Hunger macht böse

Familie Birnbaum aus Zittau hatte eine Geschäftsidee: Sie wollte einen Speisen-Lieferdienst aufmachen.
Es fehlte ihnen nur noch ein Name. Also fanden sie sich um die Mittagszeit zum Brainstorming zusammen. Essen auf Rädern? Klingt muffig. Zittau-Imbiss? Langweilig. Birnbaum bringt's? Naja.
Der Kopf rauchte, der Magen knurrte, die Stimmung schlug um. „Wenn uns nichts einfällt, können wir's gleich ganz lassen“, schimpfte Vater Birnbaum.
„Ich mach' uns erst mal was zu essen“, sagte Mutter Birnbaum, „Oma hat immer gesagt: Hunger macht böse.“
„Das ist es“, sagte Vater Birnbaum: „Hunger macht böse!“ „Was ist es?“ „Das ist der Name für unser Geschäft: 'Hunger macht böse'“
Ich gebe zu: Das Gespräch ist frei erfunden. Aber Familie Birnbaum und ihren Speisen-Lieferdienst „Hunger macht böse“, den gibt es in Zittau tatsächlich.

Hunger macht böse. Das wusste nicht nur Oma Birnbaum, das erfuhren auch schon Mose und Aaron:

Und es murrte die ganze Gemeinde der Israeliten wider Mose und Aaron in der Wüste.
Und sie sprachen: Wollte Gott, wir wären in Ägypten gestorben durch des HERRN Hand, als wir bei den Fleischtöpfen saßen und hatten Brot die Fülle zu essen. Denn ihr habt uns dazu herausgeführt in diese Wüste, dass ihr diese ganze Gemeinde an Hunger sterben lasst.
(2. Mose 16,2-3)

Hunger macht böse. Mit vollem Magen würden die Israeliten ganz anders reden.
Sie würden sich erinnern, dass sie in Ägypten meistens dünnen Eintopf essen mussten. Und dass viele von ihnen starben in Ägypten. Bei Arbeitsunfällen, an Erschöpfung. Oder durch Schikanen der Ägypter.
Sie würden sich erinnern: Wie sie sich lange danach sehnten, dem Sklavendienst zu entkommen. Wie sie um ihr Leben rannten, als sie loszogen und die Soldaten hinter ihnen her. Wie sie tanzten und sangen, als sie endlich ankamen: In der Freiheit, jenseits des Roten Meeres.
Aber der Magen ist leer. Hunger macht böse und verwandelt die Freiheit in eine Wüste. Nichts ist gut dort, wo es nichts zu essen gibt. Wo ich satt werde, kann es so schlimm nicht sein.
Lieber tot als Sklave, sagt der Friese. Lieber Sklave als hungrig, sagen die Israeliten und wollen zurück nach Ägypten.

Hunger macht böse. Man kann das wissenschaftlich erklären: Es liegt am Serotonin, einem Botenstoff im Hirn. Haben Menschen Hunger, fällt der Serotoninspiegel ab. Wenn er das tut, handeln Menschen kämpferischer und aggressiver.
Wissenschaftler haben das im so genannten Ultimatumspiel nachgewiesen: Einem Spieler werden 100 Hundert Euro versprochen. Er darf sie behalten, wenn er sie beliebig zwischen sich und einem Mitspieler aufteilt. Wobei es nur ein einziges Angebot gibt und kein Nachverhandeln. Wenn der Mitspieler das Angebot ablehnt, bekommen beide nichts.
Man hat dabei festgestellt: Ein satter Mitspieler mit ausgeglichenem Serotoninspiegel gibt sich in der Regel mit einem Anteil von 30 Euro zufrieden. Ein hungriger Mitspieler mit Serotoninmangel lehnt dieses Angebot eher ab. Wenn ich nicht genug bekomme, sollst du auch nichts haben.

Ob es so etwas wie einen Serotoninspiegel auch gegenüber dem Leben gibt, das ja kein Spiel ist, sondern ernst? Ernster noch als ein Fußballspiel?
Ich stelle mir das so vor: Ich bin ein Mitspieler im Leben. Ich bekomme etwas angeboten vom Leben. Doch ich weiß: Es ist nur ein Teil aller möglichen Möglichkeiten.
Sagen wir: Ein Viertel dessen, was ich vom Leben erwarte, kann ich bekommen. Drei Viertel seiner Möglichkeiten behält das Leben für sich.
Bin ich ein satter Mensch? Einer, der mit diesem einen Viertel zufrieden ist? Sage ich fröhlich Dankeschön und mache etwas daraus?
Oder bin ich ein hungriger Mensch? Einer, dem dieses eine Viertel zu wenig ist? Fühle ich mich vom Leben übervorteilt? Beginne ich zu murren, wie die Israeliten?

Und der HERR sprach zu Mose:
Ich habe das Murren der Israeliten gehört. Sage ihnen: Gegen Abend sollt ihr Fleisch zu essen haben und am Morgen von Brot satt werden und sollt innewerden, dass ich, der HERR, euer Gott bin.

(2. Mose 16,11-12)

Als Kind habe ich mich immer über die murrenden Ägypter geärgert. Warum sind die so undankbar? Heute sitze ich mit murrenden Kindern am Essenstisch. Und staune über Gott.
Er handelt wie die Mutter, die ihr Kind aus dem Kindergarten abholt und ein leckere Laugenstange dabei hat. Sie weiß: Hunger macht böse. Bis zum Mittag dauert es zu lang. Die Laugenstange verhindert, dass die Stimmung kippt.
Gott ist schlau wie ein Geschäftsmann. Der will seine Ware an den Mann bringen. Aber leerer Magen kauft ungern und verhandelt hart. Also lädt er zu einem Geschäftsessen ein. Und besiegelt das Geschäft nach dem doppelten Espresso.

