Im Anfang war der Stein

Im Anfang war der Stein. Er war da, als das Eis kam. Es brach ihn ab und trug ihn davon. Tag für Tag und Jahr um Jahr wanderte auf dem Rücken des Gletschers mit.
Nach einer langen Strecke und einer noch längeren Zeit legte der Gletscher ihn ab, tief eingehüllt von einem Dunkel aus Erde und Geröll.
Der Wind kam und das Wasser. Tag für Tag und Jahr um Jahr. Gemeinsam trugen sie die Erde weg und zerrieben das Geröll. Eines Tages erblickte er den Himmel über sich.
Lange geschah nichts. Aber er konnte warten. Tage waren für ihn ein Wimpernschlag, Jahre dauerten einen Atemzug. Schließlich war seine Zeit da.
Ein Mann kam, begleitet von einem Eselskarren und vier anderen Männern. Die Männer nahmen Stöcke und Seile. Sie ächzten, bis sie ihn auf den Wagen geladen hatten.
Sie brachten ihn in die Werkstatt des Mannes. Ein Ort, an dem es viele gab wie ihn. Der Reihe und der Form nach waren sie geordnet. Immer wieder wurde einer von ihnen geholt.
Eines Tages war er an der Reihe. Der Mann bearbeitete ihn mit Hammer und Meißel. Schlag für Schlag höhlte er ihn aus. Er verwandelte ihn zu dem, was er werden sollte.
Als der Mann mit ihm fertig war, wurde er wieder verladen. Ein paar Tage dauerte die Reise, bis er an seinem Ziel war. Sie stellten ihn an den Ort, für den er vorgesehen war.
Zum ersten Mal füllten sie Wasser in ihn hinein, das sich kühl und frisch anfühlte. Zum ersten Mal traten sie an ihn heran. Einer beugte sich über ihn, ein anderer schöpfte drei Mal Wasser aus seinem Inneren und übergoss damit den anderen.
Tag für Tag, Jahr um Jahr sind seitdem vergangen. Wimpernschläge und Atemzüge für ihn. Generationen für die Menschen, die zu ihm kamen.
Er ist ihnen und seinem Ort treu geblieben – er, der Taufstein, der hier vorne im Chorraum steht.

Kommt her zu ihm! Er ist der lebendige Stein, der von den Menschen verworfen wurde. Aber bei Gott ist er auserwählt und kostbar.
Deshalb heißt es in der Heiligen Schrift: »Seht doch, ich lege auf dem Zion einen ausgewählten, kostbaren Grundstein. Wer an ihn glaubt, wird nicht zugrunde gehen.«
Für euch ist er kostbar, weil ihr an ihn glaubt. Aber für diejenigen, die nicht an ihn glauben, gilt: »Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Grundstein geworden.«
Er ist »ein Stein, an dem man sich anstößt, und ein Fels, über den man zu Fall kommt«.

(1 Petrus 2,4.6-8 – www.basisbibel.de)

Im Anfang war der Stein. Der Taufstein hier in der Kirche. Er war im Anfang, weil er hier steht, seit die Kirche hier steht.
Er war aber auch im Anfang, weil er einmal am Eingang der Kirche stand: Wer in die Kirche wollte, musste an ihm vorbei.
Das ist wortwörtlich zu verstehen. Und im übertragenen Sinne: Die Kirche war ein heiliger Raum, zum dem nur Eingeweihte Zutritt hatten. Nur wer sich an dem Taufstein taufen ließ, durfte die Kirche betreten.

