"Die meinen doch, sie seien allein im Himmel"

Ein Jude stirbt und kommt in den Himmel. Verwundert steht er vor dem Himmelstor, denn damit hatte er eigentlich nicht gerechnet. Er hatte sich noch nicht einmal Gedanken darüber gemacht.
Doch nun ist er erfreut und gerührt, als ihn Petrus freundlich empfängt und ihn mit den Regeln im Paradies vertraut macht. Ach, wie ist das alles schön!
Es ist auch schon geklärt, wo er im Himmel wohnen wird. Petrus beschreibt ihm den Weg. Am Ende ermahnt er ihn, dass er sich im jüdischen Himmelssaal aber bitte ruhig verhalten solle.
Darüber wundert sich der Jude. Beim Gebet in der Synagoge ging es laut zu. Wenn am Schabbat, und der sollte doch ein Vorgeschmack aufs Paradies sein, die Gemeinde zum „Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth“ kam, dann toste der ganze Raum von lauten Rufen der Beter. Warum sollte ausgerechnet im Himmel Ruhe herrschen?
Petrus sah seine Zweifel. „Weißt du, im Nebenraum sind die Christen. Und die meinen doch, sie seien allein im Himmel!“

Wunderbar leichtfüßig kommt diese Geschichte daher. Und während wir noch schmunzeln, fällt sie uns wie ein schwerer Stein auf den Fuß.
Die Christen meinen, sie seien allein im Himmel – das legt die Finger in die immer noch nicht vernarbte Wunde im Verhältnis von Juden und Christen, von christlicher und jüdischer Gemeinde.
Die Christen meinen, sie seien allein im Himmel. Zumindest haben sie es über Jahrhunderte hinweg versucht, Juden aus ihrem Himmel fernzuhalten. Und sie haben – Gott sei es geklagt – ihnen nicht nur Gottes Himmel streitig gemacht, sondern auch das Leben auf Erden.
Systematisch haben Christen Juden ausgegrenzt, in Ghettos gesperrt, sie als Untermenschen angesehen – und ihnen schließlich die Hölle auf Erden bereitet. Das ist unser Erbe, das wir nicht ausschlagen können, unser Erbe als Deutsche und als Christen.

Weit zurück reicht dieses Erbe, bis hinein in die Gleichnisse, die sich die ersten Christen von Jesus überlieferten und die wir uns heute noch erzählen.
Da ist das Gleichnis von der großen Festtafel. Es erzählt von einem Menschen, der ein Fest bereitet hat und nun auf die geladenen Gäste wartet. Die entschuldigen sich einer nach dem anderen. Und der zornige Gastgeber öffnet sein Haus für andere, um mit ihnen zu feiern.
Für die jungen christlichen Gemeinden lag die Deutung nahe, dass die Juden die Gäste waren, die eingeladen waren, aber dann nicht kamen – und dass sie selber nun die neuen Gäste waren, die den frei gewordenen Platz der Juden an Gottes Festtafel einnahmen.
Eine Deutung mit mörderischen Spätfolgen. Als Christen anfingen für sich in Anspruch zu nehmen, dass sie Gottes wahres Volk seien. Als sie in schrecklicher Selbstanmaßung meinten, Gott von seinem „alten“ Volk erlösen zu müssen. Das kann nicht Gottes Wille gewesen sein

Was aber war, was ist Gottes Wille? Darüber lässt sich Tag und Nacht nachsinnen.
Einer, der das tat, war Paulus. Er, der jüdische Gesetzeslehrer, der zuerst die Christen verfolgte, diese merkwürdige Sekte, die in Jesus den Messias, den Gesalbten, ja den Sohn Gottes erkannte. Bis sich ihm Jesus Christus zu erkennen gab, so dass er glaubte: In Jesus Christus kommen Gottes Liebe und Gnade an ihr Ziel.
So wandelte sich Paulus und fing an Jesus Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen zu predigen.

