Körbe voller Brot

Da stehen wir nun. Das Fest ist vorbei. Alles ist aufgeräumt. Die Menschen sind gegangen. Auch der, den sie gefeiert haben, hat sich zurückgezogen.
Nur wir sind noch hier. Und erinnern uns, wie das war: 

Jesus stieg auf einen Berg
und setzte sich dort hin –
zusammen mit seinen Jüngern.
Es war kurz vor dem Passafest,
dem großen Fest der Juden.

Jesus blickte auf und sah,
dass die große Menschenmenge zu ihm kam.
Da sagte er zu Philippus:
»Wo können wir Brot kaufen,
damit diese Leute zu essen haben?«
Das sagte er aber nur,
um Philippus auf die Probe zu stellen.
Er selbst wusste längst,
was er tun wollte.


Philippus antwortete ihm:
»Nicht einmal Brot für 200 Silberstücke reicht aus,
dass jeder auch nur ein kleines Stück bekommt!«
Einer seiner Jünger –
Andreas, der Bruder von Simon Petrus –
sagte:
»Hier ist ein kleines Kind.
Es hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische.
Aber was ist das schon für so viele Menschen!«
Jesus erwiderte:
»Sorgt dafür,
dass die Menschen sich niederlassen.«
Der Ort war dicht mit Gras bewachsen.
Sie ließen sich nieder.
Es waren ungefähr 5000 Männer.

Jesus nahm die Brote.
Er sprach das Dankgebet
und verteilte sie an die Leute, die dort saßen.
Genauso machte er es mit den Fischen.
Alle bekamen, so viel sie wollten.
Als sie satt waren,
sagte Jesus zu seinen Jüngern:
»Sammelt die Reste ein,
damit nichts verdirbt.«
Das taten sie.
Sie füllten zwölf Körbe mit den Stücken,
die nach dem Essen
von den fünf Gerstenbroten übrig geblieben waren.
 (Johannesevangelium 6,3-13 -- www.basisbibel.de)

So war das. Und nun sind nur noch wir hier. Und die Reste. Wobei: Reste trifft es ja nicht. Was da vor uns steht, ist kein Rest. Das ist die Fülle: Zwölf große Körbe voller Brot.
Leckeres, duftendes Brot, sogar noch ein wenig warm. Wie frisch gebacken. Wären wir nicht schon so satt, würde uns das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Doch was wird jetzt aus den Körben voller Brot?

In der Geschichte bleibt das offen: Das Johannesevangelium interessiert sich nicht dafür. Genauso wenig die anderen Evangelien, die diese Geschichte erzählen.
Sie erzählen, dass am Anfang viel zu wenig da war und am Ende ganz viel übrig blieb. Aber sie erzählen nicht, wie es möglich war, dass es plötzlich so viel wurde. Und sie erzählen eben auch nicht, was mit den ganzen Resten wurde.
Das zu erzählen, bleibt uns überlassen. Ich will es versuchen: Wo mögen sie geblieben sein, die Körbe voller Brot?