So war der Taufstein einmal das, was noch früher Jesus Christus war: ein lebendiger Stein, der für die Menschen entweder kostbar wurde oder zu einem Stolperstein.
Es gab damals, in den Anfängen des christlichen Glaubens, gute Gründe sich an Jesus Christus zu stoßen, wenn man über ihn und seine Nachfolger stolperte.
Es konnte von außen reichlich merkwürdig erscheinen, einen zu verehren, der von den Herrschenden als Verbrecher hingerichtet worden war.
Erst recht wirkte es mehr als merkwürdig, von dem zu behaupten, dass er von Gott auferweckt worden war – und dass alle, die sich an ihn banden, den Tod überleben würden.
Die wahrscheinlichere Haltung war, diesen Stein auf die Halde zu werfen, statt ihn als kostbaren Schatz aufzusammeln. Manche taten es trotzdem. Weil sie den Geschichten glaubten, die sie über diesen Jesus von Nazareth hörten. Und weil sie den Menschen vertrauten, die sie weitergaben.
Die Geschichten erzählten davon, wie sich einer jeder und jedem einzelnen zuwendet. Wie er sie spüren lässt, dass Gott Ja zu ihnen sagt. Gerade zu denen, die sonst vom Leben ausgeschlossen werden. Und wie er Gerechtigkeit einfordert von denen, die etwas zu sagen und zu verteilen haben.
Die Menschen, die diese Geschichten erzählten, strahlten eine Hoffnung aus, die nicht an den Grenzen des Todes Halt machte. Die lebten mittendrin in dieser Welt – und taten es so, als sei ihr Leben nicht das einzige, das sie haben. Die konnten alles, was sie hatten, und auch sich selber verschenken, weil sie auf ein ganz anderes Leben warteten.

Als der Taufstein hierher kam, gab es gute Gründe, sich an ihm zu stoßen. Religion war längst zu einem Machtwerkzeug geworden. Zumindest hier im Norden wuchs Glaube nicht von unten. Das Bekenntnis wurde von oben verordnet.
Der Gang zum Taufstein war oft kein freiwilliger. Ein Wunder, wenn doch Glaube wuchs. Ein Glaube womöglich, der gerade gegen die half, die das Bekenntnis mit Drohungen und Gewalt gebracht und eingefordert hatten.
Weil Glaube – damals wie heute – gleich macht: Vor Gott ist jeder Mensch gleich. Er ist ein Geschöpf, das sein Leben Gott verdankt. Vor Gott und im Glauben verschwinden die kleinen und großen Unterschiede, die Menschen machen.
Deswegen macht Glaube auch frei. Wer nur Gott etwas schuldig ist, wird zumindest innerlich frei von dem, was andere von ihm fordern. Wem Gott schon alles geschenkt hat, der braucht sich bei anderen nichts dazu zu verdienen.

Ob der Taufstein auch heute noch ein lebendiger Stein ist? Einer, der die Kraft hat, zum Stolperstein zu werden? Oder die Schönheit besitzt, als kostbarer Stein bewundert zu werden?
An schlechten Tagen denke ich: Der Taufstein ist zum kunsthistorischen Inventar geworden, den wir bei Kirchenführungen als den ältesten Ausstattungsgegenstand würdigen. Doch im Alltag spielt er keine Rolle mehr.
Aber das denke ich nur an wirklich schlechten Tagen. An allen anderen Tagen bin ich überzeugt: Dieser Stein ist lebendig.

Ich habe einmal ehrenamtliche Kirchenwächterinnen gebeten, sich in ihrer Kirche an den Ort zu stellen, der für sie am wertvollsten ist.
Einige der Frauen suchten sich den auch dort sehr alten Taufstein aus. Eine von ihnen sagte: Ich denke hier immer an die Taufen, die ich hier schon erlebt habe. An die aus der eigenen Familie. An die von anderen aus der Gemeinde.
Das gilt auch und gerade für den Taufstein hier: Es gibt Familien, die können über drei, vier Jahrhunderte die Reihe der Ahnen benennen, die vor ihnen an diesem Taufstein getauft wurden.
Jede Taufe stellt hinein in eine lange Reihe und setzt sie fort. Gottes Segen, der von Generation zu Generation weitergegeben wird und weiterwirkt.

Wie ernst die Taufe nach wie vor ist, entdecke ich darin, dass manche Eltern sagen: Ich lasse mein Kind nicht taufen. Das soll es später selber entscheiden. Bei den Baptisten ist das sogar die Regel.
Taufe ist eine Entscheidung, die Vorbereitung braucht. Ich muss etwas lernen über den Glauben. Ich muss Gott kennen lernen. Dann kann ich mich auch dafür entscheiden.
Und Taufe ist eine Entscheidung, die den freien Willen braucht. Ob ich zu Gott gehören will oder nicht, kann mir niemand abnehmen. Ich muss mich selber und bewusst dazu entscheiden zu glauben.
Wenn ich es tue, ist Taufe ein wunderbares Fest. Ein Jugendlicher, den wir während der Konfirmandenzeit getauft haben, sagte: „Das Schönste in dem Jahr war meine Taufe.“
Es ist am schönsten, bewusst Ja zu sagen und den Taufsegen zu hören und spüren.