Dabei stieß er sich beständig an der Frage, wieso das, was ihm, dem Juden, tiefste Lebenswahrheit geworden war, anderen Juden verschlossen und ein einziges Ärgernis blieb.
Ich stelle mir vor, dass er tat, was er als Jude gelernt hatte: Jeden Buchstaben der heiligen Schriften auf der Suche nach Gottes Wille umzudrehen, Gott im Gebet mit der Frage nach seinem Willen zu belagern.
Igendwann schenkte Gott ihm Einsicht in ein Geheimnis. Ein Geheimnis, das er nicht für sich behielt:

Brüder und Schwestern, ich will euch über folgendes Geheimnis nicht in Unkenntnis lassen. Denn ihr sollt euch nicht selbst einen Reim auf die Sache machen: Tatsächlich hat Gott dafür gesorgt, dass sich ein Teil von Israel vor ihm verschließt. Das soll aber nur so lange dauern, bis alle heidnischen Völker sich ihm zugewandt haben. Und auf diese Weise wird schließlich ganz Israel gerettet werden.
In der Heiligen Schrift heißt es ja auch: "Vom Zion her wird der Retter kommen und alle Gottlosigkeit von Jakob nehmen. Das ist der Bund, den ich, der Herr, mit ihnen geschlossen habe. Er wird erfüllt, wenn ich ihre Schuld von ihnen nehme."
Betrachtet man es von der Guten Nachricht her, dann sind sie Gottes Feinde geworden. Und das kommt euch zugute. Betrachte man es aber von daher, dass Gott sie erwählt hat, dann bleiben sie von Gott geliebt. Es waren ja ihre Vorfahren, die er einst erwählt hat.
Denn was Gott aus Gnade geschenkt hat, das nimmt er nicht zurück. Und wen er einmal berufen hat, der bleibt es.
Früher habt ihr Heiden Gott nicht gehorcht. Aber weil die Juden ungehorsam waren, hat Gott jetzt euch sein Erbarmen geschenkt.
Und genauso gehorchen sie jetzt Gott nicht, weil er euch sein Erbarmen geschenkt hat. Und dadurch werden künftig auch sie sein Erbarmen finden.
Denn Gott hat alle im Ungehorsam vereint, weil er allen sein Erbarmen schenken will.

(Brief an die Gemeinde in Rom 11,25-32 -- www.basisbibel.de)

Mysterion, so lautet das griechische Wort für Geheimnis, das Paulus verwendet. Und es hat ja tatsächlich etwas Mysteriöses, was er da nach Rom schreibt. Schwer zugänglich und nachvollziehbar.
Aber vielleicht können wir uns dem Geheimnis wenigstens annähern, über das Paulus uns nicht in Unkenntnis lassen will.
Vielleicht hilft uns dabei, wenn wir noch einmal auf das Gleichnis von der großen Festtafel schauen.

Da ist also der Mensch, der ein großes Fest ausrichten will. Als alles vorbereitet ist, ruft er sie an die Festtafel.
Gott ruft Menschen in seine Nähe, mag das bedeuten. Er will mit ihnen feiern. Diese Menschen, die er ruft, haben aber anderes zu tun. Sie sehen nicht, dass dieses Fest bei Gott der Höhepunkt in ihrem Leben ist. Lieber bleiben sie bei sich, in ihrem Alltag. Und Gott soll für sich bleiben, ohne sie.
Dass das so ist, ist für diese Menschen tragisch. Ihnen entgeht das Fest des Lebens. Sie werden ausgeladen. Aber – so deutet es Paulus: Es ist so Gottes Wille. Gott lädt sein Volk ein, Gott schickt ihm in Jesus Christus den Messias, auf den das Volk schon so lange wartet.
Gleichzeitig sorgt er dafür, dass ein Teil seines Volkes den Messias nicht erkennt, ihn übersieht, ihn wegschiebt. Und das ist für Gott tragisch. Gott kommt zu den Seinen und sie erkennen ihn nicht!