Ihr sollt innewerden, dass ich euer Gott bin.“ Das Ultimatumspiel ist eine psychologische Versuchsanordnung. Das Leben ist es nicht.
Mein Leben ist immer ein Ganzes. Auch wenn sich nicht alles erfüllt, was ich mir wünsche. Auch wenn manches Bruchstück bleibt von dem, was ich anfange.
Mein Leben ist nie nur ein Viertel dessen, was möglich gewesen wäre. Es ist immer das Ganze dessen, was wirklich geworden ist.
Ich kann das so sehen, wenn ich sage: Mein Leben, so wie es ist, ist geschenkt, von Gott geschenkt. Ich kann das Leben dann annehmen. Ist es gut, will ich mich daran freuen. Liegt es schwer auf mir, darf ich murren – und Gott schenkt nach:

Und am Abend kamen Wachteln herauf und bedeckten das Lager. Und am Morgen lag Tau rings um das Lager.
Und als der Tau weg war, siehe, da lag's in der Wüste rund und klein wie Reif auf der Erde.

(2. Mose 16,13-14)

Da ist also das Wunder. Wachteln am Abend und etwas Rundes, Kleines wie Reif auf der Erde am Morgen: das Manna. Man kann das erklären.
Wachteln kreuzen heute noch auf ihrem Zug in Richtung Sudan zu Tausenden durch die Sinaiwüste. Sie fliegen vor allem nachts und immer dicht am Boden. Oft sind sie so erschöpft, dass man sie mit Händen fangen kann.
Manna, das sind wohl die Absonderungen einer Schildlaus, die sich vom Saft einer Tamariske, eines Strauches, ernährt. Die Beduinen benutzen sie heute noch als Honigersatz.
Also doch kein Wunder? Wunder, die von Gott erzählt werden, sind immer ein Zeichen. Das Entscheidende ist nicht das Wunder und wie es geschehen kann. Das Entscheidende ist, was es zeigt und wen es zeigt.
Das Wunder in der Wüste zeigt Gott, der dem Menschen ein Ohr leiht und sein Herz schenkt. Er hört das Murren und nimmt es ernst. Er spürt den Hunger und will ihn stillen.
Und das Wunder zeigt Gott, der um den Menschen wirbt. Er, Gott, hat sich dem Menschen längst zugewandt. Jedem Einzelnen.
Jetzt tut er es wieder und noch einmal. Damit der Mensch sich ihm zuwendet. Jeder Einzelne.
Das ist das Wunder hinter dem Wunder: Gott sieht den Einzelnen und hofft, dass der ihn sieht.

Und als es die Israeliten sahen, sprachen sie untereinander: Man hu? Denn sie wussten nicht, was es war. Mose aber sprach zu ihnen: Es ist das Brot, das euch der HERR zu essen gegeben hat.
(2. Mose 16,15)

Da ist also das Wunder. Und die Israeliten fragen sich: Man hu? Was ist denn das? Sie können das Gute, das ihnen widerfährt, nicht deuten. Sie brauchen Moses, der es ihnen erklärt.
Bei all ihrem Murren haben sich die Israeliten die Fleischtöpfe Ägyptens vorgestellt. Aber Manna sieht anders aus, schmeckt anders.
Vieles bekomme ich ohne es zu erkennen, ohne zu verstehen, was gemeint ist. Essen kann sehr unterschiedlich aussehen. Aber auch alles andere, was Menschen brauchen, kommt in sehr vielfältiger Form. Und nicht immer ist es sofort erkennbar.
Aber wenn es so wäre, dass ich frage: Man hu? Was ist das? Wozu ist es gut? Für mich? Für mein Leben? Auch wenn es anders aussieht, als ich es mir vorgestellt habe?
Vielleicht brauche ich jemanden, der mir sagt und zeigt, was mir gut tut. Einer, der mir erklärt, was für mich vom Himmel fällt. Damit ich darüber staunen kann. Und damit ich einsammeln kann, was ich für mein Leben brauche.

Moses sprach weiter: Das ist's aber, was der HERR geboten hat: Ein jeder sammle, soviel er zum Essen braucht, einen Krug voll für jeden nach der Zahl der Leute in seinem Zelte.
Und die Israeliten taten's und sammelten, einer viel, der andere wenig.
Aber als man's nachmaß, hatte der nicht darüber, der viel gesammelt hatte, und der nicht darunter, der wenig gesammelt hatte. Jeder hatte gesammelt, soviel er zum Essen brauchte.

(2. Mose 16,16-18)

Von allem soll ich soviel haben, wie ich brauche. Sofort läuft in meinem Kopf die Phantasie los, was ich alles brauchen könnte. Wünsche hätte ich viele, materielle und andere.
Aber die Geschichte stoppt mich gleich: Es heißt nicht: Nimm, soviel du willst. Es heißt auch nicht: Nimm alles, was du tragen kannst. Es heißt: Jeder hatte gesammelt, soviel er brauchte.
Dass das unterschiedlich ist von Mensch zu Mensch, das war im alten Israel nicht anders als es heute ist.
Manche Israeliten fangen dennoch an zu sammeln, so viel sie wollen und tragen können. Doch all das, was gehortet wird, fängt an zu stinken.
Das Versprechen Gottes ist zugleich auch sein Anspruch: Ich sorge für dich, aber sieh du zu, nur das zu nehmen, was du wirklich brauchst! Vertrau mir, dass du genug bekommst.
Ich will es versuchen. Auch dann, wenn der Hunger mich böse macht.

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