Das Kreuz von Notre-Dame de Paris
Das Kreuz von Notre-Dame de Paris (Foto: APA/AFP/POOL/PHILIPPE WOJAZER) |
Die
Feuerwehrmänner stehen am Portal von Notre-Dame und schauen zum
Altar. Wie übergroße Mikadostäbe liegen schwarz verkohlte Balken
durcheinander vor ihnen. Hier und da qualmen sie. Der Rauchgeruch
beißt in der Nase.
Der
Blick der Männer folgt den aufstrebenden Mauern und Pfeilern. Weit
oben wölben sich Kuppeln aus Stein. Über der Vierung klafft ein
riesiges Loch. Zwischen ausgefransten Steinverbünden öffnet sich
der Himmel. Ein kühler Wind fällt dort hinein, wo sich bisher das
Gewölbe schloss.
Die
Männer sind erschöpft. In den letzten Stunden haben sie gegen das
Feuer gekämpft. Sie haben sich dagegen gestemmt, dass es die
Kathedrale zerstört.
Sie
haben die Flammen gestillt. Im letzten Augenblick, gerade noch
rechtzeitig, um das Gebäude zu retten. Die Außenmauern und die
Türme haben standgehalten. Die unversehrten Bänke im Kirchenschiff
vor ihnen laden sie ein, sich hinzusetzen und zu verschnaufen.
Sie
haben gegen das Feuer verloren. Der Dachstuhl ist zerstört, der
Dachreiter vernichtet. Wie ein Gerippe ragt das Gerüst empor, das
für die Sanierung auf das Dach gebaut wurde.
Die
Männer sind stolz auf das, was sie erreicht haben. Die völlige
Zerstörung haben sie verhindert. Sie konnten die Kathedrale retten.
Den
Männern blutet das Herz. Vier Stunden hat das Feuer gebraucht, um
mehr als 800 Jahre zu vernichten. Dachbalken brannten wie Zunder,
Blei schmolz bei 1.000 Grad.
Noch
mehr brannte, verbrannte: ein heiliger Ort. Ein Ort, der Menschen mit
Gott verbindet.
Ich
stelle mir vor: Eine lange Reihe von Menschen, die über ungezählte
Generationen in der Kathedrale aus- und eingingen. Frauen und Männer,
Herrscher und Diener, Arme und Reiche, Gesunde und Kranke, Nachbarn
und Touristen, Abgeklärte und Träumende.
Sie
alle haben hier ihre Spuren hinterlassen in den vergangenen
Jahrhunderten. Ihr Lachen und ihr Weinen, ihr Singen und ihr
Schweigen, ihre verzweifelten und dankbaren Gebete.
Viele
haben etwas mitgenommen, wenn sie die Kathedrale wieder verließen.
Eine Frage oder einen Anstoß, einen Trost oder eine Antwort. Immer
wieder: einen Segen.
Wer
kam und ging, ahnte oder hoffte oder vertraute: Gottes Segen kann
mich bergen wie dieses Gott geweihte Haus.
Ja,
Notre-Dame kann Gott nicht fassen, keine Kirche kann das. Und ja: In
jeder Kirche wohnt Gott, in Notre-Dame wohnt Gott. Wohnte Gott, bis
das Feuer kam.
Die
Feuerwehrmänner stehen am Portal von Notre-Dame und schauen zum
Altar. Unversehrt ist er geblieben und die Statue, die ihn schmückt.
Sie sehen Maria, sie schaut nach oben, dorthin, wo jetzt im Gewölbe
ein Loch zum Himmel klafft.
Über
ihrem Schoß liegt der Leichnam ihres Sohnes, liegt der tote Jesus.
Sein Kopf ruht auf ihrem Bein, ein Arm hängt schlaff herab.
Die
Männer sehen Maria, die ihre Arme ausbreitet. Die Handflächen hält
sie nach oben geöffnet, sie folgen ihrem Blick zum Himmel. Ihr
Gesicht, ihre Arme und Hände, ihre ganze Haltung schreien ein
Flüstern heraus.
Ich
stelle mir vor: Maria wiederholt die Frage, die Jesus selber gestellt
hat, ein paar Stunden zuvor, als er starb: „Gott, mein Gott,
warum hast du mich verlassen?!“ (Psalm 22,2)
Eine
Frage, die keine Frage ist. Sondern ein Aufschrei im Leid. Eine
Verzweiflung, die keine Antwort mehr erwartet. Wie sollte auch einer
antworten, der nicht da ist? Nicht mehr?