Das Gleichnis erzählt weiter, dass der Hausherr zornig wird, als die eingeladenen Gäste ausbleiben. Und dass er die Einladung nun an andere weitergibt. An Arme, Verkrüppelte, Blinde und Lahme. An Menschen, die auf Landstraßen und an Zäunen stehen. An Menschen, die nicht dazu gehören. Die lädt Gott jetzt ein.
Das Gleichnis sagt: Es gibt Menschen, denen Gott besonders nah ist, die das aber nicht wahrhaben wollen. Und also wendet sich Gott anderen Menschen zu. Menschen, bei denen niemand auf den Gedanke käme, bei ihnen Gott zu suchen. Menschen, die Gott noch nicht einmal kennen. Sich ihnen zuzuwenden – das ist Gottes Wille.
Mit dem Blick von Paulus: Gott sorgt dafür, dass Menschen seine Nähe vergessen – damit er sich anderen zuwenden kann. Gott, der Hausherr, sorgt dafür, dass die zuerst Geladenen nicht kommen, damit er andere einladen kann.
Nur weil ein Teil Israels sich vor Gott verschließt, öffnet sich Gott den Menschen, die nicht zu seinem Volk gehören. Weil die einen den Messias nicht erkennen, öffnet Gott anderen den Augen, damit sie ihn erkennen. Sein Zorn auf die einen wird zur Gnade für die anderen.
Was wird nun aus der Einladung. Für die, die sie abgelehnt haben – wie für die, die ihr gefolgt sind?
Die Schlussfolgerung liegt nahe und ist allzu oft gezogen worden, dass nur die mit Gott feiern, die er später nachgeladen hat. Diejenigen, die nicht kommen wollten, können gern wegbleiben. Juden bleiben ausgeschlossen, die Christen sind allein im Himmel.

Aber Paulus bleibt bei diesem Gedanken nicht stehen. Wie könnte er, der Jude, das auch tun! Paulus ist zutiefst überzeugt: Gott feiert, wenn er feiert, nur mit allen. Darunter macht er es nicht. Erst wenn sein Haus voll ist, steigt das Fest. Und dass es voll wird, dafür sorgt Gott.
Er lädt die ein, die er erst gar nicht eingeladen hatte und die nie mit einer Einladung gerechnet haben. Erst recht lädt er die ein, die seine Einladung ausgeschlagen haben. Weil an ihnen sein Herz hängt. Bis sie alle seine Einladung annehmen und kommen.
Und das wird geschehen, da ist sich Paulus sicher. Die einen kommen, weil sie so überrascht sind von der Einladung. Die anderen kommen, weil sie sehen, dass das Fest auch ohne sie stattfinden könnte – da wollen sie dann doch lieber dabei sein.
Spätestens dann, wenn alle das Geheimnis gelüftet haben, das sich mit dem großen Fest verbindet. Und das Geheimnis ist ganz einfach – wie alle großen Geheimnisse. Es ist Gott, der einlädt. Das ist das ganze Geheimnis.

Für die, die Gottes Einladung ganz unerwartet bekommen, liegt dieses Geheimnis völlig offen da. Natürlich ist es Gott, der einlädt. Nicht wir machen uns zu Gott auf, nicht wir sind Gott nah – Gott kommt zu uns, Gott schenkt uns seine Nähe.
Für die aber, die sich Gott schon immer nah fühlten, kann es zu einem verborgenen Geheimnis werden. Dann, wenn sie meinen, sie hätten Hausrecht bei Gott. Wenn sie denken, sie hätten es gar nicht mehr nötig, von ihm eingeladen zu werden, geschweige denn die Einladung anzunehmen.
Aber die Nähe Gottes ist nicht selbstverständlich. Sie ist ein Geschenk, das angenommen werden will – jeden Tag neu.

Die Nähe Gottes als Geschenk anzunehmen, das will Paulus seinen Römern ans Herz legen. Und sie so davor bewahren, sich auf ihre Einladung etwas einzubilden – oder gar anderen Menschen abzusprechen, dass Gott sie einladen könnte.
Es ist Gott, der einlädt – dieses Geheimnis des Glaubens im Herzen zu bewegen und zu bewahren, das will ich mir zu Herzen nehmen.
Damit ich bescheiden bleibe: Es ist nicht mein Fest, es ist Gottes Fest, zu dem er mich einlädt.
Und damit ich offen werde: Nicht ich entscheide, wer mit Gott feiert; Gott lädt ein, mit wem er feiern will.
Wir Christen sind nicht allein im Himmel. Die Juden, mit denen Gott seinen Bund geschlossen hat, sind da auch. Und wer weiß, wem wir dort im Himmel noch alles begegnen.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Fortsetzung folgt

Dreifach Gott begegnen

Herr, sag uns, wie wir beten sollen