Ein Silberstück
Das Himmelreich gleicht einem
Grundbesitzer:
Er zog früh am Morgen los, um Arbeiter
für seinen Weinberg einzustellen. Er einigte sich mit den Arbeitern
auf einen Lohn von einem Silberstück für den Tag. Dann schickte er
sie in seinen Weinberg.
Um die dritte Stunde ging er wieder
los. Da sah er noch andere Männer, die ohne Arbeit waren und auf dem
Marktplatz herumstanden. Er sagte zu ihnen: 'Ihr könnt auch in
meinen Weinberg gehen. Ich werde euch angemessen dafür bezahlen.'
Die Männer gingen hin.
Später, um die sechste Stunde, und
dann nochmal um die neunte Stunde, machte der Mann noch einmal das
Gleiche.
Als er um die elfte Stunde noch einmal
losging, traf er wieder einige Männer, die dort herumstanden. Er
fragte sie: 'Warum steht ihr hier den ganzen Tag untätig herum?' Sie
antworteten ihm: 'Weil uns niemand eingestellt hat!' Da sagte er zu
ihnen: 'Ihr könnt auch in meinen Weinberg gehen!'
Am Abend sagte der Besitzer des
Weinbergs zu seinem Verwalter: 'Ruf die Arbeiter zusammen und zahl
ihnen den Lohn aus! Fang bei den Letzten an und hör bei den Ersten
auf.' Also kamen zuerst die Arbeiter, die um die elfte Stunde
angefangen hatten. Sie erhielten ein Silberstück.
Zuletzt kamen die an die Reihe, die als
Erste angefangen hatten. Sie dachten: 'Bestimmt werden wir mehr
bekommen!' Doch auch sie erhielten jeder ein Silberstück.
Als sie ihren Lohn bekommen hatten,
schimpften sie über den Grundbesitzer. Sie sagten: 'Die da, die als
Letzte gekommen sind, haben nur eine Stunde gearbeitet. Aber du hast
sie genauso behandelt wie uns. Dabei haben wir den ganzen Tag in der
Hitze geschuftet!'
Da sagte der Grundbesitzer zu einem von
ihnen: 'Guter Mann, ich tue dir kein Unrecht. Hast du dich nicht mit
mir auf ein Silberstück als Lohn geeinigt? Nimm also das, was dir
zusteht, und geh! Ich will dem Letzten hier genauso viel geben wie
dir. Kann ich mit dem, was mir gehört, etwa nicht das machen, was
ich will? Oder bist du neidisch, weil ich so großzügig bin?'
So werden die Letzten die Ersten und
die Ersten die Letzten sein.
"So werden die Letzten die Ersten und
die Ersten die Letzten sein", sagte der Grundbesitzer und ging in sein
Haus. Zurück blieben der Erste und der Letzte, jeder mit seinem
Silberstück in der Hand.
Gleich, gleich würden sie los gehen,
nach Hause, mit dem Lohn für einen Tag. Sie würden über den
Marktplatz gehen und kaufen, was sie brauchten, sie und ihre
Familien.
Etwas Mehl für die Fladen, ein paar
Datteln, einen Lederriemen für die Sandalen, ein Stück Stoff für
ein Kleid.
Jetzt aber standen sie noch da und
schauten auf die Tür, die sich hinter dem Grundbesitzer geschlossen
hatte, und auf das Silberstück, das glänzend warm in ihrer Hand
lag.
„Ich habe mehr bekommen, als ich
verdient habe“, sagte der Letzte, der zum Ersten geworden war, und
schüttelte ungläubig den Kopf.
Einen Augenblick dachte er darüber
nach, ob er das Silberstück bei einem Händler auf dem Markt in
kleinere Münzen wechseln sollte.
Er könnte ein paar Kupfermünzen
nehmen und dem anderen eine Kleinigkeit für seine Kinder kaufen. So
würde er ihm zeigen, dass er ihn und seinen Ärger versteht.
Damit wäre auch wieder Gerechtigkeit
hergestellt. Annähernd jedenfalls: Dass jeder bekommt, was er
verdient. Gerechter Lohn für ordentliche Arbeit. Darum ging es doch.
So könnte er das machen. Einerseits.
