Gott nahe zu sein ist ihr Glück

Die Frau steht an der großen Friedhofspforte und schaut. Der Turm hebt sich in den blauen Himmel, der Backstein leuchtet in der späten Sonne. Sie läuft zwischen den alten Grabsteinen hindurch auf die Kirchentür zu. Sie steht offen, als würde sie auf sie warten.
Die Frau betritt den Vorraum und zögert einen Augenblick. Die Augen müssen sich erst an das dunklere Licht gewöhnen.
Durch die Glastür geht sie in das Kirchenschiff und bleibt stehen.
Sie schaut auf den Altar und die große Johannesfigur. Langsam setzt sie sich in eine Bank auf der rechten Seite.
Die Kirche wirkt immer noch hoch und licht und klar wie bei ihrem letzten Besuch.
Das junge Mädchen in ihr wird wach. Sie spürt wieder die Wärme, die die Mutter an ihrer Seite ausstrahlt.
Und sie erinnert sich an längst vergangene, aber nicht vergessene Zeiten. Die alten Lieder klingen in ihr an. Der Pastor, der sie konfirmierte, steht mit zum Segen ausgebreiteten Armen vor dem Altar.
Vor ihrem inneren Auge laufen die Jahrzehnte ihres Lebens im Zeitraffer vorüber. Dunkle Bilder von der Kriegskindheit in Hamburg. Die Zuflucht, die sie mit der Mutter bei den Verwandten auf der Insel fand. Das unbeschwerte Aufwachsen, auch wenn sie auf dem Hof helfen musste. Der Wechsel zurück aufs Festland, um etwas zu lernen. Die erste Liebe, die sie gleich auf dem Festland hielt. Die eigene Familie, die Berufsjahre, die ihr Leben ausfüllten. Mehr als sieben Jahrzehnte gelebtes Leben.
Nun ist sie wieder einmal hier. Die Stille und das Licht der Kirchebergen sie.
Sie tut es nicht oft. Aber hier muss sie die Hände ineinander legen. „Danke“, denkt sie, „danke, dass du immer da warst, Gott. Dass du immer noch da bist.“
Sie lächelt und ihre Augen werden feucht. Wie eine warme Welle breitet sich das Glück in ihr aus.
Hier ist sie Mensch, hier darf sie’s sein – bei Gott, in seinem Haus.
Gott nahe zu sein, ist ihr Glück.

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