Wenn Gott dich findet und du ihn
Wenn du nach Gott suchen wolltest: Wo
würdest du damit anfangen?
Um Gott nah zu sein, kannst du zum
Beispiel auch auf einen Berg steigen. Immer weiter und weiter, bis du
ganz oben stehst auf dem Gipfel, wo es nicht mehr höher hinaus geht.
Dort ist es still. Allenfalls der Wind
rauscht leise und der Puls pocht vom Aufstieg. Der Blick weitet sich
über die umliegenden Gipfel und die dazwischen verborgenen Täler
und geht in den Himmel, der nicht endet.
Das Herz öffnet sich und nimmt die
Weite in sich auf und sieht womöglich Dinge, die du mit den Augen
nicht sehen kannst und auch mit dem Herzen nur an diesem Ort.
Dort kann es schon geschehen, dass
einer Moses sieht, der auf dem Berg Gott in einer Wolke vorübergehen
sah. Oder Elija, der auf dem selben Berg Sturm und Erdbeben und Feuer
vorüberziehen sah und dann ein sanftes, leises Säuseln hörte –
und in dem war Gott.
Dort kann es auch geschehen, dass einer
Jesus vor sich sieht und eine Stimme hört, die allen, die es hören
wollen sagt: »Das ist mein Sohn, ihn habe ich lieb. An ihm habe ich
Freude. Hört auf ihn!«
Um Gott nah zu sein kannst du zum
Beispiel auch ans Meer fahren, auf eine Insel. Es soll ja Menschen
geben, die das tun im Urlaub. Es gibt tatsächlich auch Menschen, die
haben das Glück, auf einer zu wohnen.
Wenn du also auf einer Insel bist, dann
gehst du womöglich an den Strand. Die Sonne steht winterlich tief
über der Perlenkette aus Halligen, das Watt glitzert feucht, das
Meer liegt flach in der Ferne, die Watvögel erzählen sich
Geschichten.
Der Blick weitet sich und wenn du etwas
größer wärst, könntest du sogar über den Horizont hinaus sehen.
Auch das Herz weitet sich und atmet die Salzluft ein und das Leben,
das so würzig schmeckt.
Dort kann es schon geschehen, dass du
etwas siehst, was andere nicht sehen. So wie es Johannes dem Seher
geschieht, der eben deshalb so heißt, weil er etwas sieht, was
andere nicht sehen.
Ich war auf der Insel, die Patmos
genannt wird. Dorthin musste ich gehen, weil ich Gottes Wort
verkündet habe und als Zeuge für Jesus aufgetreten bin.
Am Tag des Herrn ergriff der Geist
Gottes von mir Besitz. Und ich hörte eine laute Stimme hinter mir,
die klang wie eine Trompete. Ich drehte mich um, um zu sehen, wessen
Stimme da mit mir redete.
Und als ich mich umdrehte, sah ich
sieben goldene Leuchter. Und inmitten der Leuchter sah ich jemanden,
der aussah wie der Menschensohn.
Bekleidet war er mit einem langen
Gewand und um die Brust trug er ein goldenes Band. Sein Kopf und
seine Haare waren strahlend weiß wie weiße Wolle oder Schnee. Seine
Augen glichen lodernden Flammen.
Seine Füße glänzten wie glühende
Bronze im Ofen und seine Stimme klang wie das Tosen von Wassermassen.
In seiner rechten Hand hielt er sieben Sterne. Und aus seinem Mund
kam ein scharfes, zweischneidiges Schwert.
Sein Anblick blendete wie die
Mittagssonne. Als ich ihn sah, brach ich wie tot vor ihm zusammen.
Er legte mir seine rechte Hand auf und
sagte: »Hab keine Angst. Ich bin der Erste und der Letzte und der
Lebendige. Ich war tot, aber sieh doch: Ich lebe für immer und ewig.
Und ich habe die Schlüssel, um das Tor des Todes und des Totenreichs
aufzuschließen.«
Das also sieht Johannes der Seher, der
so heißt, weil er etwas sieht, was andere nicht sehen. Und was
andere sich auch kaum vorstellen können.
Was er sieht, scheint wie ein
Traumbild. Eine Gestalt mit leuchtend weißen Haaren. Mit Augen wie
Flammen. Mit rotorange glühenden Füßen. Mit einen Schwert, dessen
Klinge aus dem Mund kommt.
Man könnte versuchen, die Gestalt zu
malen. Womöglich entstünde auch ein Bild. Aber Johannes der Seher
würde den Kopf schütteln und sagen: Nein, er sah ganz anders aus.
Bei Träumen ist das manchmal so: Du
hast ein Bild vor dir, ein klares, eindrückliches Bild. Du kannst
sogar danach greifen. Du tust es, streckst die Hand aus und –
wachst auf.
Das Bild verblasst. Dir fehlen die
Worte, um es zu beschreiben. Stifte auf Papier können es nicht
annähernd einfangen.