Andererseits: Das Silberstück reichte gerade für das, was er und
die Seinen brauchten. Es reichte gerade für diesen Tag. Wie gut,
dass er es noch bekommen hatte.
Nachdem er Stunden gebangt hatte, ob er
an diesem Tag überhaupt etwas verdienen würde und kaufen könnte.
Sie lebten von der Hand in den Mund.
Heute hatte sich die Hand gefüllt, spät, aber sie hatte sich
gefüllt. So würden sich auch der Mund und der Magen füllen.
Der Erste aber, der zum Letzten
geworden war, stand daneben und schüttelte auch seinen Kopf: „Ich
habe mehr verdient, als ich bekommen habe“, sagte er.
Einen Augenblick dachte er darüber
nach, ob er nicht selber für Gerechtigkeit sorgen sollte: Dem da
neben ihm das Silberstück wegnehmen.
Schließlich hatte der Schmarotzer ja
nichts getan. Der Grundbesitzer hatte dem einfach so fürs Nichtstun
den Lohn für einen ganzen Tag gegeben.
Er aber, er hatte doch den ganzen Tag
gearbeitet und getan und geschwitzt. Er hatte sich das Silberstück,
das er versprochen bekommen hatte, redlich verdient.
Wenn der andere ein Silberstück bekam,
dann hatte er sogar noch mehr verdient, aber nicht bekommen.
„Bist du etwa neidisch?“, hatte ihn
der Grundbesitzer gefragt. Vielleicht war er das.
Aber eigentlich, eigentlich war er
zornig, wütend auf den Grundbesitzer. Weil er von dem abhängig war:
Der gab ihm Arbeit und Lohn und Auskommen.
Mit dem Grundbesitzer, hätte er gern
weiter gestritten. Über gerechten Lohn und feste Anstellung. Aber
der entzog sich ihm: „Ich kann doch mit dem, was mir gehört,
machen, was ich will!“
„Das Himmelreich gleicht einem
Grundbesitzer“, sagt Jesus. Und meint diesen Grundbesitzer, der mit
dem, was ihm gehört, macht, was ihm gefällt.
Womöglich hat er das Recht dazu. Es
sind ja sein Grund und Boden, auf dem die Männer vom Marktplatz
arbeiten. Es sind ja seine Silberstücke, die er an sie weiterreicht.
So läuft das in der Marktwirtschaft:
Die einen bieten ihre Arbeitskraft an, die anderen geben ihnen Lohn
dafür. Und umgekehrt: Die einen bieten Silberstücke an, die anderen
geben ihre Arbeitskraft dafür.
So läuft das: Leistung für Leistung.
Ein Tauschgeschäft. Ich gebe Arbeitskraft und bekomme Geld dafür.
Ich gebe Geld und bekomme Arbeitskraft dafür.
So läuft das in der Marktwirtschaft:
Wenn ich etwas gebe, kann ich damit rechnen, dass ich etwas bekomme.
Wer etwas bekommen will, muss dafür etwas geben.
Wenn ich eine gute Note will, muss ich
in der Regel fleißig lernen. Wer gute Noten auf dem Zeugnis hat,
bekommt womöglich ein Zeugnisgeschenk.
Wenn ich möchte, dass mir jemand einen
Gefallen tut, muss ich ihn wenigstens höflich darum bitten. Wer
einer anderen hilft, darf mindestens mit einem freundlichen
Dankeschön rechnen.
Ein Tauschgeschäft also. So ist die
Regel. Aber das muss gerecht sein. Auch das ist Gesetz. Was der eine
in die Waagschale packt, muss aufwiegen, was in der anderen
Waagschale liegt.
„Das Himmelreich gleicht einem
Grundbesitzer“, sagt Jesus. Und meint diesen Grundbesitzer, der
Letzte zu Ersten und Erste zu Letzten macht.
Das Recht hat der Grundbesitzer wohl
dazu. Aber ist es deshalb auch gerecht und nach den Regeln?
Niemand kann ihm verbieten so viel zu
geben, wie er will. Aber man kann doch von ihm fordern, dass es dem
entspricht, was andere ihm dafür geben.
Manchmal bin ich dem Leben gegenüber
wie der Erste, der zum Letzten geworden ist.
Ich schaue auf das, was ich gegeben
habe, und auf das, was ich bekommen habe. Und ich denke mir: Ich habe
mehr verdient, als ich bekommen habe.
