Sehnsucht + Geduld = Vorfreude

Ich war heute Morgen schon im Garten. Mit meiner Rosenschere. Vom Forsythienstrauch in der hintersten Gartenecke habe ich drei Zweige abgeschnitten.
Heute ist der 4. Dezember. Der Barbaratag. Barbara soll im 3. Jahrhundert nach Christus gelebt haben, in Nikomedia, etwa 100 Kilometer östlich vom heutigen Istanbul.
Sie wollte Christin werden, ihr Vater versuchte mit allen Mitteln, sie davon abzuhalten. Barbara setzte ihr Vorhaben durch und ließ sich taufen. Als ihr Vater davon erfuhr, brachte er sie vor Gericht und ließ sie zum Tode verurteilen.
Die Legende erzählt, dass Barbara auf dem Weg ins Gefängnis sich mit ihrem Gewand an einem Zweig verhakte. Der Zweig brach, Barbara nahm ihn mit und stellte ihn im Gefängnis in ein mit Wasser gefülltes Gefäß.
Er blühte an dem Tag, an dem das Todesurteil über sie gesprochen wurde – als wolle er widersprechen mit einer leisen, doch deutlichen Stimme.
Der Vater hörte diese Stimme nicht. Er selbst soll seine Tochter enthauptet haben. Noch am selben Tag soll er vom Blitz erschlagen worden sein.
Der 4. Dezember heute ist der Legende nach Barbaras Todestag.
Zweige, die heute geschnitten werden und dann in der warmen Wohnung in eine Vase gestellt werden, blühen am Heiligen Abend, so sagt man.

Übt euch in Geduld, Brüder und Schwestern, bis der Herr wiederkommt!
Seht, wie der Bauer auf die köstliche Frucht seines Ackers wartet: Er übt sich in Geduld – so lange, bis Frühregen und Spätregen gefallen sind.
So sollt auch ihr euch in Geduld üben und eure Herzen stärken. Das Kommen des Herrn steht nahe bevor.

(Jakobus-Brief 5,7-8 – www.basisbibel.de)

Geduld also. Der eine hat sie, die andere nicht.
Kinder, die auf Weihnachten warten, haben sie eher nicht. Tag für Tag gehen sie ihren Wunschzettel durch. Die Geschenke wollen sie lieber heute als morgen auspacken.
Der Adventskalender steigert die Ungeduld: Ausschlafen ist unmöglich, schlaftrunken tapsen die Kinder frühmorgens durch die dunkle Wohnung, um das Türchen zu öffnen.
„Wie oft muss ich noch schlafen, bis das Christkind kommt?“, fragen sie drei Mal am Tag. „20 Tage noch“, antworten die Eltern, selber ganz ungeduldig, und fügen hinzu: „Du musst Geduld haben!“ Wobei nicht klar ist, wen sie meinen, die Kinder oder sich selber.
Erwachsenen, die krank sind, fehlt neben der Gesundheit oft auch die Geduld. Der Körper meldet sich täglich mit den Schmerzen. Er besetzt alles Denken und Fühlen.
Das muss sich ändern. Nicht übermorgen, auch nicht morgen. Sondern heute, genau jetzt.
„Wie lange, meinen Sie, dauert das noch, bis ich wieder gesund bin?“, fragen sie den Arzt. „Sie müssen sich in Geduld fassen“, antwortet der.
„Was du vor allem brauchst, ist Geduld“, sagen die Freunde und klopfen dem Kranken auf die Schulter. Wobei oft genug nicht klar ist, ob sie den Kranken meinen oder sich selbst.

Was also, wenn ich keine Geduld habe, aber welche brauche? Weil erst der zweite Advent ist und Weihnachten noch weit? Weil die Krankheit noch stark und der Körper schwach ist?
„Übe dich in Geduld“, empfiehlt der Mensch, der den Jakobus-Brief geschrieben hat.
Ich will das wörtlich nehmen: Du kannst Geduld einüben, du kannst sie lernen.

Du kannst sie lernen wie der Bauer im nahen Osten. Der wartet auf den „Frühregen“, der den Boden nach dem heißen Sommer weich macht für die Saat. Und er wartet auf den „Spätregen“, damit die Frucht auf dem Acker wachsen kann.
Er weiß, er ist auf diesen Regen angewiesen. Und es kommt vor, dass vom Frühregen zu viel und vom Spätregen zu wenig fällt. Der Bauer hat das nicht in der Hand.
Doch er übt mit jeder Saat und jeder Ernte Geduld ein. Der Regen fällt von selber. Fast immer so, dass die Saat aufgeht und die Frucht reift und der Bauer erntet.
Der Bauer erfährt: Warten führt zum Ziel. Und das heißt Geduld: Ich weiß, wenn ich warte, kommt, worauf ich warte.