Der Petrusbrief wirbt dafür:

Lasst euch auch selbst als lebendige Steine zur Gemeinde aufbauen. Sie ist das Haus, in dem Gottes Geist gegenwärtig ist. So werdet ihr zu einer heiligen Priesterschaft und bringt Opfer dar, in denen sein Geist wirkt.
Ihr seid auserwählt: eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das in besonderer Weise Gott gehört. Denn ihr sollt seine großen Taten verkünden. Es sind die Taten dessen, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat.
Ihr, die ihr früher nicht sein Volk wart, seid jetzt Gottes eigenes Volk. Ihr, die ihr früher kein Erbarmen fandet, erfahrt jetzt seine Barmherzigkeit.

(1 Petrusbrief 2,5.10 – www.basisbibel.de)

Im Anfang war der Stein. Der Taufstein steht am Eingang zum Glauben. An ihm muss ich vorbei. Aber dann bin ich drin. Drin in der Gemeinde.
Dabei kann ich an die Menschen denken, die sich regelmäßig in den Kreisen treffen, die so eine Gemeinde anbietet.
Zum Singen und Erzählen, zum Tun für andere und zum Beten, zum Spielen und Gemeinschaft Pflegen. Vieles davon werde ich hoffentlich schön und gut finden, anderes womöglich auch ein wenig gewöhnungsbedürftig.
Dabei kann ich auch an die Gemeinschaft der Heiligen denken, von der das Glaubensbekenntnis spricht. Die Gemeinschaft derer, die sich über alle Zeiten spannt und alle Orte verbindet. Ich erlebe sie vor allem im Sommer, wenn ich hier im Friesendom Gottesdienst feiere.
Wir sind dann Sonntag für Sonntag tatsächlich eine Gemeinschaft von Menschen, die aus vielen verschiedenen Orten kommen und von denen jede und jeder Glauben mitbringt. Genau dieser Glaube verbindet uns – weil er jeden von uns und uns alle zusammen an Gott bindet.
Wir sind dann Heilige: Menschen, die zu Gott gehören. Oder Priester: Menschen, die Gott dienen. Gott dienen, das tut jeder und jede von uns, wenn wir hier gemeinsam singen und beten und schweigen und hören. Wir machen ihm für eine Stunde Raum in unserem Leben. Wir halten ihm Herz und Hände hin, und er füllt sie mit Segen.
Ich bin mittendrin in diesem Segen. Wer einmal getauft ist, der ist getauft. Der braucht nicht noch einmal getauft zu werden. Auch wenn es hin und wieder gut tut, sich genau daran erinnern zu lassen: Du bist getauft. Gottes Segen gilt dir.
Daran zu erinnern, ist ein Sinn der Weihbecken am Eingang von katholischen Kirchen: Du machst ein Kreuz mit Wasser, das dich erinnert: Gott hat dich bei deinem Namen gerufen und zu einem lebendigen Stein gemacht.
Gott hat dich bei deinem Namen gerufen: Deswegen haben Taufen von kleinen Kindern ihren tiefen Sinn. Sie zeigen etwas davon, dass Taufe nicht allein meine Entscheidung ist. Sie ist immer auch Entscheidung von anderen, wie mein ganzes Leben von anderen abhängt, nicht zuletzt von den Eltern.
Vor allem aber sind Glaube und Taufe und Segen eine Entscheidung von Gott. Ich bin gar nicht frei, mich für den Glauben zu entscheiden, sagte Martin Luther.
Und fügte hinzu: Gott sei Dank. Gott sei Dank, hat er sich längst entschieden, bevor ich etwas entscheiden kann. Er hat sich für mich entschieden, bevor ich ihn kannte. Weil er das getan hat, bin ich so frei, dass ich mich für ihn entscheide.

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