Die Liebe malt das Leben bunt
Es
war einmal eine Stadt, irgendwo – hier in der Nähe, ganz weit weg.
Die Stadt – nicht groß und nicht klein – war so grau wie das
Meer, an dem sie lag, und der Himmel, der sich über ihr erstreckte.
In
all den Jahren, in denen die Einwohner in ihrer Stadt lebten, hatten
auch sie deren Farbe angenommen: Ein trostloses Grau.
Mit
grauen Gesichtern gingen die Einwohner der Stadt ihrem grauen Alltag
nach. Morgens machten sich die grauen Menschen durch die grauen
Straßen auf den Weg in ihre grauen Schulen, Fabriken und Büros.
Dort
erledigten sie das, was sie ihr Tagwerk nannten: Lernten graue
Gedanken, stellten graue Dinge her, stapelten graue Akten.
Am
Ende des Tages machten sie sich in der grauen Dämmerung auf den Weg
zurück, durch die grauen Straßen, in ihre grauen Wohnungen und
Häuser.
Niemals
kam jemand aus einer anderen Stadt zu Besuch in die graue Stadt. Zu
sehr fürchteten die Fremden, dass das Grau auf sie abfärben könnte.
Einmal
aber erschien doch ein Fremder in der Stadt. Dass es tatsächlich ein
Fremder war, ließ sich leicht erkennen: Er trug bunte Kleider und
hatte Farbe im Gesicht.
Der
Mann suchte Unterkunft in einer der Pensionen der Stadt. Die Wirtin
wollte ihm das Zimmer erst verweigern. Zu fremd, zu bunt erschien ihr
der Fremde. Doch irgendetwas an ihm versperrte dem „Nein“ den Weg
aus ihrem Mund. Vielleicht war es das Lächeln, das er ihr schenkte.
In
den folgenden grauen Tagen ging der Fremde durch die grauen Straßen
der grauen Stadt, bleib einmal hier kurz stehen, schaute sich einmal
dort etwas an.
Nach
einer Woche hatten die grauen Menschen sich fast daran gewöhnt, dass
der Mann durch die Straßen ihrer Stadt ging. Die Eltern vergaßen
sogar, ihre Kinder zu ermahnen, dem Fremden besser nicht zu nahe zu
kommen.
So
geschah es, dass drei Kinder auf ihrem Heimweg von der Schule von
fern den Mann in seinen bunten Kleidern sahen und beschlossen, ihm
unauffällig bei seinem Rundgang durch die Straßen der grauen Stadt
zu folgen.
Sie
gingen ihm zwei, drei Stunden nach, bis er durch ein Tor in den
grauen Park der Stadt ging. Kurz überlegten die Kinder, ob sie ihm
nachschleichen sollten. Doch vor dem Park hatten die Eltern sie immer
gewarnt – noch nachdrücklicher als vor dem fremden Mann.
Auch
am nächsten Tag folgten sie dem Mann durch die grauen Straßen, bis
er wieder im Park verschwand. Am darauf folgenden Tag schließlich
wagten sie sich weiter.
Auf
Zehenspitzen schlichen sie in den Park, bogen um ein Gebüsch – und
standen plötzlich vor einer Bank, auf der der Mann saß und sie
anlächelte. Die Kinder erstarrten vor Schreck, die gelähmten Beine
verweigerten die Flucht.
Nach
einem kurzen Augenblick sagte der Fremde: „Da seid ihr ja! Kommt
und setzt euch zu mir!“ Als die Kinder neben ihm saßen, begann er
ihnen seine Geschichte zu erzählen.
„Wisst
ihr, ich komme aus einer Stadt, die ist ganz anders als eure Stadt.“
Er erzählte ihnen von einem blauen Meer und einem blauen Himmel, von
Häusern mit roten Dächern und grünen, gelben, blauen Fassaden, von
Menschen mit bunten Kleidern, wie er sie trug, von Menschen, die
lächelten und lachten.
