Die Taube

„Als ihm die Sache mit der Taube widerfuhr, die seine Existenz von einem Tag zum andern aus den Angeln hob, war Jonathan Noel schon über fünfzig Jahre alt, blickte auf eine wohl zwanzigjährige Zeitspanne von vollkommener Ereignislosigkeit zurück …
Und das war ihm durchaus recht. Denn er mochte Ereignisse nicht, und er hasste geradezu jene, die das innere Gleichgewicht erschütterten und die äußere Lebensordnung durcheinander brachten.“
So beginnt Patrick Süskind seine Erzählung „Die Taube“. Mir ist dieser Jonathan Noel sympathisch.
Ich kann es ihm gut nachfühlen, dass er sich sein Leben wie einen langen ruhigen Fluss wünscht. Ein Fluss gefüllter Zeit, der gemächlich fließt, durch schöne Landschaften, zwischen weiten Ufern, bis er in das Meer mündet.
So ein ruhiges Leben, in dem es keine großen Aufregungen gibt und alles seine gute Zeit hat – das wünsche ich mir auch.

Nun aber widerfuhr Jonathan Noel die Sache mit der Taube: Nämlich als er eines Morgens die Wohnungstür öffnete.
Da saß sie „vor seiner Tür, keine zwanzig Zentimeter von der Schwelle entfernt, im blassen Widerschein des Morgenlichts, das durch das Fenster kam. Sie hockte mit roten, kralligen Füßen auf den ochsenblutroten Fliesen des Ganges, in bleigrauem, glattem Gefieder: die Taube.“
Es dauerte einen ewigen Augenblick, dann „durchzuckte Jonathan der Schreck, sträubten sich seine Haare vor blankem Entsetzen. Mit einem Satz sprang er zurück ins Zimmer und schlug die Türe zu…“
Man muss schon ein wenig verschroben sein, wenn einem eine Taube im Hausflur so einen Schock versetzt. Und doch: Ich kann mir Situationen vorstellen, in denen es mir ähnlich ergeht wie Jonathan.
Plötzlich wird der sonst ruhige Fluss meines Leben zu einem reißenden Strom.
Die Familie, die Partnerschaft, in der ich Halt gefunden habe, bricht schleichend oder mit lautem Getöse auseinander. Für die Arbeit, die ich voller Freude und gewissenhaft Tag für Tag geleistet habe, werde ich plötzlich nicht mehr gebraucht.
Das Zuhause, das ich mir so gemütlich eingerichtet habe, wird plötzlich unsicher. Mein Körper, der so lange Zeit selbstverständlich tat, was ich wollte, folgt mir nicht mehr.
Aus dem langen ruhigen Fluss wird ein reißender Strom – ich muss fürchten, in den Fluten zu ertrinken.

Angesichts seines Chaos war Jonathan Noel „so verwirrt und verzweifelt, dass er etwas tat, was er seit seinen Kindertagen nicht mehr getan hatte, er faltete nämlich in seiner Not die Hände zum Gebet, und ‚mein Gott, mein Gott’ betete er, ‚warum hast du mich verlassen? Warum werde ich so gestraft von dir? Vater unser, der du bist im Himmel, rette mich vor dieser Taube, Amen!’“
„Es war, wie wir sehen, kein ordentliches Gebet“, schreibt Patrick Süskind. Aber es war eines, sage ich. Eines im Sinne von Paulus und seinen Worten, die er an die Gemeinde in Rom schreibt.

Uns steht der Geist da bei, wo wir selbst unfähig sind. Wir wissen ja nicht einmal, was wir beten sollen. Und auch nicht, wie wir unser Gebet in angemessener Weise vor Gott bringen.
Doch der Geist selbst tritt mit Flehen und Seufzen für uns ein – in einer Weise, die nicht in Worte zu fassen ist.
Aber Gott weiß ja, was in unseren Herzen vorgeht. Er versteht, worum es dem Geist geht. Denn der Geist tritt vor Gott für die Heiligen ein.
Wir wissen aber: Denen, die Gott lieben, dient alles zum Guten.
Es sind die Menschen, die er nach seinem Plan berufen hat.Er hat sie schon im Vorhinein ausgewählt. Schon im Voraus hat er sie dazu bestimmt, neu gestaltet zu werden – und zwar so, dass sie dem Bild seines Sohnes gleichen. Denn der sollte der Erstgeborene unter vielen Brüdern und Schwestern sein.
Wen Gott so im Voraus bestimmt hat, den hat er auch berufen. Und wen er berufen hat, den hat er auch für gerecht erklärt. Und wen er für gerecht erklärt hat, dem hat er auch Anteil an seiner Herrlichkeit gegeben.

(Brief an die Gemeinde in Rom 8,26-30 -- www.basisbibel.de)

Natürlich schreibt Paulus nach Rom und nicht an Jonathan. Natürlich folgt Patrick Süskind seinen eigenen Gedanken und nicht Paulus Worten.
Dennoch: Würde Jonathan Paulus lesen oder hören, dann würde ihm das vielleicht helfen, das Chaos zu lichten.
Paulus Worte wirken auf mich wie ein natürliches Wehr, das den reißenden Fluss beruhigt, ein Wehr mit zwei Stufen.
Die erste Stufe ist die Gewissheit, dass ich in meinem Chaos nicht untergehen werde. Gott hält meinen Kopf über Wasser. Auch wenn die Wellen meines Lebens über mir zusammenschlagen: Gott hört mich.
Er hört mein Gebet. Auch das Gebet, das ich nicht spreche. Mehr noch: Er spricht es selber. Aber was heißt sprechen? „Der Geist selbst tritt mit Flehen und und Seufzen für uns ein – in einer Weise, die nicht in Worte zu fassen ist.“
Das Leid, das die Eingeweide umdreht, die Sorgen, die das Herz umklammern, die Ängste, die lähmen: Sie werden zu einem einzigen Seufzer, den Gottes Geist ausstößt.
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, betet Jonathan Noel wie Jesus am Kreuz. Jesus weiß es, Jonathan und ich sollen es hoffen: Gott bleibt auch da und dann bei mir, wenn ich mich von ihm verlassen wähne. Wenn mir die Worte fehlen, die ihm sagen könnten, was mir in der Seele brennt.
Gott kennt meine Herzensanliegen. Darauf soll ich vertrauen. Das ist die erste Stufe.