Vielleicht liegt das daran, dass du die
Gefühle nicht einfangen kannst. Nicht auf dem Papier. Nicht in
deinen Worten. Die Gefühle, die das Traumbild in dir auslöst.
„Als ich ihn sah, brach ich wie tot
zusammen“, sagt Johannes der Seher. Der Schreck fuhr ihm in die
Glieder. Die Angst lähmte ihn. Er fiel in Schockstarre. Das sagt man
nicht nur so, die gibt es ganz wirklich: die Schockstarre.
Vielleicht musst du mit ihr rechnen,
wenn du dich auf die Suche nach Gott begibst und du ihn findest oder
er dich findet: die Schockstarre.
Wenn du Gott findest oder er dich: Ein
Bild, so grell, dass dir die Farben fehlen, um es zu malen. Eine
Begegnung, so wild, dass dir die Worte fehlen, um sie einzufangen.
Das Bild verblasst so schnell, wie es
aufgetaucht ist. Aber die Begegnung hinterlässt Spuren. Spuren aus
Schreck und Angst, die sich tief eingraben.
Ich muss es nicht Gott nennen, was ich
sehe oder was mir begegnet, wenn ich auf dem Gipfel stehe oder am
Meer. Ich kann es auch das Leben nennen oder das, was mich unbedingt
angeht.
Das Herz wird weit dort auf dem Gipfel
oder hier am Meer, und das, was mich unbedingt angeht, schneidet tief
hinein.
Es ist ernst, das Leben, und nicht ein
Spiel. Es wiegt schwer, das Leben, ich kann es nicht auf die leichte
Schulter nehmen. Ich habe nur dieses eine Leben und nicht beliebig
viele.
Ich muss es nicht Gott nennen, aber ich
kann es gut Gott nennen: Ich habe ein Gegenüber. Mein Leben ist kein
Zufall, sondern mir geschenkt. Ich bin keine Laune der Natur, sondern
gewollt.
Ich kann es gut Gott nennen: Ich bin
ein Gegenüber. Für Gott. Weil Gott da ist, bin ich da.
„Als ich ihn sah, brach ich wie tot
zusammen“, sagt Johannes der Seher. Er spürte wie sich eine Hand
auf seine Schulter legte und hörte eine Stimme, die in sein Ohr
flüsterte: „Hab keine Angst. Ich bin der Erste und der Letzte und
der Lebendige.“
Die Hand auf der Schulter nimmt das
Zittern, die Stimme im Ohr beruhigt den Atem. Die Starre löst sich,
Wärme läuft durch den Körper.
Vielleicht kannst du darauf trauen,
wenn du Gott suchst und ihn findest oder er dich: Dass sich unter den
Schrecken eine Freude mischt, die das Herz hüpfen macht. Dass ein
Seufzer aus der tiefsten Tiefe die Angst aufhebt.
Auch das ein Bild, das flüchtig ist
wie eine Nebelschwade in der Sonne. Aber für einen Augenblick hüllt
es dich ein und birgt dich. Diesen einen Augenblick spürst du ein
Leben lang wie einen ersten zarten Kuss.
Ich muss es nicht Gott nennen, was mich
auf dem Gipfel oder am Meer anrührt. Ich kann, was mir seine Worte
einflüstert, Leben nennen oder das, was mich unbedingt angeht.
Es tanzt wie eine Feder im Lufthauch,
das Leben. Eine Melodie, die in dir klingt und dich trägt, von Ton
zu Ton, von Strophe zu Strophe, das, was mich unbedingt angeht.
Ich muss es nicht Gott nennen, aber ich
kann es gut Gott nennen. Ich habe ein Gegenüber. Einer, der den Ton
anschlägt, in den ich einstimme.
Ich kann es gut Gott nennen: Ich bin
ein Gegenüber. Was in mir klingt, beständig und klar, ist seine
Melodie, ist seine Stimme. Damit ich da bin, ist Gott da.
So kann es dir gehen, wenn du auf einen
Berg steigst oder auf eine Insel im Meer fährst und Gott dich dort
findet, ob du ihn gesucht hast oder nicht.
Dann hat er also dich gefunden und du
ihn. Dann musst du wieder runter vom Berg oder von der Insel. Du
kehrst zurück in die vier Wände, die dein Zuhause sind, in die
Zeit, die du Alltag nennst.
Wie leicht verblasst, was du gesehen
hast, weil sich so viele andere Bilder darüber legen. Wie schwer ist
es, das zu bewahren, weil dir Worte fehlen für das, was du erlebt
hast, und auch der Mut, davon anderen zu erzählen.
Aber immerhin: Du weißt jetzt, wie
sich das anfühlt, wenn Gott dich findet und du ihn: Ein glückliches
Erschrecken, ein erschreckendes Glück, das dich auf seinen Schwingen
trägt.
Auch das: Du trägst jetzt einen
Kompass in dir. Der zeigt dir an, wo du hingehen musst, wenn du das
nächste Mal losgehst, um Gott zu suchen.
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