Abschiede schenken Kraft

Abschiede kosten Kraft. Davon können Eltern erzählen, die an einem frühen Morgen ihr Kind in den Kindergarten bringen.
Bis zur Garderobe geht alles gut. Da fängt das Kind aus heiterem Himmel an zu weinen. Es kann nicht im Kindergarten bleiben. Es muss unbedingt wieder mit nach Hause.
Mama oder Papa versuchen das Kind zu überzeugen, wie schön es doch mit den anderen Kindern und dem Spielzeug ist, und ihm glaubhaft zu versichern, dass sie es bestimmt ganz gleich wieder abholen.
Das alles macht die Tränen nur dicker und die Umarmung fester. Schließlich ist es mit viel Geduld und schlechtem Gewissen doch geschafft: Das Kind sitzt schluchzend bei der Kindergärtnerin auf dem Schoß.
Am Nachmittag sind Mama oder Papa besonders pünktlich wieder da, um das unglückliche Kind abzuholen. Das kommt angehüpft und plappert darauf los, wie tief der Tunnel ist, den es gegraben hat.
Und die Kindergärtnerin sagt: „Kaum warst du um die Ecke, war alles gut.“

Von der Kindergartenszene zu einer Kinderbibelszene. Nämlich zu der Geschichte von Himmelfahrt, wie sie die Bilder von Kees de Kort erzählen.
Da ist zunächst zu sehen, wie Jesus mit den Jüngern zusammensitzt und mit ihnen isst und zu ihnen spricht. Dann gehen sie auf einen Berg, Jesus voran, die Jünger in Grüppchen und womöglich etwas zögerlichen Schrittes hinterher.
Im nächsten Bild sind die Jünger immer noch da. Erstaunt sehen die einen aus, mit weit aufgerissenen Augen; erschrocken die anderen, mit der Hand vorm Mund.
Einer aber fehlt. Die Stelle, an der Jesus eben noch stand, ist leer. Nur ein leichter Schatten scheint dort noch zu schweben.
Dann stehen an seiner Stelle zwei helle Gestalten, die den Jüngern den Weg weisen, hinunter vom Berg, zurück in ihr Haus. Die Jünger kommen aus dem Staunen nicht heraus. Die Münder stehen offen, die Hand ist an die Stirn gelegt: Was soll das werden?
Im Schlussbild ist zu sehen, dass sie zurückkehren in das Haus. Einer steht schon in der Tür, die anderen kommen nach. Sie sind zurück in ihrem Leben, ohne Jesus.

Die beiden Szenen erscheinen grundverschieden.
Hier Jesus, der vor den Augen seiner Jünger verschwindet wie in einem Zaubertrick. Da die Eltern, die mit schlechtem Gewissen ihr weinendes Kind abgeben.
Dort das Kind, das lieber bei Mama oder Papa bleiben will. Hier die Jünger, die am liebsten Jesus festhalten würden.
Hier die Engel, die die Jünger zurück nach Hause schicken. Da die Kindergärtnerin, bei der das Kind auf dem Schoß sitzt.
Dort die Eltern, die das Kind am Nachmittag wieder abholen. Hier die Jünger, die allein nach Hause gehen.

Und doch berühren sich die beiden Szenen. Sie berühren sich darin, dass ein Abschied Kraft kostet.
Er kostet dem Kind Kraft. Es muss die Eltern loslassen – und auch wenn es nur für einen halben Tag ist, für das Kind fühlt es sich an wie für immer. Als würde es die nie wieder sehen, denen es ganz tief verbunden ist.
Auch die Jünger kostet der Abschied Kraft, auch für sie ist es ein Abschied für immer – von einem, an den sie sich mit ihrem ganzen Leben gebunden haben, als sie ihr altes Leben hinter sich ließen, um ihm zu folgen.

Die beiden Szenen berühren sich aber auch darin, dass ein Abschied Kraft freisetzen kann.
Das Kind überwindet den Abschiedsschmerz schnell. Kaum sind die Eltern aus den Augen, hat es den Blick frei für das andere Leben um sich herum.
Es krabbelt vom Schoß der Kindergärtnerin herunter und beginnt zu spielen. Und am Ende des Tages ist es stolz auf den wunderbaren Tunnel.
Und die Jünger? Die sehen wie Jesus vor ihren Augen verschwindet. Die lassen sich von den Lichtgestalten zurück in ihr Haus schicken.
Dort, so geht die Geschichte weiter, dort schließen sie sich erst einmal ein und trauern dem nach, was war, und warten ängstlich auf das, was wird.
So schnell lernt es sich nicht, dass ein Abschied auch Kraft frei setzt. Es sei denn, man ist noch ein Kind.