Schließlich habe ich getan, was zu tun
war. Manchmal sogar ein bisschen mehr. Ich habe einiges in die
Waagschale geworfen an Fleiß und Einsatz. Da ist es nur recht und
billig, dass das aufgewogen wird mit Erfolg und Glück.
Zumindest müsste ich glücklicher sein
und erfolgreicher als der, der weniger fleißig und einsatzfreudig
gewesen ist.
Ich weiß, was ich geleistet habe.
Schließlich führe ich genau Buch darüber. Posten für Posten kann
ich dem Leben vorrechnen, was ich alles verdient habe.
Manchmal bin ich dem Leben gegenüber
der Letzte, der zum Ersten wird.
Ich schaue auf das, was ich gegeben
habe und auf das was ich bekommen habe. Und ich denke mir: Ich habe
mehr bekommen, als ich verdient habe.
Es ist doch so wenig, was ich in die
Waagschale zu werfen habe. So oft habe ich nicht zu Ende gebracht,
was ich angefangen habe.
Ich bin bei den gut gemeinten Vorsätzen
stehen geblieben und keinen Schritt weiter gegangen. Ich bin mit dem
gescheitert, was ich wohl gut gemeint, aber schlecht gemacht habe.
Dennoch: Die Sonne lacht über meinem
Leben und ich habe nichts dafür getan. Falls einmal Wolken
aufziehen, kommt von irgendwo ein guter Wind und vertreibt sie.
So wenig ist das, was ich mir verdient
habe. So viel ist es, was ich bekommen habe. Ich stehe tief in der
Schuld beim Leben, das mich für nichts belohnt.
Lohn für nichts, das nennt man auch
Geschenk. Und dann vergesse ich oft genug sogar, mich für dieses
Geschenk zu bedanken.
„Das Himmelreich gleicht einem
Grundbesitzer“, sagt Jesus. Und ich gleiche in meinem Leben mal dem
Ersten, der nicht Erster wird, und mal dem Letzten, der nicht Letzter
bleibt.
Der Grundbesitzer geht auf den
Marktplatz, aber er pfeift auf die Marktwirtschaft. Was einer
leistet, fällt nicht ins Gewicht. Was der Grundbesitzer gibt, das
zählt: ein Silberstück, genug zum Leben, genug für das täglich
Brot.
Ich würde das auch gern können: Auf
den Marktplatz gehen und auf die Marktwirtschaft pfeifen.
Manchmal gelingt mir das. Oder besser:
Bei manchen gelingt mir das. Bei den Menschen, die ich liebe, gelingt
mir das. Manchmal jedenfalls.
Ich schaue nicht auf das, was sie
leisten. Oft jedenfalls. Und in den Fällen, in denen ich darauf
schaue, fällt es nicht ins Gewicht. Meistens jedenfalls.
Meine Liebe gilt ja nicht dem, was eine
für mich tut. Meine Liebe gilt ja dem Menschen, der einer ist. An
und für sich. Zumindest dann, wenn meine Liebe Liebe ist.
Aber manchmal misslingt mir das. Oder
genauer: Bei mir selber misslingt es mir immer wieder. Ich kann mir
nur schwer vorstellen, dass mich eine einfach so liebt.
Also strenge ich mich an und zeige das,
was ich für meine beste Seite halte.
Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob
sie das wirklich ist und ich alles tue, was ich tun kann. Ich weiß
auch nicht, ob es dafür reicht, dass eine mich liebt.
Manchmal bilde ich mir auch ein, dass
ich mich tatsächlich von meiner Schokoladenseite zeige und ich so
über die Maßen liebenswert bin, dass die andere mich einfach gern
haben und auf Händen tragen muss.
Dann strecke ich meine Hand aus und die
andere legt ein Silberstück hinein. Ob ich an mir zweifle oder mich
für besonders liebenswert halte: ein Silberstück. Das, was ich zum
Leben brauche. Meine tägliche Liebe.
So ist das mit Gott und dem
Himmelreich. Ob du dich für den Ersten hältst. Oder für den
Letzten. Du bekommst ein Silberstück.
Gott legt es dir ins Herz.: Was du zum
Leben brauchst. Seine tägliche Liebe. Mehr geht nicht.
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