Weise Wege

Zwei Weise, irgendwo im Morgen- oder Abendland:

- Hast du den Stern gesehen?
- Ja. Der ist ja nicht zu übersehen.
- Und du weißt auch, was er bedeutet!?
- Natürlich weiß ich das. Wir müssen los.
- Und warum stehst du dann hier so tatenlos herum? Ich habe längst gepackt. Meinetwegen können wir sofort aufbrechen. Und du?
- Ich weiß nicht. Ich muss noch packen.
- Du wirst doch jetzt nicht kneifen!
- Nein.
- Aber?
- Auch wenn ich weiß, dass wir los müssen, heißt das nicht, dass ich los will.
- Aber das haben wir doch immer gesagt: Wenn wir einmal den Stern sehen, dann ziehen wir los.
- Wenn ich geahnt hätte, dass der Stern tatsächlich …
- Aber du hast das doch auch immer gesagt.
- Du hast gut reden. Du kannst einfach losziehen. Dich hält hier ja nichts.
- Ach so? Woher weißt du das?
- Ich habe hier Familie. Meine Mutter braucht mich. Sie kommt nicht allein klar mit meinem Vater.
- Und du meinst, weil es niemanden gibt, den ich hier zurücklasse, kann ich einfach so aufbrechen?
- Na ja.
- Ich bin genau so wie du unter diesem Himmel aufgewachsen und mit dem Boden hier verwurzelt. Das ist mein Zuhause. Hier kenne ich mich aus und weiß ich, wie ich leben soll und wovon ich leben kann.
- Du hast ja Recht. Das bestreite ich auch gar nicht. Aber bei mir ist es doch noch anders. Ich habe hier eine Aufgabe. Ich werde hier gebraucht.
- Aber das ist doch nicht alles. Du warst es doch, der mir das immer gesagt hat: Das hier ist nicht alles. Das Gute und das Schlechte. Das Schwere und das Leichte. Das ist nicht alles. Da ist noch mehr. Es muss irgendwo einen Ort geben, wo sich alles erfüllt, was das Leben von mir will.
- Ja, ich weiß. Und ich habe auch immer gesagt: Wie schön wäre es, aufzubrechen. Alles hinter mir lassen. Nichts mitnehmen. Neu anfangen. Dort, wo sich mein Leben erfüllt.
- Dort, wo der Stern uns hinführt. Jetzt steht er da, der Stern. Und du stehst hier herum.
- Auch wenn du mich für feige hältst: Ich bin einfach älter geworden. Und ich ahne: Es geht nicht, alles hinter mir zu lassen. Selbst wenn ich aufbreche und alles hinter mir lassen und neu anfangen will: Ich nehme immer mich mit. Wo ich auch hinkomme – ich bin schon vor mir da.
- Mich selber will ich ohnehin nicht zurücklassen. Ich breche ja nicht auf, um vor mir selber wegzulaufen. Ich will schon all das mitnehmen, was meine Geschichte ist. Die schönen Erinnerungen sowieso. Aber auch die anderen, weniger schönen, schweren …
- Das meine ich. So ganz ohne Gepäck brechen wir nie auf.
- Na, also. Pack deine Sachen und los geht’s, dem Stern nach.
- Ich weiß nicht. Ich fürchte mich. Was, wenn wir uns das alles nur einbilden? Wenn der Stern nichts ist als hohler Glanz. Ein Hirngespinst unserer Träume.
- Ich weiß. Davor fürchte ich mich auch. Ich weiß doch auch nicht, wo die Reise hingeht. Aber es heißt: Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.
- Siehst du sie eigentlich vor dir, die zukünftige Stadt, die der Stern uns zeigt?
- Gute Frage. Ich habe gar keine genaue Vorstellung. Ich sehe Licht, vielleicht. Viel Licht und Wärme. Und dieses Gefühl: Hier erfüllt sich mein Leben. Hier bin ich, der ich bin.
- Und deshalb willst du aufbrechen!
- Und deshalb will ich aufbrechen! Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn ich es nicht täte.
- Du würdest dich immer fragen, warum du es nicht getan hast.
- Wehe mir, wenn ich dann mit meinem Leben irgendwann unzufrieden bin. Dann werde ich mir vorwerfen, den Stern gesehen zu haben und ihm nicht gefolgt zu sein.
- Und selbst wenn du zufrieden und glücklich bist …
- … werde ich mich immer fragen, was wohl gewesen wäre, wenn ich dem Stern gefolgt wäre.
- Also musst du aufbrechen, um es herauszufinden.
- Ja, ich muss dem Stern folgen. Aber was ist mir dir?
- Ich komme mit. Ich gehe nur schnell meine Sachen packen.