Die
Kinder hörten gebannt zu, bis der Mann sie nach Hause schickte –
nicht ohne ihnen vorher zu versprechen, am kommenden Tag mehr von
seiner Stadt zu erzählen.
So
kamen die Kinder eine Woche lang jeden Tag zu dem Fremden in den
Park, setzten sich neben ihn auf die Parkbank und ließen sich von
seiner bunten Stadt erzählen.
Sie
hörten von bunten Drachen, die die Kinder dort in den blauen Himmel
steigen ließen, von der Schule, in der die Kinder den Lehrern
sagten, was sie wie lernen wollten.
Der
Mann erzählte ihnen von den bunten Dingen, die in den Fabriken
hergestellt wurden, und von den Büros, in denen kaum jemand
arbeitete, weil es nur wenige Verordnungen umzusetzen und noch
weniger Formulare auszufüllen gab.
Jeden
Tag freuten sich die Kinder ein wenig mehr auf die Zeit mit dem Mann,
auf seine Geschichten und Erzählungen, auf sein Lächeln.
Jedes
Mal gingen sie noch ein wenig glücklicher aus dem Park nach Hause.
Sie vergaßen fast die Furcht, die sie davor hatten, dass ihre Eltern
ihr Geheimnis entdeckten.
Eines
Abends aber mussten die Eltern es entdecken: Als die Kinder aus dem
Park nach Hause kamen, war das Grau aus ihren Gesichtern
verschwunden und ein Lächeln spielte um ihre Lippen.
Den
Eltern und den Kindern fuhr der Schreck in die Knochen. Den Eltern,
weil ihnen ihre Kinder plötzlich fremd wirkten – und zugleich so
aussahen, wie sie selber schon immer hatten aussehen wollen:
glücklich. Den Kindern, weil sie fürchteten, nun nie mehr mit dem
Fremden reden zu können.
Natürlich
lagen die Kinder mit ihrer Befürchtung richtig. Die Eltern gingen
zur Polizei und zeigten den Fremden wegen der Belästigung ihrer
Kinder an.
Der
Polizeichef informierte umgehend den Bürgermeister, der wiederum die
gewählten Vertreter des grauen Stadtparlaments zu einer dringlichen
Sondersitzung zusammenrief.
Sprecher
aller Fraktionen ereiferten sich über das Auftreten und das
Verhalten des Fremden. Die Opposition forderte den Rücktritt des
Bürgermeisters, weil er nicht früher tätig geworden war, und
verlangten eine Änderung des Einwanderungsgesetzes, damit lächelnde,
bunte Menschen nicht mehr die graue Stadt gefährden konnten.
Mit
den Stimmen aller Abgeordneten beschloss das Parlament die Ausweisung
des Mannes, die sofort – und ohne Widerstand des Fremden –
vollzogen wurde.
Damit
hätte die graue Stadt zu ihrem grauen Alltag zurückkehren können.
Wären da nicht die drei Kinder gewesen. Auch Wochen später waren
Farbe und Lächeln nicht aus ihren Gesichtern gewichen.
Die
Geschichten, die sie von dem Fremden über dessen bunte Stadt mit
ihren bunten Häusern und den lächelnden Menschen gehört hatten,
machten in der grauen Stadt die Runde.
Sie
sorgten für Unruhe, mehr noch: Der Ruf nach Farbe und Buntheit wurde
in der grauen Stadt laut.
Nach
langen Diskussionen mit der Opposition beschloss die Regierung
deshalb ein Programm zur Förderung der Buntheit.
So
begann die Umgestaltung der grauen Stadt. Die Fabriken stellten Farbe
her, die an die Einwohner verteilt wurde, damit sie den Fassaden
ihrer Häuser einen bunten Anstrich gaben.
Die
Menschen stürmten die Läden, um trotz überhöhter Preise die neu
entworfenen bunten Kleider zu kaufen. Die Bürokratie wurde radikal
abgebaut, die beschäftigungslosen Angestellten wurden für das
Anstreichen der Häuser abgeordnet.