Die zweite Stufe: Gott lichtet mein Chaos. Er lichtet es, wie er am Anfang der Welt Ordnung macht.
Da ist es erst wüst und leer auf der Erde – aber Gottes Geist ist schon da. Und Gott schafft das Licht: Das Chaos bekommt eine Struktur. Gott trennt die Wasser in den Himmel und das Urmeer: Das Chaos teilt sich in ein Oben und ein Unten.
Gott drängt das Meer zurück und lässt aus der Erde Grün wachsen: Das Chaos weicht dem Leben. Gott setzt die Sonne und den Mond an den Himmel, Tag und Nacht folgen aufeinander: Das Chaos verwandelt sich in eine gute Zeit.
Gott belebt das Meer und die Luft und das Land mit Tieren: Das Chaos ist Vergangenheit, das Leben hat Zukunft. Gott schafft den Menschen als Mann und Frau: Das Chaos verliert seine Macht, denn Menschen teilen ihr Leben miteinander.
Gott schaut sich all das an, was er aus dem Chaos geschaffen hat: Und siehe, es ist sehr gut.
So schuf Gott am Anfang aus dem Chaos seine gute Ordnung. Und so schenkt Gott auch dem Chaos, in das mein Leben stürzt, wieder seine gute Ordnung. Darauf soll ich vertrauen.

Gott hat mich schon im Vorhinein ausgewählt, schreibt Paulus. Er weiß um das Chaos, in dem ich zu versinken drohe. In diesem Chaos ist er bei mir. Wenn ich mich darauf verlasse, dann wird es in dem Chaos licht: Ich beginne wieder, etwas zu erkennen.
Gott hat mich dazu bestimmt, zu ihm zu gehören, schreibt Paulus. Er will der sein, der meinem Leben Richtung und Sinn und Ziel gibt. Wenn ich mich darauf einlasse, dann teilt sich mein Chaos in ein Oben und ein Unten.
Gott hat mich berufen, schreibt Paulus. Er ruft mich aus dem Chaos, an dem ich verzweifle, weil ich mich nicht selber aus ihm heraus ziehen kann. Wenn ich auf seine Stimme höre, beginnt das Chaos, dem Leben zu weichen.
Gott hat mich für gerecht erklärt, schreibt Paulus. Er bringt die Zeit wieder zum Laufen, die in meinem Chaos durcheinander wirbelt. Was geschehen ist, bleibt geschehent. Wenn ich mich Gottes Zeit anvertraue, führt mein Weg aus dem Chaos wieder in die Zukunft.
Gott hat mir Anteil an seiner Herrlichkeit gegeben, schreibt Paulus. Er füllt die Leere, die ich in meinem Chaos empfinde, mit seiner Nähe. Er schenkt mir in meiner Einsamkeit seine Gegenwart. Wenn ich das spüre, dann löst sich das Chaos auf und ich lebe mein Leben mit Gott an meiner Seite.
Und dann, dann sehe ich mir mein Leben an, das eben noch Chaos war. Und siehe es ist sehr gut. „Wir wissen: Denen, die Gott lieben, dient alles zum Guten.“
Wir können es wissen, weil Gott aus dem Chaos das Leben geschaffen hat. Und weil er den Weg aus dem Leben in das Chaos hinein gegangen ist.
Jesu Weg war ein solcher Weg, auf dem das Leben in sich zusammenbrach. Es war ein Weg, der dort hinführte, wo nur noch das Seufzen des Geistes zu hören ist: In den Tod.
Aber es war eben ein Weg, der dort nicht endete. Aus dem Chaos des Todes schuf Gott neues Leben. Das sehe ich an Jesus Christus.
Aus dem Chaos bedrohten Lebens schafft Gott immer wieder neues Leben. Darauf soll ich vertrauen.

Auch Jonathan Noel fand den Weg aus seinem Chaos heraus. Er packte seine Koffer, um seine Wohnung für immer zu verlassen.
Er trat auf den Flur, schlich sich an der Taube vorbei. Er ging zu seiner Arbeit, erledigte sie an diesem Tag mehr schlecht als recht. Am Abend suchte er sich ein Hotelzimmer.
In der Nacht gab es ein Gewitter. Es tat einen Knall, Jonathan schnellte im Bett hoch. Er wusste nicht, wo er war.
Es erschein ihm, „als sei er zwar noch vorhanden, aber außer ihm nichts mehr, kein Gegenüber, kein Oben und Unten, kein Äußeres, kein Anderes, an dem er sich hätte orientieren können.“
„Er war im Begriffe zu schreien… Aber in dem Moment bekam er Antwort. Er hörte ein Geräusch.“ Es war der Regen, der einsetzte.
Früh am Morgen schlich er sich aus dem Hotel. Er „patschte mit Fleiß durch die Pfützen, er lief im Zickzack von Pfütze zu Pfütze, es war köstlich, er genoss diese kleine kindliche Sauerei wie eine große, wieder gewonnene Freiheit.“
Als er wieder zu Hause ankam, war von der Taube keine Spur mehr. Und sein Leben hatte eine neue Ordnung.

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