Der Morgenstern leuchtet

"Von drauß' vom Walde komm ich her; / Ich muss euch sagen, es weihnachtet …" gar nicht mehr. Wir sind in der vierten Woche nach Heiligabend. Die Tannenbäume warten auf Biike, das Geschenkpapier ist entsorgt, der Schmuck liegt wieder in den Kartons auf dem Dachboden, die Geschenke sind beiseite gelegt. Weihnachten? War da was?
Ist da noch etwas übrig? Von dem wunderbaren Weihnachtsgefühl – dieser Mischung aus Staunen und Freude und Erfüllung? „Ich muss jetzt erst einmal runterkommen“, hat in dieser Woche eine Frau gesagt. „Mich wieder zurechtfinden im Alltag.“
Immerhin: Hier und da finden sich im Alltag noch Spuren von Weihnachten. Ein vergessener Engel im Fensterrahmen vielleicht. Ein paar letzte Plätzchen. Ein Stapel Weihnachtskarten. Oder der Herrnhuter Stern, der noch in der Kirche hängt und leuchtet.
Wann wir ihn denn abhängen sollen, habe ich unseren Küster gefragt. "Wenn ihr sagt, dass ich ihn abhängen soll", hat er geantwortet. Also hängt er noch, der Stern. Als der letzte Zeuge von Weihnachten. Vielleicht sollten wir ihn das ganze Jahr hängen lassen. Aber ob er dann noch ins Auge fällt?

Heute Morgen jedenfalls sehe ich in ihm den Morgenstern, von dem wir in diesem Gottesdienst singen.
Dieser Morgenstern – er ist ein Zeichen der Sehnsucht. „O komm, o komm, du Morgenstern, / lass uns dich schauen, unsern Herrn. / Vertreib das Dunkel unsrer Nacht / durch deines klaren Lichtes Pracht“ (EG 19,1)
Das sind die ersten Zeilen aus einem Adventslied, eines, das in eine andere Kirchenjahreszeit gehört, möchte man meinen. Aber nach Weihnachten ist vor Weihnachten. Also leben wir schon wieder im Advent.
Kaum ist Weihnachten vorbei, beginnt die Sehnsucht nach Weihnachten von neuem. Unsere Kinder blättern ihre Spielzeugkataloge durch. Kaum, dass sie ihre Weihnachts­geschenke ausgepackt haben, sagen sie: Das wünsche ich mir vom Christkind. Und das. Und das auch.
Das mag spaßig sein. Kinder eben, die ständig Wünsche haben. Ich sehe darin auch einen Spiegel meiner Sehnsucht. Meiner Wünsche an das Christkind.
Kaum dass Weihnachten vorbei ist, könnte schon wieder Weihnachten werden. Nicht äußerlich das große Fest mit all der Aufregung. Aber innerlich, im Herzen, in der Seele.
Weihnachten, das bedeutet für mich das, was die Jahreslosung sagt: "Gott nahe zu sein, ist mein Glück" (Ps 73,18). Wenn ich Weihnachten feiere, feiere ich glücklich, dass Gott mir nah ist. Ich höre die Botschaft des Engels: "Euch ist heute der Heiland geboren" (Lk 2,11). Und ich weiß: Gott ist da. Nicht weit weg. Sondern dicht dran. Neben mir.
Weihnachten feiere ich das. Und ich vertraue: Es ist so. Kaum ist Weihnachten vorbei, beginne ich zu vergessen. War das so? Sollte das so sein? Dass Gott da ist?
Die Gewissheit weicht der Sehnsucht: Wenn es doch so wäre, dass Gott da ist. Im Alltag findet sich so wenig von ihm. Es müssen noch nicht einmal Sorgen den Alltag verdunkeln. Es reicht schon, dass er grau ist.
Im Einerlei der täglichen Aufgaben verliere ich Gottes Spur. Als hätte ich Gott mit dem Weihnachtsschmuck weggeräumt und bis zum nächsten Jahr auf dem Dachboden verstaut.