Gott
hat verlassen. Jesus am Kreuz. Maria in ihrem Schmerz. Sie sind
allein. Ungewollt gottlos. Gott wohnt nicht mehr, wo er bisher
wohnte.
Jesus
stirbt, der Sohn ist tot. Die Hände, die Brot und Fische teilten mit
denen, die nach Nähe hungerten, sind kalt. Die Lippen, die mit
Worten Leben weckten, sind blass. Der Spiegel, in dem sich Gott
ansah, ist blind.
Die
Frage von Jesus am Kreuz schluckt eine gähnende Leere. Der Blick von
Maria verliert sich im weiten Nirgendwo. Warum hast du mich
verlassen? Warum hast du uns verlassen?
Karfreitag,
da bleiben die Außenmauern des Glaubens gerade noch stehen. Die
Magnolie blüht und erzählt vom Schöpfer und der Kraft, die es doch
geben muss.
Der
Dachstuhl des Glaubens wird ein Opfer der Flammen, das Gewölbe
stürzt ein, vor dem Altar fallen die Balken wie Mikadostäbe
durcheinander.
Kein
Ort mehr, an dem ich mich bergen kann mit meinem Lachen und Weinen.
Niemand hört mein Singen oder lauscht auf mein Schweigen. Die
Gebete, wie dankbar oder verzweifelt auch immer, verhallen.
Hände
und Herzen, die ich hinhalte, bleiben leer. Kein Segen, der meine
Hände füllt und mir ins Herz tropft, kein volles, gedrücktes,
gerütteltes und überfließendes Maß mehr.
Gott,
mein Gott, warum hast du uns verlassen? Am Karfreitag klafft der
unmögliche Abgrund auf: Dass da kein Gott ist. Dass nicht gilt,
worauf Menschen vertrauen und bauen von Generation zu Generation, ein
ganzes Leben lang.
Gott
wohnt nicht mehr, wo er wohnte.
Die
Feuerwehrmänner stehen am Portal von Notre-Dame und schauen zum
Altar. Maria mit dem toten Jesus auf dem Schoß sitzt unter dem
Kreuz. Hinter ihr und ihm ragt es empor. Es leuchtet.
Die
Männer wissen: Das Kreuz spiegelt das Licht der Strahler, die im
Kirchenschiff aufgebaut sind. Sie sehen: Das Kreuz strahlt golden
durch die Rauchschwaden. Es scheint hell vor der dunklen Apsis.
Ich
stelle mir vor: Das Kreuz schimmert wie Hoffnung. Hinter dem Haufen
durcheinander geworfener Dachbalken. Unter dem Loch im
Vierungsgewölbe.
Das
Kreuz schimmert und antwortet. Auf die Frage des toten Jesus. Hinter
den ausgebreiteten Armen von Maria: Ich habe dich nicht verlassen.
Ich habe euch nicht verlassen.
Gott
wohnt nicht mehr, wo er wohnte. Er hängt am Kreuz, das licht
schimmert. Dort, wo Jesus an Gott und seiner Nähe verzweifelt. An
dem Ort, dem Maria den Rücken zukehrt.
Am
Karfreitag ragt das Kreuz empor. Vor der dunklen Unmöglichkeit, dass
Gott nicht da ist.
Das
Kreuz ragt empor und schimmert. Eine unmögliche Hoffnung, von der
ich nicht weiß, die mir dennoch leuchtet: Dass Gott da ist, wo ich
an ihm verzweifle. Dass er an dem Ort ist, dem ich den Rücken
zukehre.
Ich
stehe da und schaue hin. Auf den Rosenkrieg um Kinder und Geld, in
dem mir die Kraft fehlt, mich zu wehren, und auch die Kraft, meine
Hand zu reichen.
Ich
sitze da und wende mich dem Menschen zu, der mir langsam entgleitet
in das Vergessen, der mich mit fragendem Blick anschaut, weil er
nicht mehr weiß, wer das ist, der ihm die Hand hält.
Das
Kreuz schimmert Hoffnung. Du kannst hinschauen und nicht wissen und
doch sehen: Gott hat dich nicht verlassen. Gott ist da.
Mitten
in den Trümmern aus Balken und Steinen deines Lebens und Glaubens.
Wo deine Träume auf dem Boden zerschellen und dein Alltag in tausend
kleine Teile zerschlägt. Wo Sicherheiten in Rauch aufgehen und die
Außenmauern einzustürzen drohen.
Wo
der vertraute Segen nicht mehr birgt, schimmert nun das Kreuz. Von
ihm strahlt jetzt Segen aus. Ein anderer Segen. Ein Segen, der die
Rauchschaden über den Trümmern eines Lebens golden durchwirkt.
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