ihm eine Lehre. Er wohnt beim Bäcker unterm Dach, schläft wenig, arbeitet viel.
Als die Lehre zu Ende ist, schließt der Bäcker seinen Laden. Karl verliert die Arbeit, er verliert die Wohnung. Er sucht nach beidem. Aber ohne Arbeit bekommt er keine Wohnung und ohne Wohnung keine Arbeit.
So bleiben ihm nur der Platz vor dem Tempel und der Hut vor sich und der Hund an seiner Seite.
Eduard!, sagt Karin, als Karl die Geschichte fertig erzählt und den Kuchen aufgegessen hat. Aber Eduard hört nicht. Er steckt mitten in einer Vergangenheit, die es so nicht gab.
Er sieht sich als Kind ohne Eltern, als einsamer Junge auf Wiesen und Straßen, in der Backstube, unterm Dach.
Er sieht sich als der, der er nie war, aber immer hätte sein können, ohne dass er es verdient hätte: mit einem Hund neben sich und einem Hut vor sich.
Eduard!, sagt Karin noch einmal. Und Eduard kehrt zurück aus dem Damals, das seines hätte sein können, und sieht sein Leben, das Karls sein könnte.
Das Haus, das Auto, das Boot. Die Läden, die überall im Land niedrige Preise und hohe Umsätze haben. Die Erfüllung, mit der er tut und plant und denkt und lenkt. Den Großvater, der ihm freundlich knurrend immer mehr zutraut.
Er sieht das Leben, das Karls hätte sein können, aber seines ist. Das Leben, das er hat, ohne dass er es verdient hätte.
Eduard!, sagt Karin zum dritten Mal. Du musst etwas tun für diesen Mann. Da ist Eduard endgültig zurück aus dem Leben, wie es hätte sein können und wie es geworden ist.
Karl, wenn es Ihnen Recht ist, kann ich zwei oder drei Telefonate führen und sehen, was ich für Sie machen kann. Karl ist es Recht und Karin bereitet das Bett im Gästezimmer vor, während Eduard telefoniert.
Am Ende der Geschichte steht Eduard wieder im Tempel und betet leise für sich: Gott, vergib mir! Ich bin ein Mensch, der voller Schuld ist. Ich stehe in deiner Schuld.
Doch zu Ende ist die Geschichte an ihrem Ende noch lange nicht. Für Eduard beginnt sie noch einmal neu. Er geht hinaus in sein Leben und bestaunt mit offenen Augen, was Gott ihm in die leeren Hände legt und er, Eduard, nicht verdient hat.

Gott widersteht dem Hochmütigen, aber dem Demütigen schenkt er Gnade.
 

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