Dabei hatte Jesus seine Jünger doch vorbereitet, geduldig wie eine Mutter:
„Ihr seid nur traurig. Doch ich sage euch die Wahrheit. Es ist gut für euch, wenn ich fortgehe. Denn wenn ich nicht fortgehe, kommt der Beistand nicht zu euch. Aber wenn ich fortgehe, werde ich ihn zu euch schicken.“ (Johannesevangelium 16, 6-7 -- www.basisbibel.de)
„Beistand“ – „Parakletos“ heißt es im griechischen Original. Wörtlich übersetzen kann man das mit „der Herbeigerufene“. Also: Der Parakletos ist der, der wie gerufen kommt.
Als „Tröster“ übersetzt ihn Luther. Trost in dem alten Sinn von ermutigen, Mut machen. Er kommt wie gerufen, wenn ich nicht weiter will. Er füllt das Loch der Verzweiflung, der Sinnlosigkeit.
Als „Fürsprecher“ überträgt ihn die Zürcher Bibel ins Deutsche. Er kommt wie gerufen, wenn ich nicht weiter weiß. Der spricht für mich. Macht die Dinge klar, die ich nicht durchschaue, für mich, gegenüber anderen.
Als „Helfer“ verdeutscht ihn die Gute Nachricht Bibel: Er kommt wie gerufen, wenn ich nicht weiter kann. Wo ich an meine Grenzen stoße. Wo ich allein auf mich gestellt nicht weiter komme.
Darin ist er Beistand: In der Kraft, die er frei setzt, auf eigenen Beinen ins Leben zu gehen.

Auch darin ist er Beistand, dass er die Augen öffnet für das Leben, wie Gott es will.
Jesus sagte seinen Jüngern: „Wenn dann der Beistand kommt, wird er euch helfen, die ganze Wahrheit zu verstehen. Denn er ist der Geist der Wahrheit.“ (Johannesevangelium 16,13 -- www.basisbibel.de)
Als Geist der Wahrheit schenkt er den Blick, mit dem Gott auf das Leben schaut. Und dieser Blick sieht, dass Gott das Leben so will, wie Jesus es gelebt hat.
Also: Die Liebe dahin tragen, wo sie gebraucht wird. Sie ohne vorauslaufende Gegenleistung oder nachlaufenden Gehorsam verschenken. Im Gegenwind stehen bleiben.
Und: Das Böse mit Gutem überwinden. Der Macht des Todes mit der Hoffnung auf Leben begegnen. In dem Vertrauen, dass Gott schon längst genug getan hat, damit das Leben siegt.

Das also verspricht der Beistand: Wenn er kommt setzt er die Kraft frei, um das Leben klar zu sehen mit den Augen Gottes und loszugehen in das Leben als Mensch Gottes.
Aber diesen Beistand gibt es nur um den Preis des Abschiedes. Erst wenn die Jünger Jesus loslassen, schickt er ihn. Die Jünger sollen nicht mehr Jesu Hand umklammern und auf das warten, was er für sie sagt oder an ihrer Stelle tut.
Sie sollen ihm abschauen, mit liebenden Augen auf das Leben zu schauen und die Welt und die Menschen. Und dann sollen sie an seiner Statt losgehen zu den Menschen und die Welt gestalten. Als seine Nachfolger. Und nach Gottes Willen.
Dazu braucht es den Abschied. Der muss den Jüngern nicht gefallen, schließlich kostet er Kraft. Aber genau in dem Maße, in dem er Kraft kostet, setzt er auch Kraft frei. Auf dem Abschied liegt Segen.

Noch ist es nicht so weit, dass die Jünger wirklich den Abschied nehmen. Noch ist es nicht so weit, dass der Beistand kommt und alle Trauer und Ängsten hinwegfegt. Bis Pfingsten müssen sie und wir noch eine Woche warten.
Bei erwachsenen Menschen geht der Abschied nicht so schnell wie bei einem kleinen Kind, das noch nichts vom Ernst des Lebens weiß. Das wird das Kind erst noch lernen, was es mit wirklich schweren Abschieden auf sich hat.
Aber bis dahin können ja die erwachsenen Menschen von dem Kind etwas lernen: Wer die Kraft zum Weinen hat, hat auch die Kraft zum Lachen. Wer auf andere vertrauen kann, kann auch auf eigenen Beinen gehen. Wer sich selber loslässt, den hält der Beistand umso fester.

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