Kinder üben Geduld mit jedem Weihnachten, das sie feiern. Sie lernen die Säckchen und die Türen zu zählen, die sie schon geöffnet haben am Adventskalender und die noch bleiben.
Sie lernen, dass nicht immer alles „jetzt“ ist. Sondern dass es für alles ein „Dann“ gibt. Und dass sie die Spanne zwischen dem „Jetzt“ und dem „Dann“ überbrücken müssen.
Sie lernen warten. Sie lernen, dass aus dem „Dann“ immer ein „Jetzt“ wird. Manchmal fühlt sich die Spanne dazwischen länger an, manchmal auch kürzer. Aber immer geht sie zu Ende. Und dann ist jetzt.
Auch Kinder lernen Geduld: Wenn ich warte, kommt, worauf ich warte.
Und Erwachsene? Wie lernen Erwachsene Geduld? Wenn der Körper krank, die Seele traurig sind? Wie kann ich dann wissen: Wenn ich warte, kommt, worauf ich warte.
Bei einem Schnupfen weiß ich: Mit Medikamenten dauert er eine Woche, ohne Medikamente bleibt er sieben Tage. Bei einem gebrochenen Arm sagt mir der Arzt, dass der Gips nach drei Wochen wieder abgenommen wird.
Ich kann auf seine und meine Erfahrung vertrauen. Es ist nicht der erste Arm, den der Arzt behandelt und nicht der letzte Schnupfen, mit dem ich mich plage.
Also habe ich Geduld. Ich weiß: Es kommt, worauf ich warte.
Doch woher nehme ich die Geduld, wenn mir die Erfahrung fehlt? Wenn ich tief in der Krankheit oder der Trauer sitze und alle Ausgänge zum Leben verstellt sind?

„Das Kommen des Herrn steht nahe bevor!“, verspricht der Mensch, der den Jakobus-Brief schreibt.
Mir fällt schwer, ihn beim Wort zu nehmen – so wörtlich, wie es die ersten drei Christengenerationen taten: Der Herr kommt wieder und setzt der Welt, wie sie ist, ein Ende.
Das war die unmittelbare Hoffnung: Der Herr kommt wieder und sorgt dafür, dass die Welt ganz wird. Endlich wird sie, was sie werden soll. Nach der Idee, die Gott von ihr hat.
Und die Engel singen aus vollem Hals: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“
„Das Kommen des Herrn steht nahe bevor!“ Mir fällt schwer, das beim Wort zu nehmen.
Aber ich kenne die Sehnsucht darin: Dass heil wird, was zerbrochen ist. Dass bunt wird, was grau ist. Dass sich erfüllt, was aussteht.
Das ist die große Sehnsucht, die manchmal viel kleiner daher kommt, aber nicht weniger sehnsüchtig:
Einer könnte mich trösten. So trösten, dass ich Mut fasse, obwohl ich nicht weiß, was mit mir wird in meiner Krankheit.
Einer könnte mich bei der Hand nehmen. Mich so führen, dass ich tastend vielleicht, aber vertrauensselig einen Schritt vor den anderen setze, hinaus ins Leben.
Fragt sich, ob das zusammenpasst: Kann ich mich geduldig sehnen oder sehnsüchtig gedulden?
Vielleicht muss die Antwort lauten: Wo sich Sehnsucht und Geduld treffen, entsteht Vorfreude.
Die Sehnsucht sagt: Es muss etwas geschehen. Die Geduld sagt: Es wird etwas geschehen. Die Vorfreude sagt: Was geschehen wird, geschieht schon jetzt.
Das klingt verworrener, als es sich anfühlt.

Kinder warten auf das Christkind. Sie sehnen sich nach dem Tag, an dem es kommt. Nach der besonderen Stimmung, die von diesem Tag ausgeht. Nach den Geschenken.
Kinder wissen, dass der Tag kommt. Wenn er da ist, werden sie auspacken und spielen und spät ins Bett gehen.
Also freuen sie sich schon jetzt. Jedes Türchen im Adventskalender verspricht das Auspacken dann.
Die Freude dann kündigt sich in der Vorfreude jetzt an. Diese Vorfreude verwandelt das Jetzt. Etwas von dem Licht dann leuchtet schon jetzt.
Ob das auch für das gilt, wonach ich mich sehne? Für das große Heil am Ende aller Zeiten? Für das kleine oder auch mittelgroße Heil, das ich in meinem Leben heute suche?
Ich sehne mich danach, dass wieder und neu ganz wird, was in meinem Alltag zerbrochen ist. Ich sehne mich, dass ich wieder Vertrauen finde in meinen Körper. Dass einer den Schleier aus Tränen von meinem Leben zieht.
Ich vertraue in aller Geduld, dass das geschieht, weil Gott mir nahe kommt, weil das Leben noch immer stärker gewesen ist, weil das kleinste Licht das größte Dunkel vertreiben kann.
Ich spüre, wie sich in mir etwas regt. Eine kleine, leichte Vorfreude, die auf und ab hüpft. Was auf mir lastet, drückt immer noch und wird es auch weiter tun. Aber ich spüre schon jetzt, wie leicht ich mich dann fühlen werde, wenn die Last ganz von mir abfällt. Und bin schon jetzt erleichtert.

Zurück zu den Barbarazweigen. Blattlos sind sie und kahl. Das Leben in ihnen scheint erstarrt. Die Sehnsucht sagt: Ach, wenn sie doch endlich austreiben und blühen.
Die Geduld sagt: Nach dem Winter kommt der Frühling. Es steckt Leben in den Zweigen. Es wird austreiben, wenn es an der Zeit ist.
Die Vorfreude lacht schon jetzt über das Grün und das Gelb, das dann blüht und stellt die Zweige in die Vase. Mitten im kalten Winter, wohl zu der halben Nacht.

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