Am gläsernen Meer

Du stehst auf und verlässt den Platz, an dem du sitzt. Du öffnest die schwere Tür, die nach draußen führt. Du trittst hinaus – in einen Wald. Hohe Bäume umgeben dich, durch die nur wenig Licht fällt. Da ist kein Weg. Vor dir breitet sich ein Dickicht aus Sträuchern und toten Ästen aus. Du bist allein im Wald.
Du beginnst zu gehen. Du mühst dich durch das Dickicht. Einen Arm hältst du schützend vor das Gesicht. Mit dem Körper schiebst du die Äste der Sträucher zur Seite. Dornen verfangen sich in deiner Kleidung.
Unter deinen Füßen knacken trockene Äste. Du riechst das feuchte, modernde Laub.
Du beginnst ein Lied zu singen. Kannst du es hören?
Plötzlich steht dir ein Tier gegenüber. Du kannst deine Hand ausstrecken, um es zu berühren. Das Tier schaut dich an.
Dann wendet es sich ab, verschwindet im Dickicht. Du schlägst die entgegen gesetzte Richtung ein und folgst dem Trampelpfad, den das Tier in den Wald getreten hat.
Du kommst an einen Bach. Du tauchst die Hände in das Wasser. Du trinkst eine Handvoll.
Du gehst weiter, am Ufer des Baches entlang. Du steigst über umgestürzte Bäume. Du rutschst an einer Böschung ab. Fast fällst du ins Wasser.
Da hörst du ein Lied. Jemand, den du nicht siehst, singt.
Du kommst um eine Biegung. Da siehst du den Menschen. Er sitzt am Ufer und hält die Füße ins Wasser.
Du gehst näher. Der Mensch sieht auf. Ihr seht euch an.
Gemeinsam geht ihr weiter. Ihr folgt dem Bachlauf. Ihr geht auf einem Trampelpfad am Ufer entlang. Die Bäume über euch lassen durch ihr Laub immer mal einen Sonnenstrahl fallen.
Ein leichter Wind trägt euch Salzluft, den Geruch von Tang entgegen. Ihr hört die Brandung.
Dann tretet ihr auf den Strand. Hinter euch liegt der Wald. Vor euch spannt sich das Meer. Über euch strahlt die Sonne. Du spürst den Wind auf der Haut. Du spürst die Wärme der Sonnen. Du spürst die Hand deines Begleiters, die du hältst. Du bist am Ziel.
Gemeinsam beginnt ihr zu singen. Euer Lied erklingt.

"Ich sehe etwas wie ein gläsernes Meer, das mit Feuer vermischt ist. Auf diesem Meer sehe ich alle die stehen, die den Sieg über das Tier erlangt haben. Sie halten himmlische Harfen in den Händen. Ich höre sie singen, das Siegeslied von Moses, das Siegeslied des Lammes:
»Herr, unser Gott, du Herrscher der ganzen Welt, wie groß und wunderbar sind deine Taten! In allem, was du planst und ausführst, bist du vollkommen und gerecht, du König über alle Völker! Wer wollte dich, Herr, nicht fürchten und deinem Namen keine Ehre erweisen? Du allein bist heilig. Alle Völker werden kommen und sich vor dir niederwerfen; denn deine gerechten Taten sind nun für alle offenbar geworden.«

(Offenbarung 15,2-4 -- www.basisbibel)