Die Weisen sind aufgebrochen, dem Stern nach, zum Stall. Sie haben das Kind in der Krippe gefunden. Jetzt kehren sie zurück - in ihr Leben, irgendwo im Morgen- oder Abendland:

- Hast du das Kind gesehen?
- Natürlich habe ich das Kind gesehen. Ich stand neben dir.
- Ich meine: Hast du es wirklich gesehen?
- Ich habe es wirklich gesehen. Ganz wirklich sogar.
- Also geht es dir jetzt wie mir?
- Wie geht es dir denn?
- Mir geht es … Ich bin … Ich weiß nicht. Mir fehlen die Worte.
- Licht und Wärme!
- Was?
- Das war es doch, was du wolltest: Licht und Wärme. In der zukünftigen Stadt.
- Ja. Und das haben wir gefunden. In einem Stall.
- Ja. Weil der Stern uns dorthin geführt hat.
- Warum sind wir eigentlich nicht da geblieben?
- Man soll gehen, wenn es am schönsten ist.
- Aber deswegen sind wir doch aufgebrochen: Um den Ort zu finden, an dem wir bleiben wollen, weil es dort so schön ist.
- Und jetzt gehen wir zurück in unser altes Leben.
- Das wird uns keiner abnehmen. „War wohl nichts mit eurem Stern!“, werden sie sagen.
- Und doch hat er uns gerade dahin geführt. Zu dem Kind.
- Das war ein Glück, ihm nahe zu sein. Als käme mir Gott nahe.
- Ja. Als ich da stand, wusste ich: Jetzt erfüllt sich mein Leben.
- Ich kann gar nicht in mein altes Leben zurückkehren.
- Wo willst du dann hin?
- Ich will schon zurück. Nach Hause. Ich freue mich sogar darauf. Aber es muss auch anders werden.
- Ist es nicht schon anders?
- Es fühlt sich zumindest anders an.
- Lichter und wärmer.
- Und soll ich dir sagen, woran das liegt?
- An dem Kind in der Krippe.
- Ja. Weil mich das Leben gefunden hat. Ich habe gedacht, ich müsste es suchen und finden. Dabei sucht und findet es mich.
- Das ist es. Das ist der Unterschied. Das Kind macht den Unterschied. Vorher wollte ich etwas aus meinem Leben machen. Jetzt hat das Kind alles aus meinem Leben gemacht.
- Und das nur, weil es dich angeschaut hat.
- Aber wie es mich angeschaut hat. Und dich auch!
- Als würde dich Gott selber anschauen. Und sagen: Es ist gut.
- Ja. Das ist es. Das ist der Unterschied. Vorher habe ich mich immer gefragt: Was denken wohl die anderen über mich? Wie sehen die mich? Wie sieht Gott mich?
- Und jetzt weißt du: Gott sieht dich freundlich an. Ihm nahe zu sein ist dein Glück.
- Ja. Und alles andere zählt nicht mehr. Was die anderen über mich denken. Wie es mir geht. Das ist egal. Ich trage das Glück in mir.
- Das denke ich ja nicht, dass egal ist, was dir geschieht und wie andere mit dir umgehen. Das ist schon entscheidend, ob du gesund bist oder krank. Oder ob du mit anderen im Frieden oder im Streit lebst.
- Wichtig ist das, weil es dein Leben bestimmt. Aber das entscheidet nicht über dein Leben. Entscheidend ist, dass du dich an den Blick des Kindes in dem Stall erinnerst. Dann kannst du sagen: Es ist gut.
- Der Streit? Die Krankheit? Sind gut?
- Nein. Der Streit und die Krankheit sind nicht gut. Dein Leben ist gut. Trotz des Streites. Trotz der Krankheit. Die machen dein Leben schwer, aber nicht wertlos. Dein Leben bleibt gut, weil das Kind dich anschaut.
- Jetzt verstehe ich dich. Wir kehren also gar nicht in unser altes Leben zurück. Wir haben ein neues begonnen.
- Das Kind hat uns ein neues Leben geschenkt.
- Wir hätten das Kind mitnehmen soll, statt es dort im Stall zu lassen.
- Ich finde, wir haben es mitgenommen. Jetzt, während wir uns gegenseitig an es erinnern und uns von ihm erzählen …
- … da ist es, als wäre es bei uns. Vielleicht sollten wir das ab sofort feiern: Alle Jahre wieder feiern wir die heilige Nacht, in der uns das Kind gefunden hat.
- Und dann gehen wir alle Jahre wieder wie neue Menschen in ein neues Jahr.
- So machen wir das. Amen.

Und so machen wir das immer noch. Erst feiern wir das Kind. Und dann feiern wir den Beginn des neuen Jahres. Damit wir das Kind mitnehmen. Denn Gott nahe zu sein – das ist unser Glück.

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