Einen Korb, so stelle ich es mir vor, hat einer den weiten Weg vom See Tiberias nach Jerusalem getragen. Von der großen Wiese am See ist er in die heilige Stadt gelangt.
Dort steht er in einem Innenhof im Halbschatten einer Feige. Ein Junge steht über ihn gebeugt und nimmt ein Brot heraus. Er geht mit ihm zum Tisch auf der anderen Seite des Hofes und setzt sich auf den letzten freien Platz, neben eine Frau, die ein einfaches Gewand aus feinem Stoff trägt.
Er reicht das Brot dem Mann, der auf seiner anderen Seite sitzt. Der nimmt den Laib in seine breiten Hände. Voller Schwielen und Narben sind sie von den Seilen der Fischnetze, die er lange Jahre aus dem See von Tiberias zog.
Er bricht das Brot in zwei Hälften und erinnert die anderen in der Runde: Genau so machte es auch der Herr, als sie am letzten Abend an diesem Tisch zusammensaßen. „So teilen wir das Brot des Lebens. Wir, die hier sitzen. Und die, die auf uns und das Brot warten.“
Er reicht die Brothälften nach rechts und links weiter. Jeder von den 15, 16 Menschen bricht sich ein Stück ab und steckt es in den Mund.
Der erste, der aufgekaut hat, ist der Junge. Er steht auf und geht zu dem Korb zurück, aus dem er eben das Brot holte. Er bückt sich und nimmt weitere Laibe heraus. Er gibt sie weiter an die Frau und den Mann, die jetzt vor ihm stehen.
Auch den anderen aus der Tischgemeinschaft reicht er ein oder zwei Brote. Einer nach dem anderen bricht auf und verlässt mit den Broten ins Gewand gewickelt das Haus.
Der Mann macht sich auf den Weg zum Tempel. Dort wird er schon erwartet. Frauen und Männer stehen beisammen und sehen ihm entgegen. Sie setzen sich auf den Boden, als er bei ihnen ist.
Der Mann beginnt zu ihnen zu reden: „Unser Herr hat gesagt, er ist das Brot des Lebens. Wer zu ihm kommt, wird nie mehr hungern.“
Die Frau ist währenddessen durch eines der Tore vor die Stadt gegangen, dorthin, wo am Straßenrand die sitzen, die von den Soldaten regelmäßig verjagt werden.
Auch die Frau wird erwartet. Einer hat den Kopf gehoben und lauscht ihren Schritten. Ein anderer versucht sich halb aufzurichten, als sie kommt.
Die Frau bricht von dem Brot ab und gibt jedem, so viel er will. Immer mehr Menschen kommen zusammen, viele Hände strecken sich ihr entgegen, kleine dreckige und verkrüppelte große. Für jede Hand hat sie ein Stück vom Laib – und das Brot in ihrer Hand wird nicht kleiner.
Ein zweiter Korb, so stelle ich es mir vor, hat durch die Zeiten den Weg nach Santiago de Chile geschafft.
Er steht in einer kleinen Blechhütte, mitten in einer Siedlung aus tausenden solcher windschiefen Hütten. Es stinkt: Die Siedlung steht auf einem Müllhügel. Die Menschen aus den Hütten arbeiten und leben im Müll.
In der Hütte sitzen auf ein paar Kisten und Stühlen zehn, zwölf Menschen um einen Tisch, jeder hat ein kleines Buch in der Hand. Ein Mann liest einen Abschnitt aus seinem Buch vor.
Wenn mein Bruder oder meine Schwester an mir schuldig wird, wie oft soll ich ihnen vergeben? Bis zu siebenmal? – Nicht nur siebenmal! Bis zu siebzigmal siebenmal!“
Ein anderer Mann rutscht auf seiner Kiste hin und her, er räuspert sich. „Ich muss um Vergebung bitten, sagt er. „Ich habe meine Kinder geschlagen. Und meine Frau.“ Er schweigt kurz.
Er wendet den Kopf und sieht die Frau neben sich an. „Kannst du mir verzeihen? Ich will mich ändern.“ Die Frau nickt kaum merklich.
Eine andere Frau steht auf, holt einen Laib Brot aus dem Korb, der in einer Ecke der Hütte steht. Sie bricht ihn in zwei Hälften und reicht sie nach links und rechts weiter. „So hat es damals an seinem letzten Abend auch der Herr gemacht. Wir tun es zu seinem Gedächtnis.“
Jede und jeder isst von dem Brot. Dann stehen die Frauen und Männer auf. Nacheinander gehen sie an dem Korb vorbei und nehmen sich ein oder zwei Laibe heraus.
Drei Frauen greifen neben dem Brot auch nach vollen Plastiktüten mit dem Aufdruck eines Supermarktes. Sie machen sich auf den Weg zu einem kleinen Unterstand.
Frauen mit Kindern auf dem Arm stehen dort schon. Kinder spielen mit einer Dose Fußball, andere spielen mit Stöcken im Staub.
Die Frauen packen die Supermarkttüten aus. Paprika, die schon ein wenig schrumpelig sind, eingedrückte Dosen. Sie beginnen zu kochen. Fünfzig Kinder warten auf ihre tägliche warme Mahlzeit.
Eine der Frauen nimmt eines der Brote und beginnt, von ihm zu verteilen. Jedes Kind bekommt ein großes Stück Brot. Aber das Brot in ihrer Hand wird nicht kleiner.

