Das Gartenhäuschen - eine Weihnachtsgeschichte

Der Kopf ist nach hinten auf die Sofalehne gesackt. Das Strickzeug liegt in ihrem Schoß. Tief und gleichmäßig atmet sie aus und ein.
Auf der Anrichte laufen Hirten und Könige hinter der Krippe her, ohne sie einzuholen. Die drei Kerzen flackern in der Zugluft der Pyramide, die sie antreiben.
Der Fernseher wirft ein fahles Licht in das Wohnzimmer. Ein Knabenchor steht auf einem watteweißen Weihnachtsmarkt und singt: „Ja, er kommt der Friedefürst.“
Als der Applaus des Publikums aus den Lautsprechern rauscht, schlägt die Frau zuhause vor dem Fernsehgerät die Augen auf. Sie sieht einen Engel in einem weißen, goldbestickten Kleid. Die Kamera fährt heran und zeigt das junge Gesicht, von dem sie nicht sagen kann, ob es einem Mädchen oder einem Jungen gehört.
„Fürchte dich nicht!“, sagt der Engel. „Siehe ich verkündige dir große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn dir ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus der Herr, in der Stadt Davids.“
Mit einem Ruck setzt sich die Frau auf, das Strickzeug rutscht ihr vom Schoß. Mühsam hebt sie es auf, während der Knabenchor wieder zu singen beginnt: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“
Die Frau beugt sich vor und greift nach der Fernbedienung. Sie schaltet das Gerät ab und steht auf. An der Anrichte schaut sie einen Augenblick dem Wettlauf der Hirten und Könige zu. Sie pustet die Kerzen unter der Pyramide aus. Beim Hinausgehen greift sie nach der Decke, die zusammengelegt auf einem Stuhl liegt.

Wenig später steht sie vor dem Häuschen in ihrem Garten. Sie schaut durch das erleuchtete Fenster neben der Eingangstür. Sie sieht zuerst den Mann. Er lehnt an der Wand gegenüber. Sie folgt seinem Blick hinüber zur anderen Seite des Raumes. Dort sitzt sein junge Freundin mit ausgestreckten Beinen auf der Matratze, die auf dem Boden liegt. Sie erwidert mit einem Lächeln den Blick des etwas älteren Mannes. Dann wendet sie sich wieder dem Bündel zu, das sie im Arm hält.
Leise klopft die Frau vor dem Fenster an die Scheibe. Drinnen im Gartenhäuschen zucken die beiden zusammen und drehen ihre Köpfe zum Fenster hin. Der Mann stößt sich von der Wand ab und geht auf die Tür zu.
Als er sie öffnet hält die Frau ihm die Decke hin. „Ich wollte nur mal nach euch schauen“, sagt sie. „Und ich habe euch das ihr mitgebracht. Ich dachte, ihr könntet das brauchen.“
„Kommen Sie rein“, antwortet der Mann und: „Vielen Dank! Überhaupt, dass wir hier sein dürfen!“
Die Frau wehrt den Dank mit einem Wink ab und tritt hinter dem Mann in den kleinen Raum.
„Wie geht es ihm?“, fragt sie die junge Frau auf der Matratze und deutet aus das Bündel. „Danke, er schläft jetzt“, antwortet sie flüsternd.
Die ältere Frau tritt langsam näher und beugt sich mit angehaltenem Atem über das Bündel. Jetzt sieht sie das kleine Gesicht. Sie hebt die rechte Hand, mitten in der Bewegung hält sie inne.
„Darf ich?“, fragt sie. Als die junge Frau kaum merklich nickt, kniet sie nieder. Mit zwei Fingern ihrer Hand streichelt sie über die Wange des Babys. Sie nimmt die Decke und legt sie über das Kind und die ausgestreckten Beine der jungen Frau. „Ihr soll es wenigstens warm haben“, sagt sie. Die beiden Frauen lächeln sich an.

Die ältere Frau lächelt noch immer, als sie wieder auf ihrem Sofa sitzt. Die Hirten und Könige haben den Kreislauf zur Krippe erneut aufgenommen. Der Bildschirm des Fernsehers ist dunkel geblieben.
Die Frau greift zum Telefon und wählt die Nummer ihres Sohnes. Mit rotem Kopf und Überschwang in der Stimme erzählt sie ihm von den Gästen in ihrem Gartenhäuschen.
„Aber Mutter“; sagt der Sohn, „was machst du denn da?“ „Lass mich mal machen“, entgegnet die Frau, „ich weiß was ich tue. Schließlich ist Weihnachten.

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