Aber der Stern hier in der Kirche leuchtet heute Morgen und weckt meine Sehnsucht nach dem Morgenstern. Und er stößt mich an, aufzubrechen:
„Geh weg aus deinem Vaterhaus / zu suchen solchen Herrn / und richte deine Sinne aus / auf diesen Morgenstern“ (EG 73,2).
Ich will es gerne beherzigen: Der Sehnsucht nachgehen und aufbrechen.
Aber das sagt sich so leicht und macht sich so schwer. Wir sind ja nicht die Weisen, die im Morgenland alles stehen und liegen lassen und dem Stern nachziehen. Oder?
Ich kann ja nicht einfach den Alltag hinter mir lassen. Und wenn ich zu mir und anderen ehrlich bin: Ich will es ja noch nicht einmal. Auch das Grau des Alltags ist schön.
Ich fühle mich sicher, wenn ich heute weiß, was mich morgen erwartet. Wie anstrengend ist es, in der Ferienwohnung das Frühstücksgeschirr zu suchen – während zuhause die Hand von selber weiß, welche Schublade sie aufziehen muss.
Voller Vertrauen lasse ich mich in die gewohnten Abläufe des Alltags fallen. Es tut gut, wenn um Zwölf das Mittag auf dem Tisch steht und abends um Acht die Tagesschau läuft. Das tägliche Weckerklingeln zur selben Zeit verhindert, dass ich einfach so in den Tag hinein lebe.
Mein Tun, das mir jeder der Alltage aufträgt, gibt mir Halt. Es macht mir deutlich: So lange Himmel und Erde bestehen, liegt Segen auf dem Leben.
Doch wie war das noch mit der Sehnsucht? Die in mir ist mitten im Alltag – nach der Nähe Gottes, die sich zu verlieren scheint mitten in diesem Alltag.
Aber auf ihm liegt doch Segen. Und sollte dann nicht Gott in diesem Alltag zu finden sein? Womöglich ist das die Lebenskunst, nein: Glaubenskunst: Im Alltag meines Lebens die Spuren Gottes zu entdecken.
Und: Diese Kunst kann ich einüben. Etwa mit Zeiten der Stille, zu denen ich mitten im Alltag aufbreche. Ich kann mich hinsetzen, zwei, drei Minuten nur, und Gott hinhalten, was mich bewegt.
Das muss nichts Großes sein. Das kann der ganz einfache Alltag sein, mit all dem, was ihn ausfüllt oder grau macht.
Ich brauche nicht viele Worte zu machen. Schweigen reicht. Das hört Gott besonders gut.
Und dann, wenn ich diesen Alltag in der Stille Gott hinhalte – dann legt er seinen grauen Anzug ab und wirft ein Kleid aus Licht über. Gott findet Platz in meinem Alltag. Und der erstrahlt im hellen Schein des Morgensterns, der über ihm aufgeht.

Auch davon kündet der Stern, der hier vorne im Altarraum leuchtet. Und wir haben davon gesungen:
„Wie schön leuchtet der Morgenstern / voll Gnad und Wahrheit von dem Herrn, / die süße Wurzel Jesse“ (EG 70,1).
Wenn ich wach bin für die Spuren Gottes, dann werde ich immer mehr von ihnen in meinem Leben entdecken. Dann werde ich ihn in meinem Leben finden.
Dort allerdings, wo ich ihn nicht vermute. So wie die Weisen aus dem Morgenland mit ihren Geschenken erst an der falschen Stelle suchen, bevor sie zum Stall kommen.
In einem Gebet heißt es: „Ich fand Gott nach langem Suchen: sehr arm, nicht mächtig, nicht prächtig, sehr bescheiden, alltäglich, als Kind in der Krippe, nackt, frierend, hilflos“ (aus: Hüsch / Seidel, Ich stehe unter Gottes Schutz. Psalmen für Alletage, S. 135).
Ich übersetze das so: Gott zeigt sich nicht in den großen Wundern, auf die ich womöglich hoffe. Er versteckt sich in den kleinen Begegnungen am Rande.
Gott stößt in der Regel nicht meinen Alltag über den Haufen und ruft laut: „Hier bin ich.“ Meist kommt er ganz unscheinbar – so, dass er manchmal sogar unerkannt vorübergeht.
Es sind die alltäglichen Begegnungen, in den Gottes Licht in mein Leben fällt. Unverhofft, aber wärmend.
In dem Gebet heißt es auch: „Ich suchte Gott bei den Menschen und fand einen Blick, der mich verstand, eine Hand, die mich suchte, einen Arm, der mich umfasste, einen Mund, der Ja zu mir sagte.“
So erlebe ich das ja auch. Nicht immer, aber immer mal wieder: Aus einer Begegnung zwischen dir und mir wird eine Begegnung mit Gott. Als würde sich eine Tür auftun, durch die sein Licht auf uns beide fällt.
In den lachenden Augen eines Kindes, beispielsweise, leuchtet dieses Licht. Der Blick sagt ganz ohne Worte und mit viel Herz: Es ist gut, dass du da bist. Auch wenn du dich selbst gerade nicht leiden kannst – ich habe dich lieb. Kinder können einen so anschauen – und aus ihrem Blick schaut einen Gott an, freundlich, aufmerksam, offen.
Auch in den Tränen eines Menschen, der mit mir über mein Leid weint, blitzt etwas von diesem Lichtglanz auf. Er versucht nicht, etwas zu erklären oder mir gute Ratschläge zu erteilen. Er teilt ganz einfach mit mir die Trauer, die ich allein nicht tragen kann. An ihm erkenne ich, wie Gott mein Leid trägt.
Oder mir kommt Gottes Licht in den wahren Worten entgegen, die mir einer über mich ins Herz sagt. Es sind Worte, die ich nicht annehmen kann, wenn ich sie mir selber sage. Aber wenn ein anderer sie mir zuspricht, werden sie mir zur Wahrheit, die mich frei macht. Sie werden mir zu Gottes Wort, weil sie mir ein Geheimnis meines Lebens erleuchten.

So schön leuchtet der Morgenstern über einem Leben, wenn mitten im Alltag aufscheint, wie Gott sich zuwendet und nahe kommt.
Und doch: Der lichte Augenblick vergeht und die Sehnsucht kehrt wieder. So wie Weihnachten vorübergeht und der Alltag wiederkommt. Der Alltag, in dem ich mich wieder und wieder auf die Suche begeben muss, wenn ich mich nach Gottes Nähe sehne.
Aber es bleibt das Versprechen: In diesem Alltag kommt Gott mir immer wieder unverhofft nahe. So wie der Morgenstern immer wieder aufscheint.

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