Was Johannes der Seher da sieht, gleicht ein wenig dem, was Sie eben auf der Phantasiereise erleben konnten: Menschen, die an einem Meer stehen und singen. Sie singen Gott ein Loblied. So wie Mose es tat, als er mit seinem Volk vor den Ägyptern durch das Meer geflohen war. So wie Jesus es tat, als er aus seinem Grab in ein neues Leben hinaustrat.
Sie singen ein Lied, weil sie den Weg gefunden haben – durch den undurchdringlichen Wald, auf Trampelpfaden, an einem Wasserlauf entlang, zum Meer. Sie haben den Weg gefunden, der sie zum Leben bringt.
Was Johannes da sieht, ist nicht die Wirklichkeit. Was er sieht, ist eine Vision, eine Phantasiereise.
Sie beginnt im Dickicht des Waldes. Dieser Wald, in dem die Christen seiner Zeit sich befanden, das war der Kampf mit dem Tier, mit dem Kaiser in Rom und seinen Priestern.
Der Kaiser wollte und sollte als Gott verehrt werden. Die Christen aber wollten dem Kaiser nur geben, was des Kaisers ist – anbeten aber wollten sie ihren Gott allein. Der Kaiser und seine Priesterschaft antworteten mit Verfolgung.
So wird auch Johannes verbannt, auf die Insel Patmos. Dort begibt er sich auf seine Phantasiereise.
Er sieht, dass das Tier, der Kaiser, schwächer ist als das Lamm, als Jesus. Er sieht, dass die, die sich jetzt vor dem Tier fürchten, am Ende siegen werden. Am Ende werden sie am gläsernen Meer stehen und auf himmlischen Harfen Gott ihr Loblied singen.
Ich stelle mir vor, dass Johannes mit neuer Hoffnung von seiner Phantasiereise zurückkehrt. Am Ende wird er Gott sein Loblied singen. Auch wenn er jetzt mitten im Dickicht des Waldes steckt und keinen Weg erkennt. Er kann schon auf das weite Meer und den blauen Himmel hoffen. Irgendwo, am Ende des Weges, warten sie auf ihn. Und dann wird er Gott sein Loblied singen.

Ob das auch unsere Hoffnung sein kann?
Manchmal kann der Wald ja zu einem Bild für unser Leben werden. So unübersichtlich, so undurchschaubar wie ein dunkler Wald kann es hin und wieder wirken.
Und manchmal kann auch das Tier zu einem Bild für das werden, was wir erleben. Wenn wir einem Schrecken begegnen, der uns auch die letzten Sicherheiten raubt.
Ob das weite Meer und der Himmel darüber dann auch unsere Hoffnung sein kann?

Jesus sagt: „Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan“ (Matthäusevangelium 7,7)
Es ist ein Satz gegen den dunklen Wald. Gegen das Gefühl, dass ich mich im Dickicht des Lebens verlieren könnte und an einen Punkt komme, an dem ich nicht weiter kann.
Der Satz setzt darauf, dass sich vor mir ein Trampelpfad auftut, auf dem ich weiter voran komme. Vielleicht hole ich mir Schrammen an den Dornen. Aber der Weg geht weiter.
Solang ich weitergehe und darauf hoffe, dass Gott ihn vor mit auftut. Das kann ich, das soll ich, sagt der Satz. Geh deinen Weg. Gott macht ihn frei.

Jesus sagt auch: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“ (Matthäusevangelium 28,20b).
Ein Satz gegen das Tier, das sich mir in den Weg stellt. Gegen die Angst vor all dem, was mich und mein Leben bedrohen kann. Gegen den Drang, davonzulaufen vor dem, was auf mich zukommt.
Der Satz setzt darauf, dass ich jemandem anderen begegne werde. Dass mitten im Wald einer am Bach sitzt und auf mich wartet. Einer, der aufsteht und mit mir geht.
Darauf kannst du vertrauen, sagt der Satz. Geh deinen Weg. Gott geht ihn mit. Bis an der Welt Ende. Dort wo das Meer weit ist und der Himmel sich über mir wölbt.

Im Wald, da im Leben, wo wir nicht mehr weiter wissen und vielleicht auch kaum noch können – da findet sich ein Weg, da schickt Gott uns seinen Boten, der unseren Weg mit uns geht, der uns seinen Weg führt: Den Weg an das Meer, unter Gottes weiten Himmel.
Dort, frei von allem, was uns an Ängsten und Sorgen gefangen nimmt; dort, erlöst von allem, was unserer Lebenskraft aussaugt – dort werden wir singen: „Herr, unser Gott, du Herrscher der Welt, wie groß und wunderbar sind deine Taten.“

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