Die
Schulen stellten die Lehrpläne um, die Lehrer warfen die alten
Konzepte weg, die Schüler übernahmen das Lernkommando.
Die
Stadt veränderte sich – sie wurde bunt. Auch die Menschen in der
Stadt veränderten sich – äußerlich wirkten sie durch die neuen
Kleider bunt. Doch die Gesichter blieben grau, trotz der neu
entstandenen Sonnenstudios und der an der Volkshochschule angebotenen
Lächel-Kurse.
Die
drei Kinder, die mit dem Fremden auf der Parkbank gesessen hatten,
blieben die einzigen Einwohner der grauen Stadt, die lächelten und
deren Gesichter Farbe hatten.
Wieder
kam Unruhe auf. Wieder verhandelte der Bürgermeister mit der
Opposition. Gemeinsam beschlossen sie, den Fremden als Berater in die
nicht mehr ganz graue Stadt zurückzuholen.
Also
schickte man Botschafter in die bunte Stadt zu dem Fremden. Der
erklärte sich auch tatsächlich zu einer Rede in der grauen Stadt
bereit – unter der Bedingung, dass die drei Kinder als Ehrengäste
zugegen sein würden.
Am
Tag der Rede herrschte in der Stadt eine Mischung aus Feststimmung
und gespannter Erwartung. Die Menschen hatten sich ihre buntesten
Kleider angezogen, auch die letzten Häuser in den hintersten Ecken
der Stadt hatten aus Mitteln der Buntheitsförderung einen farbigen
Anstrich bekommen.
Im
Parlament begrüßte der Bürgermeister den Fremden und verwies in
einer langen und ausschweifenden Rede auf die Verwandlung der Stadt,
die nach dem so überstürzten wie unnötigen Weggang des Mannes und
auf seine – des Bürgermeisters – Initiative erfolgt sei.
Der
Oppositionsführer murrte hörbar, doch das Protokoll räumte ihm
keine Redezeit ein. Der Fremde hatte das Wort:
„Liebe
Einwohner, ich sehe die Veränderung in eurer Stadt. Bunt ist sie
geworden, seit ich von hier weggegangen bin. Sogar die Parkbank, auf
der ich immer gesessen und mich mit den drei Kindern unterhalten
habe, leuchtet jetzt grün.
Auch
ihr, liebe Einwohner, habt euch verändert, seid jetzt bunt
gekleidet. Auf all die Veränderungen, auf den Wandel könnt ihr
stolz sein.
Dennoch
fehlt euch etwas, wie euren Gesichtern die Farbe. Etwas, das die drei
Kinder hier in ihrem Lächeln tragen. Etwas, ohne das all eure
Buntheit nur äußerlich bleibt: Die Liebe.
Ihr
fragt, was die Liebe ist? Liebe ist geduldig und freundlich, hält
sich fern von hektischem Eifer und Klamauk, von Dünkel und
Frechheit, sie kennt keinen Eigennutz und keine Verbitterung.
Heimtücke ist ihr genauso zuwider wie die hämische Freude am
Unrecht.
Wer liebt, freut sich mit dem anderen
über alles, was gut ist. Wer liebt, kann alles vergeben, kann von
Herzen glauben, inständig hoffen und alles ertragen.
Und
Liebe ist ein Geschenk. Ein Geschenk, das so klein ist, dass ihr es
leicht überseht. Wenn ihr nicht wie die Kinder neugierig in eurer
Stadt danach Ausschau haltet.
Wenn
ihr das Geschenk dann findet, dann findet ihr auch euer Lächeln, wie
es die Drei hier gefunden haben.“
Wieder
lächelte er die Kinder an und ging – begleitet von Applaus –
zurück zu ihnen in die Ehrenloge.
Die
Zeitung berichtete am nächsten Tag von der großen Aufforderung und
Herausforderung zur Liebe. Besonders gelungen fand der Chefredakteur
seine Überschrift: „Lasst uns das Hohelied der Liebe singen!“
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