Ein dritter Korb, so stelle ich mir vor, steht in der nicht ganz unbedeutenden Vorstadt von Föhr, er steht in Hamburg.
Er steht in einem Haus, das Baustelle ist. Wände zwischen zwei Räumen sind herausgerissen. Der Rahmen für Gipskartonwände kündet von einer neuen Raumaufteilung.
Abseits des Chaos sitzen Erwachsene und Kinder um einen Tisch. Die einen sprechen deutsch und wohnen immer dort. Die anderen sprechen persisch und haben Unterschlupf gefunden im „Haus der Gastfreundschaft“, wie die, die immer dort wohnen, ihr Haus nennen.
Es riecht nach dem Essen, das zwei von ihnen gekocht haben. Zubereitet aus den Lebensmitteln, die gestern die Tafel geliefert hat, und der unverkäuflichen Ware, die sie vorhin aus dem Bioladen geholt haben.
Die Kinder lachen und zappeln. Dann werden sie still. Einer der Erwachsenen hat aus dem Korb, der neben der Tür steht, ein Brot genommen. Er bricht den Laib in zwei Teile. Er reicht die Hälften nach links und rechts weiter. „So wie Jesus teilte, was er hatte, teilen wir, was wir haben“, sagt der Mann.
Nach dem Essen brechen zwei der Erwachsenen auf. Sie nehmen zwei, drei Laibe von dem Brot aus dem Korb mit auf ihren Weg, der sie zur Ausländerbehörde führt.
Dort stehen sie in der Schlange, der Mann aus Afghanistan und der Mann, der schon immer in Hamburg wohnte. Sie legen die Formulare und ihre Wartenummer beiseite.
Sie nehmen die mitgebrachten Brote heraus und beginnen kleine Stücke zu verteilen an die vielen Menschen, die mit ihnen dort warten. Jede und jeder bekommt sein Stück – und die Brote in den Händen der beiden Männer werden nicht kleiner.

Drei Körbe voller Brot. Ich stelle mir vor, dass sie dort stehen, an den Orten, die es wirklich und tatsächlich gibt.
Das „Haus der Gastfreundschaft“ in Hamburg, in der drei Familien in der Diakonischen Basisgemeinschaft „Brot & Rosen“ zusammen leben – mit wechselnden Mitbewohnern, die bei ihnen Asyl finden oder da sind, um zu helfen.
Die Fundacion Christo vive in Santiago de Chile, die ihren Ausgang in einer Krankenstation und Volksküchen für Kinder nahm und zu der auch eine Basisgemeinde gehört.
Und die erste christliche Gemeinde in Jerusalem, von der Lukas in der Apostelgeschichte erzählt: Menschen, die miteinander teilten, was sie zum Leben hatten und brauchten: Brot und Besitz und Glaube.

Wo die anderen neun Körbe geblieben sind, weiß ich nicht. Aber womöglich wissen Sie es. Vielleicht können Sie eine Geschichte davon erzählen, wo sie einen der Körbe gefunden haben. Tun Sie das, damit auch andere von dem Brot essen und satt werden können.
Falls Sie noch keinen der Körbe gefunden haben, gehen Sie auf die Suche. Sie lohnt sich. Sie werden einen Korb finden. Überall dort, wo Menschen zusammenfinden, die sich nicht gesucht haben.
Sie halten einander die offenen Hände hin. Gemeinsam staunen sie über das Wenige, das sie haben. Vor ihren Augen wandelt es sich in die Fülle, die für alle reicht – weil Gott seinen Segen dazu gibt.

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